Jürgen Habermas und das Asylrecht

Asylrecht und Diskursethik. Eine Antinomie im Denken von Jürgen Habermas

von Bernhard Schindlbeck

I.

II.

III.

Politisch scheitert dieser diskursethische Anspruch jedoch nicht an seiner moralischen Höhe, sondern schon an seiner logischen Unmöglichkeit, wenn es um die Asylgesetzgebung geht. Seiner eigenen Logik nach müssten nämlich Asylbegehrende an der Asylgesetzgebung des Landes, in dem sie um Asyl nachsuchen, als Betroffene auch Teilnehmer des praktischen Diskurses sein, dessen Ergebnis das jeweilige Asylgesetz dann ist. Dies ist aber nicht möglich, da sie nicht Bürger des Landes sind. Die demokratische Deliberation über zu findende Normen und zu beschließende Gesetze findet immer nur im Kreis der zum Land bzw. zum Staat gehörenden Bürger statt. Für die Europäische Union heißt dies heute: im Kreis der EU-Bürger unter Ausschluss aller Nicht-EU-Bürger. Die Forderung nach Beteiligung Außenstehender an der Gesetzgebung eines Landes würde nicht nur seltsam anmuten, sondern würde auch auf eine Verletzung des sogenannten Selbstbestimmungsrechts der Völker hinauslaufen.

Einerseits sollen also die dem Staat angehörenden Bürger gemeinsam über ihre Gesetze entscheiden und dabei alle Interessen aller möglicherweise Betroffenen berücksichtigen. Andererseits sollen nicht nur die Interessen aller betroffenen Menschen berücksichtigt werden, sondern letztere sollen dem diskursethischen Anspruch gemäß wirklich mitsprechen können. Deshalb müssten Asylbegehrende an den Beratungen zur Asylgesetzgebung (sei’s eines Staates, sei’s der gesamten EU) beteiligt werden. Sie sind aber keine Bürger, weshalb sie nicht beteiligt werden können. Dieser Widerspruch ist im nationalstaatlichen Rahmen, in dem jede Demokratie organsiert ist (und auch im Rahmen der EU), schlicht unlösbar. Offensichtlich geraten hier Demokratieprinzip und Diskursethik in eine unauflösbare Antinomie. Und die Behauptung einer Gleichursprünglichkeit scheidet bei einem logischen Widerspruch als Lösung aus.

IV.

Die am 10. April 2024 vom EU-Parlament beschlossene „Asylreform“, der am 14. Mai 2024 auch die EU-Mitgliedsstaaten zustimmten, verschärft die Asylbestimmungen so drastisch, dass die von Europa verfolgte Politik der Abschottung gegen alle Migranten, die nicht unter „Fachkräfteeinwanderung“ subsumiert werden, unübersehbar wird. Die EU beabsichtigt, Flüchtlinge (auch Kinder) unter Haftbedingungen in Internierungslagern an ihrer Außengrenze unterzubringen, ihr Asylbegehren in Schnellverfahren ohne die Möglichkeit des Rechtswegs zu prüfen und bei Ablehnung in irgendwelche Drittländer (die sich vertraglich und gegen Bezahlung dazu bereit erklären) abzuschieben, die auch gar nicht einmal die Herkunftsländer der geflohenen Menschen sein müssen. Man mag diese „Reform“ als Ergebnis einer demokratischen Deliberation in Ministerrat und Parlament betrachten, mit Ethik hat sie nichts zu tun. Diskursethische Prinzipen spielen in der praktischen Asylpolitik keine Rolle. Organisationen wie medico international, Human Rights Watch und Amnesty International sehen in den neuen Regelungen gravierende Verstöße gegen Menschenrechte.

V.

Durch eine Antinomie sieht man sich vor die Frage gestellt, welches der beiden einander widersprechenden Prinzipien aufgegeben werden muss. Hier: entweder die demokratische Selbstbestimmung des Volkes (d.h. der wahlberechtigten Bevölkerung) oder die diskursethisch geforderte Mitsprache und Mitentscheidung aller von der Norm Betroffenen.


  1. Jürgen Habermas, Der demokratische Rechtsstaat – eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?, in: ders., Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt/Main 2001, 133-151, hier 134. ↩︎

  2. ebd., 135. ↩︎

  3. ebd., 141. ↩︎

  4. Wolfgang Kuhlmann, Ethik der Kommunikation. In: Karl-Otto Apel u.a. (Hg.), Praktische Philosophie/Ethik, Band 1, Frankfurt/Main 1980, 276-308, hier: 297. ↩︎

  5. Jürgen Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: ders., Moralbewußt-sein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/Main 1983, 53-125, hier: 103; vgl. auch Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/Main 1997, 49. ↩︎

  6. Vgl. Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt/Main 1998. ↩︎

  7. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/Main 1992, 141. ↩︎

  8. Auf die wichtigen kosmopolitischen Überlegungen von Seyla Benhabib (Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte, Frankfurt/New York 2008; sowie: Kosmopolitismus ohne Illusionen. Menschenrechte in unruhigen Zeiten, Berlin 2016; und: Kosmopolitismus im Wandel. Zwischen Demos, Kosmos und Globus, Berlin 2024) kann hier nicht eingegangen werden. ↩︎

  9. Volker M. Heins/Frank Wolff, Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft, Berlin 2023, 59. ↩︎

  10. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Werkausgabe Band XI, hg. von W. Weischedel, Frankfurt/Main 1996, 214. ↩︎

  11. Gernot Böhme, Ethik im Kontext. Über den Umgang mit ersten Fragen, Frankfurt/Main 1997, 222. ↩︎

  12. Der Spiegel 12/2025, 35 f. ↩︎

  13. Der Spiegel 43/2023, 18. ↩︎

  14. Der Spiegel 46/2024, 17. ↩︎

  15. Seyla Benhabib, Kosmopolitismus im Wandel. Zwischen Demos, Kosmos und Globus, Berlin 2024, 42. ↩︎

  16. Donatella Di Cesare, Philosophie der Migration, Berlin 2021, 7. ↩︎

Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität

Gespräch mit Hans Otto Seitschek

Hans Otto Seitschek (1974-2023) lehrte zuletzt als apl. Professor für Philosophie an der LMU. Im Jahre 2010 gab er den Sammelband
„Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität. Die philosophische Lehre an der Universität Ingolstadt-Landshut-München von 1472 bis zur
Gegenwart“ heraus. Darin waren Beiträge auch anderer Dozenten des philosophischen Seminars (Wolfhart Henckmann, Martin Mulsow, Peter Nickl
und Thomas Ricklin) enthalten. Die Veröffentlichung des Sammelbandes war der Anlass für das Gespräch, das einen guten Einblick in das „geistige Klima gibt“, in dem in München Philosophie gelehrt und studiert wird. 

Widerspruch: Herr Seitschek, im Vorwort zu dem von Ihnen herausgegebenen Buch über die „Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität“ schreiben Sie, dass die Herausgabe eine eigene Geschichte hat. Können Sie kurz erzählen?

