Lea Ypi
Die Architektonik der Vernunft. Zweckmäßigkeit und systematische Einheit in Kants „Kritik der reinen Vernunft“
br., 245 Seiten, 22,- €, Berlin 2024 (Suhrkamp-Verlag)
von Bernhard Schindlbeck
„Dieses Buch handelt von der Einheit der Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft. Es versucht zu erklären, warum eine solche Einheit notwendig ist, wie Kant die Idee einer solchen Einheit verteidigt und warum das Projekt letztlich scheitert.“ So beginnt Lea Ypi ihre Einleitung, in der schon die Behauptung, dass Kants Projekt scheitere, auf jeden an Kant ernsthaft interessierten Leser wie ein Köder wirken muss. „Das Hauptargument ist“, fährt sie fort, „dass die Einheit der Vernunft in einem transzendentalen Prinzip der Zweckmäßigkeit begründet ist, das unabdingbar für die systematische Integration des theoretischen und praktischen Gebrauchs der Vernunft ist, zugleich aber die für Kants Projekt wesentliche Trennung von Kritik und Metaphysik bedroht.“ (20)
Mit diesem Programm wendet sich Ypi, wie der Buchtitel verrät, dem vorletzten Abschnitt in Kants erster Kritik zu, der „Architektonik der reinen Vernunft“, die Kant in der transzendentalen Methodenlehre nach der „Disziplin“ und dem „Kanon“ und vor der „Geschichte der reinen Vernunft“ platziert. Er sei „einer der dichtesten, rätselhaftesten, ja zuweilen gerade undurchdringlichen Texte in Kants gesamtem veröffentlichten Werk“ (ebd.). Ypis Buch „legt nahe, dass Kants Antwort auf diese Frage an eine bestimmte Darstellung der Vernunft gekoppelt ist, die deren zweckmäßigen Charakter betont. Doch wie die folgenden Seiten zeigen werden, ist das Konzept der Zweckmäßigkeit, das Kant in der ersten Kritik vertritt, ein Konzept der ‚Zweckmäßigkeit als Design‘, das sich von der ‚Zweckmäßigkeit als Normativität‘, das in seinen späteren Werken eine zentrale Rolle spielt, stark unterscheidet. Im ersten Fall, Zweckmäßigkeit als Design, ist die Beziehung zwischen Vernunft und Natur in der Idee Gottes verankert. Im zweiten Fall, Zweckmäßigkeit als Normativität, ist sie im Begriff der reflektierenden Urteilskraft verwurzelt und durch transzendentale Freiheit begründet. Gott bleibt zwar Teil des Systems, spielt aber eine zunehmend marginale Rolle, eine, die nachfolgenden Autoren wie Marx und Hegel den Weg zu einer Geschichtsphilosophie ebnete, die ihn schließlich gänzlich überflüssig werden ließ.“ (22)
Dass das letztere Argument eher schwach ist, erhellt schon daraus, dass die hegelianische und die marxistische Geschichtsteleologie im Grunde selbst nur als dogmatisch fundierte Ersatztheologien fungieren, die ihr jeweiliges Absolutes an ein entweder schon erreichtes oder noch immer erhofftes Ende einer vor-läufigen Zeit setzen. Die Behauptung historischer Notwendigkeiten und „das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte“ (Engels) sind ja auch „nur“ Metaphysik – und, solange sie ihren eigenen dogmatischen Charakter nicht reflektiert, eine schlechte obendrein.
Gott bleibt in allen drei Kritiken (in unterschiedlicher Weise) prominent. In der Postulatenlehre der Kritik der praktischen Vernunft markiert er die (als notwendig zu denkende) Funktionsstelle der Vergabe einer nach Tugend „proportionierten Glückseligkeit“ (AA 124), die ja an Aktualität bis heute nichts verloren hat. Wenn die weltliche Gerechtigkeit nicht gewillt ist, die superreichen Steuerhinterzieher, deren politisches Personal, die Kriegstreiber und Menschenrechtsverletzer aller Art zu bestrafen, wer dann? Außerdem wird Gott durch die reflektierende Urteilskraft keineswegs marginalisiert. Die letzten Paragraphen (87 bis 91) der Kritik der Urteilskraft , die sich an einem moralischen Gottesbeweis abarbeiten, widerlegen Ypis Behauptung von einer „zunehmend marginale[n] Rolle“. Wenn es schließlich im Opus postumum heißt „est Deus in nobis“ (XXII, 130), was manche Kant-Kenner, z.B. Eckart Förster, als Preisgabe des klassischen Theismus lesen, dann bedeutet das, dass man Kants Gottesbegriff möglicherweise ganz neu verstehen muss, statt ihn einfach als obsolet abzutun.
