Heft 49: Subjekt Gehirn
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29. Jahrgang, 2009, 160 Seiten, broschiert
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Zum Thema
Seit George Bush sen. die 90er Jahre zur „decade of the brain“ proklamiert hat, sind in den führenden Industrienationen Milliarden von Dollars, Yens und Euros in die heute so genannte „Neuroscience“ investiert worden. In den USA ist es das „National Institute of mental Health“, das mit einem Jahresetat von ca. 30 Mrd. US-$, zumeist aus der Industrie, die universitären und außeruniversitären Projekte koordiniert und mitfinanziert; Japan hat die Hirnforschung im staatlichen „RIKEN Institute for Brain Research“ konzentriert; und in Europa wurde 2002 der „European Brain Council“ gegründet, um die Zusammenarbeit der nationalen Forschungsinstitute und -organisationen zu fördern. Nach Ansicht des EU-Kommissars könne man nur so „die Fragmentierung der neurowissenschaftlichen Forschung in Europa überwinden und schließlich die USA und Japan überrunden.“
Seither sind in der Erforschung des menschlichen Gehirns große Fortschritte erzielt worden. Sie zeigen sich bislang vor allem auf dem Markt der Psychopharmaka, die, nunmehr wissensbasiert, menschliches Verhalten beeinflussen. Darüber hinaus richtet sich das Interesse auf die Ergebnisse, Projekte und Visionen des künftigen Markts der Neuroprothetik, d.h. der Technik neuroelektrischer Schnittstellen im Gehirn, die menschliches Verhalten nicht mehr nur beeinflussen, sondern auch unmittelbar steuern können. Mit den ersten Erfolgen auf diesem Gebiet ist das Interesse der – nicht nur medizinischen – Industrie an der Nutzung erwacht, aber auch Polizei, Militär, Justiz, Schulwesen bis hin zu den Sportverbänden erkunden die Einsatzpotentiale der Neurotechniken. Erscheinen doch die technischen Möglichkeiten der Hirnforschung allzu verlockend, das bislang spontane Verhalten der Bürger im eigenen wie im staatlichen Interesse kontrollieren und planen zu können.
In den Fokus der Öffentlichkeit sind die Fortschritte der Neurowissenschaften mit der Debatte um die Willensfreiheit gerückt. Während die Neurowissenschaftler, mit den Milliarden von Industrie und Staat im Rücken, die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaftler zu Beginn mit der naiven, aber erfolgreichen These herausforderten, das Subjekt seien nicht „wir“, sondern das Gehirn, das fühlt, denkt und wünscht, hielten die provozierten Kontrahenten, ebenso naiv, dagegen, unser Fühlen, Denken, Wünschen sei doch etwas ganz anderes als die elektro-chemischen Prozesse des Gehirns, Produkte des menschlichen Geistes.
Seither haben beide Seite dazu lernen müssen. Die Vertreter von Geist und Kultur mussten – wollten sie in der Debatte ernst genommen werden – einräumen, dass der Mensch ohne sein Gehirn nicht fühlen, denken und wünschen kann; die Vertreter der Neuronen aber mussten zugeben, dass unser Denken, Fühlen und Wünschen nicht mit neuronalen Vorgängen gleichzusetzen ist. Heute konzentriert sich daher die Debatte auf die Frage, wie das Verhältnis von Mentalem und Neuronalem, von Geist und Natur überhaupt gedacht werden kann, wenn beide sinnvollerweise einerseits als verschieden, andererseits aber doch als zusammengehörend angenommen werden müssen.
Die Artikel zum Thema des Hefts befassen sich mit diesem Problem.
Wolfgang Melchior gibt anhand der Debatte zwischen den Protagonisten, Daniel C. Dennett und David Chalmers, einen Einblick in die gegenwärtige Diskussionslage der „Philosophie des Geistes“ und vollzieht die jeweiligen Argumentationsmuster der Kontrahenten nach.
Die Kritik, die Christian Tewes an den Thesen von Wolf Singer übt, zeigt, wo in dessen neurowissenschaftlichem Modell die Stärken, aber auch Schwächen und Defizite der Argumentation liegen. Sie zwingen, Gehirn und Bewusstsein als eine, wie auch immer geartete, gegensätzliche Einheit auffassen zu müssen.
Katharina Seßler und Armin Nassehi werfen den soziologischen Blick auf die gegenwärtige Debatte. In ihrem Beitrag „Hirnforschung in Gesellschaft“ untersuchen sie die gesellschaftlichen Bedingungen des öffentlichen Hypes um die Thesen der Neurowissenschaften und weisen auf die Diskrepanz zwischen ihnen und ihrer Bedeutung in unserem Alltagsleben hin.
Der anschließende Rezensionsteil gibt einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Diskussion und über die unterschiedlichen Konzepte, das Geist-Gehirn-Problem begrifflich zu fassen.
In der Rubrik „Münchner Philosophie“ stellt dieses Mal Thomas Ricklin seinen intellektuellen Werdegang und den Sinn seiner philosophiehistorischen Forschung vor.
Das Sonderthema „Der Entwurf einer freien Gesellschaft“ von Helga Sporer geht dem wenig diskutierten, aber evidenten Spinozismus nach, auf den Michael Hart und Antonio Negri ihre Bestseller „Empire“ und „Multitude“ gegründet haben. Spinoza hatte am Beginn der Moderne mit der Tradition des Dualismus gebrochen und die Einheit von Körper und Geist materialistisch erklärt.
Diesen Beiträgen schließen sich Besprechungen interessanter philosophischer Neuerscheinungen an.
Den Schluss des Heftes bildet eine kurze Würdigung Jürgen Habermas’ zum 80. Geburtstag.
Die Redaktion