Seitschek: Zum ersten Mal kam ich mit dem Projekt 2003 in Berührung, als ich eine Skizze über Rémi Brague anfertigte, der Nachfolger von Hans Maier auf dem Guardini-Lehrstuhl geworden war. Dabei sah ich, dass hinter dem Projekt einer „Institutsgeschichte“ mehr steckte. Sie lag in einer bislang letzten Fassung von 1998 vor. Eines Tages kam ich mit Fräulein Ries, der langjährigen Sekretärin und „Seele“ des Lehrstuhls I, eher zufällig im Café Schneller ins Gespräch, und sie sagte mir, dass die Institutsgeschichte nicht recht weitergebracht wird. Sie war durch verschiedene Hände gegangen, aber keiner hatte sich richtig zuständig gefühlt. Anfang 2009 fragte mich Fräulein Ries dann, ob ich das nicht in die Hand nehmen möchte. Ich habe mich daraufhin mit den an der Herausgabe Beteiligten abgesprochen, mit Herrn Henckmann vor allen Dingen sowie mit Herrn Mulsow, der auf dem Umweg über Amerika jetzt in Erfurt und Gotha, Herrn Nickl, der in Hannover gelandet ist, und mit Herrn Ricklin, der zwischenzeitlich auch an dem Projekt beteiligt war. Dabei kam die Frage auf, wo wir den Einschnitt machen: schon in den 1990er Jahren, oder ob wir das Projekt bis heute (2010) weiterführen sollten. Nach einigen Überlegungen kam ich zu dem Schluss, es bis in die Gegenwart zu führen. Weite Textpassagen waren schon in einem recht guten Zustand, so dass ich nur hie und da Lücken füllen und Veröffentlichungen aktualisieren musste. Ich habe dann noch einige Personenskizzen beigefügt, insbesondere für die Zeit nach 1945 bis heute. Diese Aufgabe war für mich nicht so leicht, weil ich sie über das Jahr 2009 hinweg parallel zu meiner Habilitation in Angriff genommen habe.

Widerspruch: Für wen ist das Buch denn gedacht, für Studenten?

Seitschek: Von Fräulein Ries war es anfangs tatsächlich als Handreichung für Studenten gedacht. Aber es ist dann immer mehr gewachsen, immer mehr Texte kamen hinzu, so dass es ein recht umfangreicher Band geworden ist. Ich würde sagen: Er ist für historisch Interessierte im weiten Sinn.

Widerspruch: Durch das Buch erfährt man, dass die Ludwig-Maximilians-Universität ihren Namen schon 1802 erhalten hat. Die Universität ist also nicht nach König Ludwig I. benannt, der sie erst 1826 von Landshut nach München geholt hat, sondern nach Herzog Ludwig IX., der sie 1472 in Ingolstadt gegründet hatte, bzw. nach Max I. Joseph (dem Vater Ludwigs I.), auf dessen Veranlassung sie 1800 von Ingolstadt nach Landshut verlegt wurde. Diese Wanderung der Universität, auf die ihr Name verweist, geschah ja nicht willkürlich, sondern hatte eine inhaltliche Bedeutung. Was, meinen Sie, waren die Motive und Gründe der …

Seitschek: … translatio universitatis? Zunächst ist festzustellen, dass die Universität immer mehr an die Residenzstadt München heranrückte – aber nicht zu nah. Am Anfang lag das Hauptgebäude der LMU, wie wir es heute kennen, nicht im Stadtkern, sondern am Rande der Stadt. Einerseits wollte man die universitas litterarum an die Residenz und damit ans Zentrum der Macht holen, andererseits die Studenten offenbar nicht zu sehr ins Zentrum der Residenzstadt vordringen lassen. Dabei muss man freilich sehen, dass mit dem Umzug nach München eine wissenschaftspolitisch wichtige Sache verbunden war: die Berufung von Schelling. Er hatte 1826 der Berufung an die nach München verlegte Universität zugestimmt und 1827 mit der Lehre begonnen. Das war sicher eine wichtige Zäsur, die auch im Buch zum Ausdruck kommt. Die beiden Stationen vorher, Ingolstadt und Landshut, waren noch stark durch die neuscholastische Philosophie geprägt gewesen.

Widerspruch: Für uns hat sich ein etwas anderes Bild ergeben. In Ingolstadt hatte es im 18. Jahrhundert heftige Auseinandersetzungen zwischen dem Jesuitenorden, dem die Lehre übertragen worden war, und den Aufklärern gegeben, der 1773 mit der Aufhebung des Jesuitenordens und 1800 mit der Verlagerung nach Landshut endete. Während dieser Landshuter Zeit hat man den Eindruck, dass es sich um eine Periode des Streits zwischen Anhängern Kants und Schellings, also den Aufklärern mit den, vereinfacht gesagt, Romantikern handelt. Dies passt ja auch gut in die Umbruchzeiten zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Es ging also nicht so sehr um die Scholastik.

Seitschek: Um die Scholastik schon gar nicht; wenn schon, dann um die scholastische Tradition oder Methode. Das hat sich vor allem institutionell gezeigt. Inhaltlich wirken – da haben Sie Recht – die Strömungen des, wenn man so sagen will, philosophischen „Sturm und Drangs“ des späten 18. Jahrhunderts in die Landshuter Zeit. Herr Henckmann hat darüber ein sehr schönes Kapitel geschrieben.

Widerspruch: Man gewinnt den Eindruck, dass Landshut im Zeichen einer katholisch geprägten Spät-Aufklärung stand. Diese Zeit war ja in Bayern von dem Reformer Graf Montgelas geprägt, der die Säkularisierung der Kirchengüter durchführte, und von Max I. Joseph, der mit Napoleon verbündet war. Die Nähe zu Frankreich drückte sich in der Philosophie so aus, dass man von der scholastisch geprägten Zeit in Ingolstadt (allerdings auch von dem radikalen Illuminatenorden von Adam Weißhaupt, der 1785 verboten wurde) abrückte und eine bescheidene Art von Volksaufklärung betrieb.

Seitschek: Vielleicht. Man kann aber schon damals gegenläufige Prozesse feststellen: Institutionell orientierte sich die Philosophie tatsächlich noch an älteren Strukturen; aber inhaltlich mussten natürlich die neuen Themen der Zeit – Stichwort: Aufklärung – verarbeitet werden. Das drückt sich in der Münchner Zeit dann in den verschiedenen Lehrstuhltraditionen aus. Ich habe für das Buch eine graphische Darstellung der Lehrstuhlgenealogie erstellt: zum einen der Lehrstuhl von Schelling, den später dann Jakob Frohschammer besetzen konnte; zum anderen gegenläufige Besetzungen, die eher an theologischem Philosophieren orientiert waren (Meilinger u. a.). Ich denke, das ist ein Prozess, den man schon in der Landshuter Zeit sehen kann. Die Philosophie lebt praktisch immer auch vom Antagonismus, von der Dialektik.

Widerspruch: Kurz nach der Verlegung der Universität nach Landshut wurde eine Verordnung erlassen, die es erstmals Nicht-Katholiken und Nicht-Bayern gestattete, an der Universität zu lehren. Es war ein wichtiges Moment der Aufklärung, sich für den protestantischen Norden zu öffnen und sich nicht mehr nur auf katholische Lehrbücher festzulegen, wie noch in der Ingolstädter Zeit.