In sieben zwischen der Einleitung und einem Fazit angeordneten Kapiteln werden vor dem Hintergrund einer immensen Kenntnis der Sekundärliteratur und Kant-Exegese, deren größter Teil mit wenigen Ausnahmen (z.B. Henrich, mit seiner längst kanonisch gewordenen Erklärung des Begriffs der „Deduktion“ bei Kant) aus der analytischen Philosophie kommt, Schritt für Schritt die relevanten und problematischen Fragen zur Einheit der Aufgaben, Leistungen, Bedürfnisse, Interessen, Zwecke der Vernunft (sowie der anderen Vermögen wie Verstand und Urteilskraft) entfaltet, wobei in den letzten drei Kapiteln („Die Deduktion der transzendentalen Ideen“, „Die Rolle der Ideen aus praktischer Perspektive“ und „Das Reich der Zwecke“) die in der Einleitung vorgelegten Thesen ihre ausführliche Begründung erhalten. Als einer der wichtigsten Aspekte kristallisieren sich die Darstellungs- und Begründungsunterschiede zwischen der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft heraus. Schon in der Einleitung aber expliziert Ypi genauer, worum es ihr geht: „Mein Argument ist, dass in der Kritik der reinen Vernunft zwar die Einheit der Vernunft durch die zweckmäßige Funktion der Ideen der Vernunft erreicht wird, das Projekt aber gleichwohl letztlich daran scheitert, Kants eigenen kritischen Standards gerecht zu werden. Es scheitert, wie ich zu zeigen hoffe, weil die praktische Vernunft in der ersten Kritik kein eigenes Gebiet für ihre Gesetzgebung und keine notwendige Verbindung zur transzendentalen Freiheit hat: Dies ist etwas, das erstmals in der Grundlegung auftaucht, in der Kritik der praktischen Vernunft weiterentwickelt wird und Kants Analyse der Zweckmäßigkeit in der Kritik der Urteilskraft prägt. Es scheitert auch daran, dass Kant in Ermangelung dieser Verbindung das Prinzip der Zweckmäßigkeit weiterhin mit der Idee des ‚intelligenten Designs‘ statt mit der besonderen praktischen Normativität der Vernunft verbindet.“ (33)
Zweifelhaft ist, ob die Kritik der praktischen Vernunft wirklich eine „Weiterentwicklung“ der Grundlegung ist und nicht eher ein Neuansatz, zumal Kant in letzterer noch eine „Deduktion des kategorischen Imperativs“ versucht, was er in ersterer als unmöglich aufgibt und durch das „Faktum der Vernunft“ ersetzt, welches „an die Stelle dieser vergeblich gesuchten Deduction des moralischen Prinzips“ tritt (KpV, 47).
Am Ende der Einleitung wird weiter erklärt: „Ich schließe das Buch mit der These, dass der Preis, der für die architektonische Einheit der ursprünglich getrennten Systeme von Natur und Freiheit zu zahlen ist, eine transzendentale Theologie ist, die die Vernunft implizit zu metaphysischen Annahmen über die Ordnung der Natur verpflichtet, die ihr kritischer Teil ausdrücklich ausgeschlossen hat.“ (39)
Die These, eine „transzendentale Theologie“ verpflichte die Vernunft zu metaphysischen Annahmen über die Ordnung der Natur, ist schon sehr merkwürdig. Denn Gott (und daneben die Unsterblichkeit der Seele) sind eben nur Postulate und keine Theologie. Hat der „kritische Teil“ die Postulate wirklich „ausgeschlossen“, nur weil er Gottesbeweise als unmöglich erwiesen hat? Auch dass „Kant die Verteidigung der Physikotheologie zurückzog und sie in der Kritik der Urteilskraft in eine ethische Theologie umwandelte“ (39), ist eine seltsam überzogene Behauptung. Von einer „ethischen Theologie“ zu sprechen, ist schon angesichts der Tatsache, dass Kant in seiner Religionsschrift die Religion für die philosophische Ethik als bloß unterstützende pädagogische Hilfskraft in den Dienst nimmt, eine starke Verzerrung. Der Kant schon so oft gemachte Vorwurf einer Re-Theologisierung ist also auch hier verfehlt.