Seitschek: Ja, sicher. 1801 erfolgte auch die erstmalige Verleihung des Bürgerrechts an einen Protestanten hier in München. Das sind natürlich Strömungen und Entwicklungen, die vor der Universität nicht Halt gemacht haben. Dazu gehören auch die so genannten „Nordlichter“, Intellektuelle und Professoren aus dem Norden Deutschlands, die insbesondere in der Münchner Zeit an der Universität gewirkt haben. Dieser Prozess beginnt schon in der Landshuter Zeit. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass die Institutionen – Studien- und Lehrstuhlstrukturen – in ihrer Entwicklung längere Zeit in Anspruch nehmen als das Denken selbst. Es dauert oft lange, bis etwas weitergeht. Das ist ja bis heute so.

Widerspruch: Für die schließliche Umsiedlung nach München war dann offenbar der Gedanke prägend, die Universität zu einem Bildungszentrum des deutschen Volkes werden zu lassen, dessen Repräsentant Schelling sein sollte, der es 20 Jahre lang dann auch war. König Ludwig I. wollte, dass München nicht nur in Kunst und Architektur, sondern auch in der Wissenschaft ausstrahlt: München als „geistige Hauptstadt des deutschen Reiches“.

Seitschek: So ist es. Es ist festzustellen, dass damit ein Schritt hin zur Öffnung für die philosophisch-wissenschaftliche Avantgarde geleistet wurde, und Schelling die prägende Gestalt war. Er hat zwar dann noch in Berlin eine Spätwirkung entfaltet, aber wesentliche Gedanken, insbesondere zu seiner Naturphilosophie, gehen auf die Münchner Zeit zurück. Und das war, denke ich, nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die Universität als ganze prägend.

Widerspruch: Ludwig I. war ja Romantiker, der München nicht nur zur geistigen Hauptstadt machen, sondern auch in Konkurrenz zu Berlin bringen wollte. Schelling sollte den Gegenpol zu Hegel bilden. Die beiden Jugendfreunde waren zu diesem Zeitpunkt längst zerstritten. Später dominierten in Berlin die Hegelianer, die „Linken“, sag ich mal; während es in München die Konservativen mit Schelling an der Spitze waren. Schelling wurde dafür ja vom bayrischen Staat nicht schlecht bezahlt, sein Gehalt überstieg das anderer Professoren um ein Vielfaches.

Seitschek: Ja, Schelling hat gut verhandelt. Das ist richtig, auch der Antagonismus zu Berlin ist nicht zu vernachlässigen. Hinzukommt freilich, dass zu dieser Zeit das bayerische Königreich noch nicht so alt war und einen Selbststand in sich gesucht hat. Man hat daher versucht, in der Berufungspolitik ein eigenes Profil herauszubilden, und das ist mit Schelling ganz gut geglückt, auch wenn er schließlich vom Gang nach Berlin nicht zurückgehalten werden konnte. In dieser Zeit bilden sich jedoch zwei Lehrstühle heraus: Schelling und Meilinger, der selber Ordenschrist, Benediktiner, war und die gegenläufige Richtung vertreten hat, die nicht durch die Romantik, sondern von der Scholastik her geprägt war und eher ans Theologische anschloss. Auf diesen Lehrstuhl ist in der Folge zwar der Schelling-Schüler Beckers gekommen, in der weiteren Berufungsphase jedoch auch Johann Nepomuk Huber, der anfangs eher als ein konservatives Gegengewicht gesehen werden muss zu Beckers und zu Frohschammer, der zu der Zeit mit der Kirche schon im tiefen Clinch lag. Später schloss sich Huber der Bewegung der „Altkatholiken“ an.

Widerspruch: Wenn man diese Besetzungspolitik betrachtet, – lässt sich Ihrer Meinung nach so etwas wie eine „Grundlinie“ der Münchner Philosophie finden? Gibt es da bei allen syn- und diachronen Differenzen etwas Typisches?

Seitschek: Ja. Im Vorwort habe ich deshalb von der „Münchner Philosophie“ gesprochen. Aber was ist das Besondere? Es ist nicht verkehrt, wenn man sagt, dass in München viele philosophischen Strömungen zusammengekommen sind. Schaut man sich die Institutionen an, so gibt es heute drei Lehrstühle, die in der Tradition auf Schelling und Meilinger zurückgehen. Welche Denktraditionen wurden da genau weitergeführt? Die schellingsche, naturphilosophische Tradition ging weiter mit Karl von Prantl, der ursprünglich klassischer Philologe war. Dann waren die Lehrstuhlinhaber Carl Stumpf, Theodor Lipps, Oswald Külpe, Erich Becher, Richard Hönigswald und nach dem 2. Weltkrieg Aloys Wenzl. Mit ihnen bildete sich eine naturphilosophische Tradition aus, die das Naturdenken nicht im engeren Sinn des scholastischen „natura“-Begriffs, sondern in einem weiteren philosophischen Sinn entwickelt hat. Nach Wenzl teilt sich diese Linie: Sie geht einmal mit Wolfgang Stegmüller weiter, der die Wissenschaftstheorie in München etabliert hat, aber als ein breit angelegtes Projekt, das (Natur-)Wissenschaftler und Philosophen ganz unterschiedlicher Couleur einbezog. Auf der anderen Seite konnte sich der heutige Lehrstuhl II etablieren, auf den zuerst Helmut Kuhn kam, dann Hermann Krings, Dieter Henrich – dazwischen Eckart Förster – bis zu Axel Hutter. Die Linie, die von Schelling ausgeht, teilt sich heute also in den wissenschaftstheoretischen Lehrstuhl, den momentan Carlos Ulises Moulines – selbst ein Stegmüller-Schüler – inne hat, und in den Lehrstuhl II, mit dem Schwerpunkt der klassischen deutschen Philosophie. In beiden Lehrstühlen lebt das Erbe Schellings in unterschiedlicher Weise fort.

Die andere große Münchener Lehrstuhltradition ist die des heutigen Konkordatslehrstuhls, des Lehrstuhls I, der auf Meilinger zurückgeht. Dieser Lehrstuhl wurde mit verschiedenen Unterbrechungen und Umbesetzungen fortgeführt. 1882 kam Georg von Hertling, der später auch kurzzeitig von 1917 bis 1918 Reichskanzler war. Der Lehrstuhl von Hertlings wurde in den 1920er Jahren dann zum Konkordatslehrstuhl, den zunächst Clemens Baeumker, dann Joseph Geyser und Fritz-Joachim von Rintelen innehatten. Im Dritten Reich verödete der Lehrstuhl und blieb unbesetzt. Nach dem Krieg wurden Alois Dempf, Max Müller, Robert Spaemann und schließlich Wilhelm Vossenkuhl auf den heutigen Lehrstuhl I berufen.

Widerspruch: Es lässt sich noch eine andere Kontinuität erkennen. Betrachtet man die Münchner Philosophie auch im kulturellen Rahmen Münchens und Bayerns, so sieht man auf der einen Seite die Fortführung einer Tradition, die letztlich aus der Scholastik kommt. Auf der anderen Seite erkennt man aber immer auch den Versuch der Öffnung zum anderen, dem modernen und gegenwärtigen Denken. Was modernes Denken freilich jeweils ist, das musste immer wieder neu bestimmt werden. Wenn Sie von der naturphilosophischen Tradition des Lehrstuhls II reden, dann muss man bedenken, dass sie einen jeweils anderen Charakter hatte: erst der Psychologismus von Theodor Lipps, dann die eher erkenntnistheoretischen Bemühungen von Erich Becher, ab den 1950er Jahren dann die Wissenschaftstheorie und analytische Philosophie. Dabei scheint es bei der „Münchner Philosophie“ um ein Austarieren zwischen Tradition und Gegenwart gegangen zu sein, so dass man nicht zu konservativ blieb und sich nicht zu sehr von den modernen Entwicklungen abschottete. Dabei entstanden freilich immer wieder Konflikte. Johann Nepomuk Huber etwa hat den Antimodernismus des Papstes nicht mitgemacht; Graf von Hertling sehr wohl. Als die katholische Lehre auf die Antimoderne eingeschworen wurde, war das für die Münchner Philosophie wohl eine recht schwierige Situation, weil man sich ja zugleich den modernen Entwicklungen nicht verschließen wollte. Da kam es beim Austarieren notwendigerweise immer wieder zu Reibereien.