Die Annahme, dass Natur und Freiheit ursprünglich getrennte Systeme seien, ist nicht minder falsch, denn in uns Menschen selbst, die wir gleichzeitig Natur- und Freiheitswesen sind, sind sie a priori integriert. Wir können nur sinnvoll handeln, weil die Natur eine durchgehend kausal determinierte ist; wir müssen uns auf die Naturgesetzlichkeit verlassen können, um überhaupt Zwecke setzen und realisieren zu können. Und dennoch sind wir frei, können (qua Orientierung am kategorischen Imperativ) autonom handeln. Natur und Freiheit sind also keine „getrennten Systeme“, für deren architektonische Einheit ein Preis zu zahlen wäre.
Die Bedeutung der systematischen Einheit der Vernunft und damit der transzendentalen Ideen in der Vermittlung von Natur und Freiheit ist so unbestritten wie die Rolle der Zweckmäßigkeit als transzendentales Prinzip. In der Kritik der Urteilskraft, so Ypi, sei der Begriff der Zweckmäßigkeit anders als in der Kritik der reinen Vernunft „ein Begriff der Zweckmäßigkeit als Normativität“ (149). Diese sei in „Analogie zu unserem praktischen Vernunftgebrauch“ zu sehen: „Objekte in diesem Sinne als zweckmäßig zu beurteilen, ist gleichbedeutend damit, zu fragen, wie diese Objekte wären, wenn sie eine bestimmte Anzahl normativer Eigenschaften aufwiesen – oder zu fragen, wie ein Objekt sein sollte, wenn praktisch vernünftige Menschen für seine Planung zuständig wären“ (150). Zweckmäßigkeit in diesem Sinne habe nichts mit der in der Kritik der reinen Vernunft verwendeten „Zweckmäßigkeit als Design“ zu tun. Diese betrachte die „Ordnung der Natur und die Ordnung der Zwecke“ als „in einem zweckmäßigen System verbunden, das die Begriffe der Natur und der Freiheit in Bezug auf die Idee Gottes integriert“ (214). In Ypis Interpretation ist Gott der „Designer“, der in der Kritik der reinen Vernunft (im Unterschied zu den folgenden Kritiken) für den Begriff der Zweckmäßigkeit sorgt und verantwortlich ist – und der dafür nicht auf praktische Vernunft und Freiheit zurückgreifen muss. Zweckmäßigkeit als essentiell-integrales Element in der Architektonik (Einheit und Systematik) der Vernunft komme in der ersten Kritik also nicht ohne Gott aus, und darin sieht Ypi einen metaphysischen Rückfall hinter deren eigentlichen kritischen Anspruch, d.h. das Scheitern Kants. Jedoch ist die Unterscheidung zweier Zweckmäßigkeitsbegriffe künstlich; Kant muss sie nicht machen, denn die Antwort auf die Frage, wie ein Objekt wäre (oder sein sollte), wenn praktisch vernünftige Menschen für seine Planung zuständig wären, kann nur so ausfallen: Es wäre exakt so, wie es auch ein göttlicher Designer planen würde („est Deus in nobis“).
Dass der Preis für die architektonische Einheit ein Rückfall in eine transzendentale Theologie sei, die metaphysische Annahmen über die Natur beinhalte, die der kritische Teil dezidiert ausschließe, ist Ypis zentrale These, die auch erkläre, „warum die transzendentale Freiheit zum Hauptthema der Kritik der praktischen Vernunft wurde“, und warum Kant die Verteidigung der Physikotheologie in eine „ethische Theologie“ in der Urteilskraft „umwandelte“ (39). Abgesehen davon, dass von „ethischer Theologie“, wie gesagt, keine Rede sein kann, widerspricht zum Beispiel eine Passage in dem der „Architektonik“ vorhergehenden „Kanon der reinen Vernunft“, in der reine Vernunft, Moralität und zweckmäßige Einheit der Natur miteinander verbunden werden, dieser Darstellung deutlich: „Was können wir für einen Gebrauch von unserem Verstande machen, selbst in Ansehung der Erfahrung, wenn wir uns nicht Zwecke vorsetzen? Die höchsten Zwecke aber sind die der Moralität, und diese kann uns nur reine Vernunft zu erkennen geben. Mit diesen nun versehen, und an dem Leitfaden derselben, können wir von der Kenntnis der Natur selbst keinen zweckmäßigen Gebrauch in Ansehung der Erkenntnis machen, wo die Natur nicht selbst zweckmäßige Einheit hingelegt hat; denn ohne diese hätten wir sogar selbst keine Vernunft … Jene zweckmäßige Einheit ist aber notwendig und in dem Wesen der Willkür selbst gegründet, diese also, welche die Bedingung der Anwendung derselben in concreto enthält, muß es auch sein, und so würde die transzendentale Steigerung unserer Vernunfterkenntnis nicht die Ursache, sondern bloß die Wirkung von der praktischen Zweckmäßigkeit sein, die uns die reine Vernunft auferlegt“ (B 844 f.). Ein göttlicher Designer ist hier offensichtlich nicht erforderlich. Menschliche Praxis allein präsupponiert die zweckmäßige Einheit der Natur, ohne welche aussichtsreiche Zwecksetzungen gar nicht möglich wären.
Wenn man Zweckmäßigkeit in „normativer“ Perspektive betrachtet, genügt es also nicht zu fragen, „wie diese Objekte wären, wenn sie eine bestimmte Anzahl normativer Eigenschaften aufwiesen – oder zu fragen, wie ein Objekt sein sollte, wenn praktisch vernünftige Menschen für seine Planung zuständig wären.“ Man muss dann konsequenterweise auch danach fragen, wie die Verhältnisse und Zusammenhänge aller Objekte aussähen, wenn praktisch vernünftige – und d.h. nicht nur hypothetischen Imperativen (Klugheitsregeln) folgende, sondern sittlich handeln wollende – Menschen für die Planung dieser Zusammenhänge zuständig wären. Womit sich sofort (abermals im Konjunktiv) die Frage auftut, ob es dann überhaupt einen Unterschied zwischen der von einem göttlichen Designer entworfenen und der von praktischer Vernunft entworfenen Zweckmäßigkeit gäbe. Ein Grund für einen solchen Unterschied ist nicht sichtbar. Damit wird auch deutlich, dass –
anders als Ypi suggeriert – die praktische Vernunft gar kein „eigenes Gebiet für ihre Gesetzgebung“ (33) braucht.
Es fällt auf, dass das Sittengesetz (der kategorische Imperativ) in Ypis Buch kaum eine Rolle spielt, was möglicherweise mit ihrem eigenen, im empiristisch-naturalistischen Denken der analytischen Philosophie wurzelnden Verständnis von Freiheit (freedom of agency, Handlungsfreiheit) und einem daraus resultierenden gewissen Unverständnis für den kantischen Begriff zu tun hat. Im „Praktische und transzendentale Freiheit“ überschriebenen Abschnitt des 6. Kapitels schreibt sie: „Kant scheint davon auszugehen, dass die menschliche Vernunft nur durch die Freiheit zum Bestimmungsgrund für praktisches Handeln werden kann. Aber welche Art von Freiheit? Wie verhält sich die Freiheit zum zweckmäßigen Charakter der Vernunft?“ (185) Ganz nebenbei: Ernst Cassirer würde sagen, dass hier „zweckmäßig“ mit „zweckhaft“ verwechselt wird.