Seitschek: Ja, sicher. Die Philosophie lebt ja von Reibereien. Der Antimodernisten-Eid, der von den Priestern geleistet wurde, nicht aber von jedem Katholiken, drückt in besonderer Weise aus, dass es hier einen Widerstand gegen das gab, was man mit „Moderne“ bezeichnete. Die Frage ist natürlich, ob das nicht eine denkerische Herausforderung ist, die die Moderne für sich einfordert. Die Moderne braucht also einen kritischen Widerpart, um sich selbst, vielleicht auch ausgelagert, zu reflektieren. Das wird, denke ich, gerade an den genannten zwei Traditionslinien deutlich.

Da Sie den „Psychologismus“ genannt haben, möchte ich noch erwähnen, dass die Psychologie sehr eng zur Geschichte unserer Fakultät bis ins 20. Jahrhundert hinein gehörte. Kurt Huber etwa, Mitglied der „Weißen Rose“, hatte am Psychologischen Institut angefangen, wo schon früh empirische Studien geleistet wurden. Dort war von 8 bis 20 Uhr Geschäftszeit, während der Klienten getestet wurden. Es war der moderne Aufschwung der Psychologie, bevor sie sich dann als eigenes Fach verselbständigt hat. Noch immer sind Fakultät 10 (Philosophie) und Fakultät 11 (Psychologie und Pädagogik) institutionell benachbart. Die eine wuchs sozusagen aus der anderen heraus.

Widerspruch: Die Modernisierung nach dem zweiten Weltkrieg durch Stegmüller, die Wissenschaftstheorie und die formale Logik scheint allerdings weniger geplant als ein Zufallsprodukt gewesen zu sein. Stegmüller war damals ja ein Kompromisskandidat. Die eine Gruppe wollte von Rintelen nach München zurückholen, die andere favorisierte Helmut Kuhn. Da man sich nicht einigen konnte, hatte man plötzlich jemanden berufen, der eigentlich nicht hineinpasste, weil er das scholastisch-metaphysische, katholische Klima durchbrach.

Seitschek: Ich würde das für Helmut Kuhn in gewisser Weise auch beanspruchen, der ebenfalls ein eigener Kopf war und zwischenzeitlich im amerikanistischen Institut war, bevor er den Lehrstuhl II besetzen konnte. Aber in der Tat, Stegmüller war von Haus aus promovierter Nationalökonom, der dann Philosophie studiert hatte und in diesem Fach ebenfalls promoviert wurde. Er bringt tatsächlich ein neues Denken: die strukturalistische Wissenschaftstheorie, die am von den Naturwissenschaften, besonders der Physik, herkommenden Paradigma orientiert ist. Die „Logistik“ jedoch, wie die Logik anfangs noch hieß, kam eigentlich nicht von Stegmüller, sondern von Wilhelm Britzelmayr, der beruflich im Bankwesen verankert gewesen war und die formale Logik an die Universität brachte. Sie hat sich dann durch viele Professuren etabliert bis hin zur aktuellen Berufung von Hannes Leitgeb, einem international renommierten Philosophen und Mathematiker, der als Nachfolger von Godehard Link auf einen eigenen Lehrstuhl für Sprachphilosophie und Logik berufen wurde. Auf diese jüngste Entwicklung konnte das Buch leider nur in Fußnoten eingehen.

Widerspruch: Zeitgenossen erinnern sich, dass in den 1960er und 70er Jahren die Vorstellung herrschte, dass die jeweils anderen gar keine Philosophen seien. Man hatte da nicht den Eindruck eines austarierten Zusammenspiels, sondern von zwei Lagern. Für die einen waren die anderen nicht Philosophen, sondern bloß Logiker; und für die anderen war es nur Geschwätz, kein exaktes Denken, was die einen da machten.

Seitschek: Sie meinen die Kontroverse zwischen Max Müller und Wolfgang Stegmüller, die anekdotisch überliefert ist und auch im Buch zitiert wird. Stegmüller zu Müller: „Ich halte das, was Sie machen, Herr Kollege, für die Universität für nützlich, auch wenn ich es nicht für Wissenschaft halte.“ Und Müller gegenüber Stegmüller: „Auch ich halte das, was Sie machen, für nützlich, auch wenn ich es nicht für Philosophie halte.“ Da wird diese Kontroverse zwischen den Lehrstühlen durchaus greifbar.

Widerspruch: Man gewinnt in der Tat den Eindruck, dass die Berufung Stegmüllers ungeplant war, und man die Auseinanderentwicklung der Lehrstühle nicht so vor Augen gehabt hatte. Ansonsten scheinen die entsprechenden Stellen doch immer darauf geachtet zu haben, einen gewissen Ausgleich herzustellen. Dieses Austarieren der Lager scheint, bei allen Veränderungen, doch etwas spezifisch Münchnerisches zu sein, das ja auch gut in die bayerische Tradition passt: nicht zuviel Moderne, aber auch nicht zu konservativ. Inhaltlich ist das natürlich immer ein Suchprozess.

Seitschek: … liberalitas bavariae …

Widerspruch: In Frankfurt oder Marburg, überhaupt in protestantischen Universitäten herrschte doch ein anderes Klima, das nicht durch diese Art der Traditionsbildung geprägt war.

Seitschek: Traditionsbildung gibt es woanders aber doch auch. Ich denke, dass die philosophische Denkbewegung sich nicht so leicht klassifizieren lässt: hie konservativ – da modern. Das ist doch ein lebhaftes Denken, das von fortwährenden Kontroversen lebt. Nicht umsonst geht es Robert Spaemann in einem seiner Essays um „Die kontroverse Natur der Philosophie“ (1983).

Widerspruch: Na ja, es geht doch um den Umgang mit der Tradition. Für von Hertling etwa, aber nicht nur für ihn, war der Gedanke einer philosophia perennis wesentlich. Das muss nicht konservativ im politischen Sinn sein, sondern besteht in der Auffassung, die Moderne und Gegenwart gewissermaßen in Dosen in einen großen Traditionszusammenhang einzubinden. Und das ist ein spezifisches Verständnis von Philosophie, das man so an protestantisch geprägten Universitäten wohl nicht findet.

Seitschek: So gesehen, ja.

Widerspruch: Bei aller Verschiedenheit zeichnet die „Münchner Philosophie“ doch auch aus, welche Berufungen nicht stattgefunden haben. Im Buch wird erwähnt, dass prominente Philosophen, mit denen man nichts anfangen konnte oder wollte, abgelehnt wurden. Das fing mit Fichte an, der nach Landshut kommen sollte, den man aber des Atheismusstreits wegen ablehnte. Dann kam Feuerbach, der Materialist, gegen den sich Schelling persönlich gestellt hatte. Auch Heinrich Heine konnte an der Münchner Universität nicht Fuß fassen. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts waren es dann Habermas und Blumenberg. Bestimmte Leute wollte man trotz der liberalitas bavariae offenbar draußen haben.

Seitschek: Es gehört zum Widerstreit verschiedener philosophischer Richtungen dazu, dass er eben auch ins Berufungspolitische hineinwirkt. Das lässt sich nicht vermeiden. Vielleicht wurde gerade durch diese Ablehnungen ein neuer Eros geweckt. Sie haben es ja alle woanders doch geschafft.

Widerspruch: Aber es geht nicht darum, ob sie es geschafft haben, sondern dass die Münchner sich offenbar hier mit ihnen nicht auseinandersetzen wollten.

Seitschek: Sie meinen, was München mit diesen Denkern hätte sein können? Im Buch geht Martin Mulsow kurz der Frage nach, wie man sich die philosophische Fakultät mit Blumenberg und Habermas hätte vorstellen können. Das wäre natürlich eine besondere Herausforderung gewesen. Aber der philosophische Richtungsstreit steckte offenbar so tief, dass er sich in der Berufungs- und Ernennungspolitik fortsetzte – nicht immer nur zum Wohl der Fakultät. Das muss man klar sagen.

Widerspruch: Welche Funktion hatte eigentlich die Philosophie während der verschiedenen Entwicklungsetappen des philosophischen Seminars? Kann man sagen, dass sie in Ingolstadt in erster Linie Teil der Priesterausbildung war, während später die Gymnasiallehrer im Zentrum der Ausbildung standen? Oft wurden ja auch Gymnasiallehrer zu Professoren. Nach 1945 scheint die Vermittlung einer „christlichen Weltanschauung“ im Zentrum des Interesses gestanden zu haben, auch beim „Studium generale“.

Seitschek: Das spielt alles jeweils eine eigene Rolle. Betrachten wir zunächst die alte Universität, die universitas als solche. Sie hatte die drei oberen Fakultäten, Theologie, Jurisprudenz und Medizin, und die untere, die Artistenfakultät, die ihren Namen von den artes liberales, den sieben freien Künsten, hat. Das Trivium, das am Anfang der Ausbildung stand, und das wir heute noch im Wort „trivial“ kennen, Grammatik, Rhetorik und Dialektik – wobei ich mich frage, ob Dialektik wirklich so trivial ist –, dann das Quadrivium mit Geometrie, Arithmetik, Musik (Harmonik) und Astronomie. Dies hat sich mit der Zeit immer mehr ausdifferenziert, so dass die untere, also die philosophische Fakultät, im Vergleich zu den drei anderen immer mehr aufstieg. Aber in der Tat war es so, dass die Philosophie den Status einer Grundausbildung für alle hatte, für Theologen, Juristen und Mediziner, für die es jeweils abgestimmte philosophische (Vor-)Studien gab.

Widerspruch: Das galt in der Ingolstädter Zeit. Mit den Umbrüchen im 19. Jahrhundert war damit aber Schluss. Mit der Aufklärung kam ja die Auffassung auf, die Philosophie sei nicht Magd der Theologen, sondern eine autonome Wissenschaft. Ich möchte nur an Schellings Rede über das akademische Studium von 1803 erinnern, in der er forderte, dass die Philosophie funktionslos Selbstzweck sein müsse, was er in seiner Münchener Zeit dann wohl auch weitgehend durchgesetzt hat. Das heißt, man wollte zu der Zeit keine Studenten haben, die Philosophie etwas anderes wegen studieren, sondern um der Philosophie willen. Erst danach kam die Frage auf: „Für wen machen wir das eigentlich?“ Und erst dann rückte die Ausbildung der Gymnasiallehrer in den Fokus. Da hatte die akademische Philosophie wieder eine Funktion.

Seitschek: Das gymnasiale Lehramt war in der Tat ein Anker, aber erst im beginnenden 20. Jahrhundert. Da gab es auch Überschneidungen, so dass Gymnasiallehrer auch Professoren wurden. Ein gutes Beispiel ist Aloys Wenzl, der Physiklehrer am Luitpold-Gymnasium gewesen war – und außerdem als Landtagsstenograf einen Weltrekord in Stenografie aufgestellt hatte. Er erhielt 1946 eine Berufung auf den späteren Lehrstuhl II, nachdem er sich bereits 1926 habilitiert hatte und 1938 von den Nazis aus der Uni vertrieben worden war. Was die Lehrerausbildung betrifft, so war in der Tat das Philosophicum lange Zeit Pflicht, und jeder Lehramtskandidat musste einmal eine mündliche Prüfung vor einem Philosophieprofessor ablegen. Von Adorno gibt es übrigens eine sehr schöne Frankfurter Rede, die an Lehramtskandidaten gerichtet ist: „Philosophie und Lehrer“ (1962).

In den 1970er Jahren wurde das Philosophicum dann abgeschafft und in das erziehungswissenschaftliche Studium (EWS) integriert. Das ist eigentlich schade, weil es schön wäre, wenn die Philosophie in der Lehrerausbildung wieder ein Standbein hätte.

Widerspruch: Das war auf die Ausbildung bezogen. Nach der Zeit des Faschismus kam jedoch hinzu, dass man der Philosophie wieder eine gesellschaftliche Aufgabe zusprach, nämlich Werte zu vermitteln, und dass sie in die Öffentlichkeit wirken müsse. Da herrschte das Verständnis, dass die Philosophie nicht nur Teil der Ausbildung ist, …

Seitschek: … sondern im Wesentlichen Bildung vermitteln, den Menschen zum Denken, zum Bedenken anregen soll. Dem Anspruch nach geht das, meine ich, schon auf die Landshuter Zeit zurück, auf die Auseinandersetzungen der Anhänger Kants, Jacobis oder Schellings. Parallel dazu gab es tatsächlich immer die institutionell verankerten Aufgaben der Priester- oder Lehrerausbildung bis in die 1970er Jahre hinein. Erst dann hat sich das Eigentliche der Philosophie entfalten können als einer Philosophie, die frei ist, keinen festen Lehrplan hat, und wo kein Lehrstuhlinhaber Rechenschaft ablegen muss, sondern einfach „drauf loslehrt“. Zu dieser Zeit herrschte der Gedanke vor, dass die Philosophie einen Denkraum gibt, und dass sie damit eine eminent wichtige Funktion für die Demokratie hat, die sich solche Denkräume leisten können muss, anders als in Systemen, wo „man regiert wird“. In der Demokratie spielt der Gedanke der Selbstbeteiligung eine zentrale Rolle, die allerdings eine gewisse Reflexionsfähigkeit voraussetzt und dazu Denkräume benötigt. Das war die Zeit, als die Philosophie tatsächlich eine große institutionelle Freiheit genoss, die sie auch gut genutzt hat: in München Spaemann, Henrich, Beierwaltes oder Hans Maier; da war einiges los. Es wurden hier viele spätere Professoren ausgebildet, die an anderen Orten die Philosophie wiederum stark geprägt haben.

Widerspruch: Und heute? Mit dem „Bologna-Prozess“ wird der Philosophie ja wieder eine ganz andere Rolle zugewiesen. Offenbar sollen Philosophen als Mediatoren, Wirtschaftsethiker, „Firmenphilosophen“, Vermittler etc. qualifiziert werden, also Fähigkeiten erwerben, durch die sie für die Industrie nützlich sein können.