Dass es verschiedene Arten von Freiheit (die praktische und die transzendentale) gebe, ist in Kants Kritiken gar nicht möglich. In der ersten wird Freiheit als nicht widerlegbare Möglichkeit in einer durchgängig kausal determinierten Natur aufgewiesen, wobei „auf diese transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben“ gründet. (B 561) In der zweiten Kritik wird mit dem kategorischen Imperativ der praktische Begriff der Freiheit (Willensfreiheit) als Autonomie dargestellt und entfaltet. Nur wenn man Willensfreiheit gegen empirisch verstandene, d.h. bedingte Handlungsfreiheit setzt, gibt es Arten von Freiheit. Kant aber kennt nur eine Art von Freiheit, die sich als (eben unbedingte) Autonomie erweist. Heteronomie ist eben nicht Freiheit. „Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“ (B 562). – Eine Kant-Kritik könnte, wenn man von Arten der Freiheit spricht, am ehesten am Freiheitsbegriff der Metaphysik der Sitten ansetzen, wo Kant zu einem Begriff der Willkürfreiheit übergeht und diesen (man muss sagen: zweifelhafterweise) für in der Ethik begründet hält. Er nähert sich in seiner Rechts- und Tugendlehre also einem liberalistischen Freiheitsbegriff an, der eben nichts mit Sittlichkeit als Autonomie zu tun hat. Aber diese mögliche immanente Kant-Kritik kommt bei Ypi nicht vor. Sie trägt in ihrer Interpretation ihren eigenen liberalistischen Freiheitsbegriff in Kants Denken hinein und findet dann Probleme, die es in Kants kritischem Werk gar nicht gibt.
Es stimmt also nicht, wenn sie behauptet: „Kant ist es wichtig, zwischen der Realität praktischer und transzendentaler Freiheit zu unterscheiden, denn ohne diese Unterscheidung müsste er erklären, wie eine übersinnliche Ursache (die nur prinzipiell möglich oder als nichtwidersprüchlich anerkannt wird) empirische Phänomene begründen kann. Dies wird in der ersten Kritik jedoch ausdrücklich ausgeschlossen“ (185). Es geht bei Kant nicht um „übersinnliche“ Ursachen, wenn er in der dritten Antinomie von „Kausalität aus Freiheit“ spricht. Autonomie (Willensfreiheit) muss keine empirischen Phänomene „begründen“. Hier wird einmal mehr Ypis empiristischer Approach deutlich, mit dem man Kausalität aus Freiheit (die dann als „übersinnlich“ diskreditiert wird) und Autonomie natürlich nicht verstehen kann.
Auch eine andere exemplarische Stelle (aus dem zweiten Abschnitt des Kanons) zeigt, wie man mit dem empiristisch-analytischen Zugang zu einer Fehlinterpretation gelangt. Ypi schreibt: „Kant scheint unter moralischer Erfahrung ‚Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten‘ zu verstehen. Die menschliche Geschichte ist die Dimension der Erfahrung, in der die praktischen Ideen gesetzgebend sind: ‚Da sie gebietet, daß solche geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können.‘ Wie trägt dieses Verständnis von Erfahrung zur Vollendung der kritischen Aufgabe bei?“ (183)
Dass die Geschichte als Dimension der Erfahrung gebiete, was geschehen soll, ist eher eine hegelianisch-marxistisch inspirierte Interpretation, die durch eine Verkürzung der zitierten Passage zustande kommt, die als ganze gelesen ein völlig anderes Argument liefert: „Die reine Vernunft enthält also, zwar nicht in ihrem spekulativen, aber doch in einem gewissen praktischen, nämlich dem moralischen Gebrauche, Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung, nämlich solcher Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten. Denn da sie gebietet, daß solche geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können, und es muß also eine besondere Art von systematischer Einheit, nämlich die moralische möglich sein, …“ (B 835). Das Pronomen „sie“ (in „da sie gebietet“) bezieht sich also, anders als Ypi interpretiert, auf „die reine Vernunft“ und nicht auf die „Geschichte“.