Seitschek: Zuerst hat man angefangen zu zählen: Wie viele Studenten? Wie viele Abschlüsse? Das Ganze wurde wieder stark „verfunktionalisiert“ bis zum heutigen Bachelor/Master-Prozess. In München haben wir allerdings das Glück, einen sehr breiten Lehrkörper zu haben und verschiedene Richtungen abdecken zu können. Für die Philosophie ist und bleibt wichtig, wovon wir schon gesprochen haben, dass nicht nur eine Richtung, Spätidealismus oder was auch immer, vertreten wird, sondern dass es verschiedene Strömungen gibt, die untereinander streiten, aber auch miteinander reden und damit eine gute Grundlage für das Studium bilden.

Widerspruch: Wenn man diese gegenwärtige „Reform“ historisch zu verorten versucht, so erscheint sie uns als ein gewaltiger Bruch mit der Tradition von philosophischer Lehre und Studium. Wie sehen Sie das?

Seitschek: Ja, das ist ein Bruch. Reformen hat es immer gegeben. Die Studien- und Studentenordnungen wurden, wie im Buch dokumentiert, immer wieder umgeschrieben. Aber was wir heute als „Bologna-Prozess“ bezeichnen, ist schon ein sehr harter Einschnitt, weil die Struktur des Bachelorstudiums sich an Studiengängen orientiert, die erstens sehr anwendungsbezogen sind und zweitens nach dem „Baukastenprinzip“ funktionieren. Für die Philosophie erweist es sich als äußerst schwierig, das Studium in solche „Bausteine“ (Module) zu zergliedern. Dahinter steckt der Gedanke, das Studium für die Wirtschaft, wie es so schön heißt, „greifbarer“ zu machen. Der Personalchef, der die Leute einstellt, will wissen, was dahintersteckt, wenn einer mit der Bachelor-Urkunde daherkommt.

Was uns einigermaßen rettet, ist tatsächlich die Vielfalt der Münchner Philosophie, weil wir die verschiedenen „Bausteine“ für ein breit angelegtes Philosophiestudium liefern können. Wir haben beispielsweise praktische Philosophie, einmal mehr in Richtung politischer Philosophie (Julian Nida- Rümelin), einmal mehr in Richtung Ökonomie (Karl Homann); auch in der Antike stehen wir auf mehreren Beinen, der klassischen Metaphysik (Thomas Buchheim), aber auch der antiken Rhetorik (Christof Rapp) und anderen Richtungen. Wenn wir diese Vielfalt, die vor allem in den letzten Jahrzehnten entstanden ist, für den Bachelor nutzbar machen können, ist das ein Standortvorteil gegenüber anderen Universitäten.

Widerspruch: Halten wir fest: In Ingolstadt war es so, dass an der Universität nach kirchlichen Lehrbüchern indoktriniert wurde. Dann kam die Zeit der Reformen in der Landshuter Zeit, die Befreiung des Studiums, weil man sagte, gerade die Philosophie müsse frei sein. Diese Freiheit, haben wir gesagt, herrschte dann wieder von den 1970er bis in die 1990er Jahre, in denen die Münchner Philosophie eine gewisse Ausstrahlung besaß. Jetzt aber befinden wir uns in einer Phase, in der das Studium sich an den Personalchefs orientiert. In Ingolstadt musste man darauf achten, was der Herzog oder der Bischof über die Ausbildung sagt; im München des Jahres 2010 muss man darauf achten, was der künftige Personalchef dazu sagt. Erscheint das nicht nur als ein Einschnitt, sondern in historischer Sicht als ein großer Rückschritt?

Seitschek: Wenn man mutig ist, muss man sagen, das es der bisher größte Einschnitt in der philosophischen Lehre ist. Die Philosophie muss jetzt einem Studienschema Genüge leisten, das für ganz andere Fächerkulturen geschaffen wurde. Das ist wie die Quadratur des Kreises. Schaut man sich bei anderen Universitäten um, sieht man, wie schwer sich die Philosophie dort tut. In Eichstätt z.B. wird es vorerst keinen grundständigen Philosophiestudiengang mehr geben. Mag sein, dass wir die Freiheit zuvor zu sehr genossen, zu vollmundig genommen haben. Man konnte sich zu meiner Studienzeit im Magisterstudium mit drei Proseminarscheinen zur Zwischenprüfung anmelden – immerhin gab es schon eine Zwischenprüfung. Zuvor gab es teilweise nur die Lehramtsstudiengänge und die Promotion. Wie man dorthin kam, war sehr frei gestaltet. Vielleicht gab es zu wenig Strukturen, und die Freiräume wurden zu sehr ausgenutzt.

Was dann allerdings kam, war eine politische Überreaktion. Man spricht zwar vom gemeinsamen europäischen Hochschulraum, was sehr schön nach Freiheit klingt, wenn man in München anfängt, in Paris weitermacht und in London abschließt. Das sind tolle Ideen. Es steht aber sehr zu befürchten, dass sie Utopien bleiben. Der Grund dafür ist, dass auf der anderen Seite die massive Verschulung droht, die „Einkastelung“ des Studiums, um es so funktional zu gestalten, dass es wirklich jeder Personalchef kapiert. Früher hielt man Seminare, die zwei, drei Semester lang fortgesetzt wurden, weil sich eine Gruppe von Studenten zusammenfand, die an einem bestimmten, komplizierten Text, wie Hegels „Logik“, dranbleiben wollte. Das ist in der jetzigen Situation praktisch unmöglich. Man kann nur hoffen, dass sich kleinere und größere Schlupflöcher auftun, so dass die Philosophie den genuinen Eros des Denkens behält – auch im Bachelor.

Widerspruch: Kommen wir zum Schluss noch einmal auf das Buch zurück. An einigen Stellen scheint die Darstellung sehr harmonisierend zu sein, als handle es sich um eine Werbeschrift für die „Münchner Philosophie“. Zwei Punkte sind uns aufgefallen: zum einen schreiben einige Autoren über sich selbst; zum anderen passt einmal die Fußnote nicht recht zum Text. Im Text heißt es, der Lehrstuhl für Humanismus sei quasi als „Abrechnung“ mit dem Dritten Reich und mit dem Ziel, sich auf die humanistischen Werte der europäischen Tradition zurückzubesinnen, geschaffen worden; er sei dann mit Ernesto Grassi besetzt worden. In der Fußnote steht, dass Grassi mit dem Nationalsozialismus und dem Faschismus zusammenarbeitete, 1938 in Berlin Honorarprofessor war und bei Alfred Rosenberg veröffentlicht hatte.

Seitschek: Das ist wieder ein Beispiel für den Widerstreit in der Philosophie. Grassis Persönlichkeit ist nicht so leicht zu fassen und sehr schillernd. Seine Schüler, die sich auch um die Texte im Buch gekümmert haben, sehen das aus ihrer Erfahrung mit ihm oft anders. Man soll es aber nicht verschweigen: Er war zur Zeit des Dritten Reichs in Rom und in Berlin aktiv. Wollte er sich dort lediglich Möglichkeiten zur Veröffentlichung verschaffen, oder verstand er sich als eine Art Vordenker?