Noch deutlicher zeigt sich Ypis empiristischer Zugang zu Kants Kritiken, wenn sie über das „Reich der Zwecke“ schreibt: „Moralische Zwecke werden in einer Welt gesetzt, die sowohl von moralischen Normen als auch von Naturgesetzen beherrscht wird. Das Mitglied des Reichs der Zwecke ist daher faktisch kein Souverän: Der Erfolg seines moralischen Handelns hängt nicht nur davon ab, was es tut, sondern auch von den Handlungen anderer Menschen, von den empirischen Kontingenzen und Beschränkungen, auf die es stößt. Daher ist es prinzipiell denkbar, dass die Welt mit dem moralischen Gebrauch der Vernunft nicht vereinbar ist oder ihn gar behindert“ (202 f.). Abgesehen davon, dass nur Handlungen als solche Erfolg haben, aber der Erfolg der Moralität einer Handlung empirisch gar nicht erkennbar wäre, geht Behauptung, dass die empirische Realität moralischem Handeln im Weg stehen kann, ins Leere. Denn nur weil die Realität so ist, wie sie ist, genau deshalb sind wir moralisch gefordert. Aber sie steht deshalb der Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Zivilcourage nicht im Weg. Moralisch handeln heißt eben oft: sich gegen die Realität stellen.
Ganz ähnlich führt die empiristische Kant-Interpretation in die Irre, wo es um das Verhältnis „der Ordnung der Natur und der Ordnung der Zwecke“ geht, um die „Verbindung zwischen systematischer moralischer Einheit und der systematischen Einheit der Natur.“ Denn, so Ypi: „Ohne die systematische Integration des Reichs der Natur und des Reichs der Zwecke zu erklären, können wir auch nicht erklären, wie moralische Normen für Menschen bindend sein können, deren moralische Motive stets mit nichtmoralischen vermischt sind“ (201 f.). Dergleichen ist nur für empiristische Moralphilosophen ein Problem, nicht für Kant. Dass wir aus Neigungen (Präferenzen, Interessen etc.) handeln, die in das Reich der Natur gehören, ist klar. Aber ebenso klar ist, dass wir nicht die Sklaven unserer Neigungen sein müssen, sondern uns (aus moralischen Motiven) über sie hinwegsetzen können. Einer „systematischen Integration“ beider Reiche bedarf es nicht, um Normativität und deren Verbindlichkeit zu erklären. Wie oben erwähnt, sind Natur und Freiheit immer schon ineinander verschränkt.
Vermutlich steckt hinter Ypis Problemkonstruktion noch immer das sich seit Schiller bis heute durchziehende Missverständnis von der angeblichen Lustfeindlichkeit Kants und seiner Verachtung von Neigungen, das auf der falsch verstandenen Feststellung beruht, dass letztere als bloße (subjektiv kontingente) Gegebenheiten keinen moralischen Wert haben. Daran, dass wir auch Neigungen (eine Triebstruktur) haben, ist für Kant nichts falsch. Man muss sie nur richtig einordnen.
Wenn Kant die Differenz von Sinnlichkeit (Natur) und Sittlichkeit (Freiheit) betont, dann dramatisiert Ypi diese Differenz unnötig, um auch die Integration beider in der ersten Kritik als ein Drama, als scheiternd und als erst in der Kritik der Urteilskraft gelungen darstellen zu können. Aber allein unser Handeln, das auf Zwecksetzungen beruht, zeigt schon, dass Zwecke nur in einem integralen Verständnis von äußerer (erkannter und verstandener) Natur und menschlicher vernunftorientierter Praxis möglich sind. Fragt man nach dem sittlich fundierten Freiheitsanteil an dieser Praxis, dann kommt (mit der dritten Antinomie) der Zusammenhang der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft in den Blick. Unbestritten ist, dass in der ersten Kritik im Abschnitt über die Antinomien „Kausalität aus Freiheit“ nur als Möglichkeit, genauer: als nicht unmöglich – und noch nicht, wie in der zweiten Kritik, als „Wechselbegriff“ zum transzendentalen Prinzip der Sittlichkeit – erarbeitet wird. Somit bleibt der Freiheitsbegriff noch unentfaltet; er muss hier auch noch nicht elaboriert werden, sodass die praktische Vernunft in der ersten Kritik verständlicherweise „kein eigenes Gebiet für ihre Gesetzgebung“ hat. Sie braucht hier keines. Sie braucht überhaupt kein „eigenes Gebiet“, da sie immer und überall zugange ist.
Daraus ein Scheitern des Anspruchs der Vernunft zu konstruieren geht nur, wenn man das kritische Werk Kants nicht als fortgeschriebene und sich weiterentwickelnde Gesamtheit liest, sondern die Kritiken so einander gegenüberstellt, dass man in deren jeweiligen einzelnen Aspekten Unterschiede und Widersprüche entdeckt, die man dann gegeneinander ausspielen kann, wie etwa praktische Vernunft und transzendentale Freiheit.
Eine ganz andere Kant-Lektüre bietet (nur als ein Beispiel von vielen) etwa Axel Hutters Das Interesse der Vernunft (2003), dessen Untertitel Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken schon andeutet, dass es um eine „Gesamtdeutung der Kantischen Vernunftkritik“ (Hutter, 23) geht und die Kritiken als ein einheitliches Werk zu verstehen sind.
Wenn Ypi den Vorwurf der Re-Theologisierung erneut erhebt, um an in ihr das Scheitern des kritischen Anspruchs festzumachen, dann müssten sich doch weitere Fragen anschließen, deren wichtigste wäre: Weshalb versucht Kant überhaupt in einem explizit kritischen Projekt traditionelle Metaphysikbestände wie Gott, Zweckmäßigkeit der Natur und Unsterblichkeit der Seele zu retten? Eine Antwort findet man beim späten Horkheimer. „Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel“, schreibt er in seinem Aufsatz Theismus – Atheismus (1963). Wobei zu ergänzen ist, dass Sinn ohne Unbedingtheit keiner wäre; ein „relativer“ Sinn ist bestenfalls nur eine Kette von kontingent gesetzten Zwecken und deren Verweisen aufeinander. Auf der Ebene bloß empirischen Wissens lässt sich kein Sinn erkennen, auffinden oder konstituieren. Die sog. exakten Wissenschaften sind nicht in der Lage, eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Existenz (sei es des individuellen Lebens oder, in holistischer Absicht, der Welt) zu generieren. Und sie machen die Frage nach einem letzten Grund nicht obsolet. Wiederholt weist Hutter darauf hin, dass es Kant um „das Unbedingte (um das es doch eigentlich zu tun ist)“ geht (KrV B 593), um die „Vernunft, die das Unbedingte fordert.“ (B 592) Nicht anders in der Kritik der Urteilskraft: „Die Vernunft ist ein Vermögen der Prinzipien, und geht in ihrer äußersten Forderung auf das Unbedingte, da hingegen der Verstand ihr immer nur unter einer gewissen Bedingung, die gegeben werden muß, zu Diensten steht.“ (B 339) Bei aller Gelehrtheit fasst Ypi, wenn sie vom „kritischen Projekt“ Kants spricht, den Ausdruck „Metaphysikkritik“ viel zu weit und nimmt den Titel von Kants erklärender Didaktik zur Kritik der reinen Vernunft nicht ernst und wörtlich genug, nämlich: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783). Dass Metaphysik und Wissenschaft einander ausschließen und unvereinbar sind, gilt heutzutage, da man sich zumeist einem vermeintlichen „nachmetaphysischen Denken“ (Habermas) verpflichtet weiß, als ausgemachte Sache, aber man übersieht dabei bereitwillig die ursprünglich dogmatischen, d.h. axiomatischen Voraussetzungen in jeder Wissenschaft.
„Kants Kritik“, schreibt Axel Hutter, „gilt also nur einer bestimmten Auffassung von Metaphysik, nämlich der, die die das ‚Unbedingte‘ in eine unvermittelte Opposition zur Erfahrung rückt. Eine solche Kritik ist in der Tat ein wichtiges Mittel, um ‚das Verfahren der bisherigen Metaphysik umzuändern‘. Der ‚wesentliche Zweck‘ der Transzendentalphilosophie ist demnach ein kritisch veränderter Metaphysikbegriff, nicht aber ein ‚Ersetzen‘ der Metaphysik durchexakte Wissenschaft“ (Hutter, 22). Ypis für ihre Interpretation vorausgesetzte Annahme einer „für Kants Projekt wesentliche(n) Trennung von Kritik und Metaphysik“ (20) ist also ein Missverständnis.