Widerspruch: Darüber hinaus scheint das Buch sehr aus Sicht der Ordinarien geschrieben zu sein. Die Darstellung ist von den Professoren her gedacht, von ihrer Sichtweise und Position, so dass man den Eindruck einer Darstellung von oben nach unten hat: erst die Ordinarien, dann die Ex- traordinarien usw. Studenten kommen eigentlich nur dann vor, wenn sie aufmüpfig waren. Sie scheinen eigentlich nicht zum Korpus zu gehören. Zudem erfährt man von Konflikten oft nur unterschwellig. Von Max Müller etwa heißt es, er habe sich aufgrund der Auseinandersetzungen in den 1960er Jahren enttäuscht zurückgezogen. Aber dass er selbst auch ordentlich zur Sache gegangen ist, erfährt man nicht. Auch über die Diskussionen am Ende der Weimarer Republik oder, gerade in München, über die Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Altkatholiken Mitte des 19. Jahrhunderts erfährt man wenig. Es gibt zwar Hinweise, aber manches erscheint als zu glatt.

Seitschek: Na ja. Das Buch ist zusammenführend, würde ich sagen. Die Darstellung ist gewiss nicht die von disiecta membra; eine gewisse innere Bezogenheit und Linienführung nehme ich für mich schon in Anspruch. Ob harmonisierend? Vielleicht an manchen Stellen. Man hätte da mehr schaffen können, wenn mehr persönliche Berichte vorhanden gewesen wären. Ich habe Max Müller nicht persönlich kennen gelernt, aber vieles aus anschaulichen Berichten erfahren. Ja, der konnte zur Sache gehen.

Widerspruch: Er wollte ja die Studenten mit dem Schlauch aus der Uni spritzen. Der „Widerspruch“ hat vor zwei Jahren zum 40. Jubiläum ein Heft zu „1968“ herausgegeben mit dem Erfahrungsbericht eines Philosophiestudenten, der das damalige Studium nicht von oben, sondern von unten schildert. Da sind schon einige interessante Dinge passiert.

Seitschek: Das ist sicher für eine weitere Auflage oder ein noch größeres Projekt interessant. Manche haben mir gesagt, man könne die Geschichte des Faches von 1472 bis heute nicht auf ein paar hundert Seiten zusammenfassen. Das ist richtig: Man könnte über jeden Lehrstuhl einen eigenen Band schreiben. Die Frage ist, was man als Habilitand mit einer halben Stelle leisten kann, der ein solches Projekt praktisch nebenher machen muss. Mit dem vorliegenden Buch ist jetzt jedenfalls ein Anfang gemacht. Sollte eine zweite Auflage möglich sein, müsste man solche Erfahrungsberichte einfügen. Ich habe auch schon gesehen, wo man tiefer bohren muss: die Weimarer Zeit oder 1968, wie Sie sagten, überhaupt die Schwellen- und Übergangszeiten. Man sollte sich auch das Verhältnis der Fakultät zur Bayerischen Akademie der Wissenschaften oder zur Görres-Gesellschaft anschauen. Sie sehen, das Projekt einer Geschichte der Philosophie an der LMU ist ein „work in progress“, dem wir wohl alle eine Fortführung und Erweiterung wünschen.

Widerspruch: Herr Seitschek, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch führten Konrad Lotter und Alexander von Pechmann

Einleitung

Panorama der an der Münchner Universität gelehrten Philosophie (1990 bis 2020)

Bei seiner Gründung im Jahr 1981 verstand sich der „Widerspruch – Münchner Zeitschrift für Philosophie“ als kritisches Organ und Alternative zur Philosophie, wie sie an der Ludwig-Maximilians-Universität gelehrt wurde. In Abgrenzung zur Wissenschaftstheorie (Neopositivismus) einerseits und zur christlich-orientierten Metaphysik andererseits orientierte er sich an Marx und der Tradition der Kritischen Theorie und Sozialphilosophie, die im offiziellen Lehrangebot der Universität höchst marginal vertreten waren. Unser Anliegen war es, die in München Philosophie Studierenden auch mit dieser Richtung bekannt zu machen.

Seinem Untertitel als „Münchner Zeitschrift“ trug der „Widerspruch“ allerdings auch insofern Rechnung, als er sich, darstellend oder kritisch, mit der an der Ludwig-Maximilians-Universität gelehrten Philosophie auseinandersetzte, sowohl mit ihrer Geschichte als auch mit ihren gegenwärtigen Repräsentanten. Dies geschah in unterschiedlicher Weise: in Round-table-Gesprächen, in Interviews zu Themen, die dem Interesse und der Programmatik der Zeitschrift entsprachen, aber auch in Form von Selbstdarstellungen Münchner Philosophen über ihren eigenen Entwicklungsgang und die von ihnen vertretene Position. Im Verlauf vieler Jahre entstand auf diese Weise ein umfassendes Panorama der in München zwischen 1990 und 2020 gelehrten Philosophie, das wir in einer Folge von Beiträgen hier erneut veröffentlichen und so auch über das Internet zugänglich machen.

Den Anfang macht ein Gespräch des „Widerspruch“ mit Hans Otto Seitschek, dem Herausgeber des Sammelbandes zur Geschichte der „Philosophie der Ludwig-Maximilians-Universität“, von ihren Anfängen in Ingolstadt und Landshut über ihren Umzug nach München (1826) bis in die Gegenwart. Anschließend werden zwei Gespräche folgen, die die Situation des philosophischen Seminars während des „Dritten Reichs“ (mit Hermann Krings) sowie der unmittelbaren Nachkriegszeit (mit dem Heidegger-Schüler und -Kritiker Ernesto Grassi) zum Thema haben.

Im Weiteren sind Gespräche und Interviews mit den Philosophen Julian Nida-Rümelin, Karl Homann, Wilhelm Vossenkuhl, Thomas Buchheim, Axel Hutter und vielen anderen vorgesehen, aber auch mit dem Sozialpsychologen Heiner Keupp und dem Sinologen Hans van Ess, die im Rahmen ihres Fachgebiets philosophische Fragen erörterten.

Moyn – Der Liberalismus gegen sich selbst

Samuel Moyn

Der Liberalismus gegen sich selbst. Intellektuelle im Kalten Krieg und die Entstehung der Gegenwart

aus dem Englischen von Christine Pries

geb, 304 Seiten, 30,– €

Berlin 2024 (Suhrkamp-Verlag)

von Percy Turtur

Der Historiker Samuel Moyn unternimmt in seinem Buch den Versuch, den Liberalismus zu retten, nicht zuletzt vor sich selbst. Da der Rezensent selber kein Liberaler ist, sondern sich als Linker versteht, gilt sein Interesse weniger der ‚Rettung des Liberalismus‘ als der Frage, was sich aus dessen Scheitern lernen ließe. Gemeinsam ist liberalen und linken intellektuellen Strömungen der offensichtliche Schiffbruch, den beide politischen Denkrichtungen angesichts des unabsehbaren Erstarkens konservativer bis extrem reaktionärer, militanter politischer Positionen derzeit erleiden.

Moyn stellt verschiedene Interpretationen des Liberalismus anhand einiger Autoren wie Judith Shklar, Isaiah Berlin, Karl Popper, Gertrude Himmelfarb und Lionel Trilling vor; sein besonderes Augenmerk gilt dabei einer Richtung, die er den „Kalter-Krieg-Liberalismus“ nennt. Er betrachtet diesen als eine Art radikaler Aufhebung des ‚klassischen‘ Liberalismus, wobei nicht ganz klar wird, ob er diese Aufhebung im hegelschen Sinne dialektisch versteht – in jedem Fall aber denkt er an eine Art von Negation des Liberalismus in sich selbst.