Ohne Unbedingtheit ist auch die von Ypi nur beiläufig behandelte Idee des „höchsten Gutes“ nicht verstehbar, die die Forderung enthält, „diejenige Realität, die nicht ist, aber sein soll, realisierte Sittlichkeit und eine dieser entsprechend gestaltete Welt“ zu verwirklichen. (So umschreibt es Wilhelm Jacobs 2014 in seinem Fichte-Buch.) Es ist egal, mit welchen Bezeichnungen man diese sein-sollende und zu verwirklichende Welt versieht (z.B. Sozialismus, Kommunismus oder nur gerechte Gesellschaft); ohne das Verständnis für „unbedingten Sinn“ kommt man ihr nicht näher. Dass so eine Gesellschaftsform der Rechtsphilosophie Kants von 1798 eklatant widerspricht, ist klar. Das liegt jedoch daran, dass letztere den Fehler enthält, dass sie selbst nicht mit Kants Ethik vereinbar ist, da Kant, wie oben erwähnt, in ihr Willkürfreiheit, die „tatsächlich gar keine Freiheit ist“ (Andrea Esser, Anti-imperiale Strukturen der Sittlichkeit), zugrunde legt und nicht, wie in der Kritik der praktischen Vernunft oder der Grundlegung, Freiheit als Autonomie. Was ein Großteil der Kant-Exegeten nicht (so wenig wie Kant selber) sehen will, ist also, dass Kant in den kritischen Schriften und in der Rechtsphilosophie zwei unterschiedliche Freiheitsbegriffe verwendet: zuerst Autonomie, später den liberalistischen Freiheitsbegriff, die beide unvereinbar sind. Freiheit ist ein Begriff, der die Unbedingtheit der Autonomie im ethischen Sinn meint. Der Liberalismus kennt keine Unbedingtheit.
Liest man Gott also sinnvollerweise als (personifizierte) Chiffre für Unbedingtheit, die verhindert, dass Vernunft materialistisch-instrumentell halbiert wird und dadurch zu einer beliebigen (machtorientierten) Zweckrationalität verkommt, die nichts mit Kants in der Vernunft angelegten „Zweckmäßigkeit“ zu tun hat, dann zeigt sich woran und weshalb Lea Ypi in ihrer Auseinandersetzung mit Kant scheitert. Als empiristisch orientierte Philosophin weiß sie mit Unbedingtheit, Absolutheit, Autonomie wenig anzufangen, denn all das gibt es im Empirismus nicht. (Adorno hat in seinen „Meditationen zur Metaphysik“ im letzten Abschnitt seiner Negativen Dialektik immerhin das absolut Falsche als solches benannt.)
In Ypis Kant-Rezeption ist – so ähnlich wie die „höchste Intelligenz“ – auch das „höchste Gut“ in erster Linie ein Beleg für die Re-Theologisierung und nicht ein ethisch unbedingt Gesolltes (ein Auftrag an die Menschheit), das man gerne „Sozialismus“ nennen darf (oder welche Bezeichnung man immer für eine „gerechte und gelungene Gesellschaft“ finden will). Auch in ihren Berliner Benjamin-Lectures vom Juni 2024 (mit dem Titel „What is moral socialism?“) legte sie charakteristischerweise nicht Kants Autonomie-Begriff, sondern die empiristisch verstandene Handlungsfreiheit des politischen Liberalismus (freedom of agency) zugrunde, mit der man Kant nicht gerecht werden kann. Damit wird verständlich und nachvollziehbar, warum sie trotz aller analytischen Subtilitäten und Differenzierungen in ihrem Architektonik-Buch letztlich immer an Kant vorbei argumentiert. Nicht Kant scheitert in seiner Kritik der reinen Vernunft mit seiner Systematisierung der Vernunft zu einer Einheit, sondern eher Lea Ypi mit ihrem Versuch, Kant ein solches Scheitern nachzuweisen.