Die Texte aus den fünfziger Jahren von Judith Shklar, in denen sie den Kalten-Krieg-Liberalismus (noch) kritisiert, vor allen im ersten Buch „After Utopia“, stellen für Moyn eine Art Leitbild der Erörterungen in diesem Buch dar. Die Verbindung mit der Aufklärung, die Ende des achtzehnten Jahrhunderts beginnt, wird, so seine These, im Liberalismus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in der Konfrontation der beiden Weltmächte unterbrochen. Obwohl Kalter-Krieg-Liberalismus und Neoliberalismus sich in einigen Punkten deutlich unterscheiden, sind sie sich doch in der Ablehnung aufklärerischer Rationalität weitgehend einig, die im Ursprung doch grundlegender Bestandteil des früheren Liberalismus war. Am Beispiel des intellektuellen Verhältnisses von Isaiah Berlin und Shklar macht Moyn deutlich, wie verschiedene Auffassungen von Liberalismus zusammenfinden und wieder auseinanderdriften, und wie die einzelnen Autoren selbst ihre Positionen im Lauf der Zeit modifizieren oder sogar weitgehend verändern.

Der Vorwurf, den Moyn Karl Popper macht, ist der, dass er durch seinen Anti-Hegelianismus und seine Ablehnung von Marx wichtige Bestandteile des Liberalismus des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts eliminiert hat, was an der speziellen Ausprägung des Kalter-Krieg-Liberalismus entscheidenden Anteil hat. Mit seiner Kritik an der von ihm „Historizismus“ genannten Geisteshaltung, die im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auf sozialen Fortschritt setzte, dekonstruierte Popper auch die Hoffnung vieler Liberaler auf eine bessere Zukunft, die, wenn nicht notwendig, so doch immerhin möglich und anzustreben wäre. Da der Liberalismus es nicht zu einem eigenen Geschichtsverständnis, abgekoppelt von jenem Historizismus, gebracht hatte, blieb ihm nur ein eklektizistisches politisches Bewusstsein. Ein solches Verständnis ist für Moyn jedoch unverzichtbar: „Wenn Geschichte keinen Fortschritt macht, ist sie sinnlos“ (113). Dies freilich gilt für jede politische Richtung, auch für alle Spielarten des Konservatismus (Anm. d. Rezensenten).

Dementsprechend gilt es nach Moyn daran festzuhalten, dass zwar der Kalter-Krieg-Liberalismus eine „Aufkündigung der Zukunft“ (121) verlangte, dass aber kein Liberalismus längerfristig gedeihen könne, der „nicht emanzipatorisch und der Zukunft zugewandt“ (124) ist. Mit Francis Fukuyama habe der Kalter-Krieg-Liberalismus sich ab 1989 jedoch folgenreich in den Neoliberalismus transformiert und sich damit endgültig gegen seine bisherigen philosophischen Grundlagen gewandt.

Etwas überraschend bezieht Moyn Hannah Arendt in seine Überlegungen zum Widerspruch des Liberalismus mit ein, obwohl diese sich doch nie als Liberale verstand. In gewisser Weise, so Moyn, habe Arendt, als ausgewiesene Konservative, sich an der Transformierung des freiheitlichen Liberalismus in den Kalter-Krieg-Liberalismus beteiligt, wenn auch mit anderen Motiven. Sie habe geholfen, den ‚Anti-Kanon‘ eines Liberalismus zusammenzustellen, der sich von jeglicher Form der Aufklärung bis hin zu Hegel und Marx verabschiedet hat. Eine weitere, nach Moyn unangenehme Folge des Kalter-Krieg-Liberalismus war die Aufkündigung des Projekts der Globalisierung mit der Folge, die ‚Freiheit‘ des ‚Westens‘ gegen den Rest der Welt verteidigen zu müssen, bis dann die neoliberale Ökonomie den postkolonial entstandenen Staaten ihr „stahlhartes Gehäuse“ (167) aufzwang. Als Vordenkerin der Totalitarismus-Theorie sei Arendt dem Kalter-Krieg-Liberalismus erstaunlich nah gewesen.

Schließlich habe dann auch noch Lionel Trilling die Psychoanalyse mit Sigmunds Freuds „Das Unbehagen an der Kultur“ für den Kalten-Krieg-Liberalismus eingespannt, um den seiner Ansicht nach schädlichen Kollektivismus zugunsten eines (elitären) Individualismus zu verdammen. Selbst die Kulturkritik Theodor W. Adornos in dessen „Negativer Dialektik“ muss dafür herhalten, obwohl Adorno das völlige Gegenteil eines Liberalen war. Der Kalter-Krieg-Liberalismus und nach ihm der Neoliberalismus, so Moyn, haben alles für sich vereinnahmt, was gegen eine soziale Weiterentwicklung der Menschheit sprechen könnte und was für eine unumschränkte Herrschaft der Reichen und Mächtigen spricht, selbst wenn diese Theorien mit dem Liberalismus nicht kompatibel oder sogar gegen ihn gerichtet sind.

Es wäre schön gewesen, hätte Moyn die verschiedenen Strömungen des Liberalismus, die er in Anschlag bringt, inhaltlich und systematisch klarer konturiert. Es hätte das Verständnis der verschiedenen Spielarten des Liberalismus vom 20. Jahrhundert bis heute deutlich erleichtert. Gerade für eine Art von ‚Geschichte des Liberalismus‘ wäre das interessant und hilfreich gewesen.

Formal lässt sich schließlich sagen, dass die Positionierung der Fußnoten ans Ende des Buches im Zeitalter des Computersatzes reichlich anachronistisch wirkt und das ständige Blättern nach hinten zu den Fußnoten und wieder nach vorn zum Text beim intensiven Lesen lästig fällt. Andererseits zerreißen Fußnoten, die des öfteren eine halbe Seite beanspruchen, den fortlaufenden Text. Sie gehören zwar in eine wissenschaftliche Arbeit, stören aber den Lesefluss.

Wie so oft lautet die Antwort auf die Frage, was aus der Geschichte sich lernen ließe, dass sich eben nichts lernen lässt. Auch wenn Samuel Moyn der Überzeugung Ausdruck gibt, den ‚klassischen‘ Liberalismus nicht einfach wiederbeleben zu können, da dessen bisherige Spielarten obsolet geworden seien. So stellt sich für ihn dennoch die Frage, was das „ganz Andere“ des Liberalismus sein könnte, das ihn aufhebt, auch und gerade im Sinne des ‚Bewahrens‘ eines ‚klassischen‘ Liberalismus. Eine Frage, die sich, wie mir scheint, auch die Linke, wenn auch mit anderen (besseren?) Inhalten und Zielen, gleichfalls stellen muss.

Muss man dieses Buch (als Linke:r) gelesen haben? Nein. Kann man es mit Gewinn lesen, wenn man sich für den Liberalismus des 20. und 21. Jahrhundert interessiert, gerade jetzt in einer Zeit, in der Anti-Intellektualismus und Anti-Liberalismus in den USA, aber auch anderswo, fröhliche Urständ‘ feiern? Ja.