von Pechmann – Klima. Geschichte des Begriffs (I)

Das Klima. Geschichte des Begriffs, 1. Teil

von Alexander von Pechmann

Einleitung

Auf den ersten Blick scheint das Klima eng mit unserem Wetter verbunden zu sein. Während wir mit dem Wetter den momentanen meteorologische Zustand an einem bestimmten Ort bezeichnen, wird unter dem Klima der meteorologische Zustand verstanden, der sich über einen langen Zeitraum erstreckt. Das Wetter, so heißt es, entscheidet, was wir heute anziehen, das Klima, was wir im Kleiderschrank haben.

Doch wegen dieser zeitlichen Differenz von Gegenwart und Dauer bezeichnet das Klima eigentlich keinen ‚Zustand’; es bildet vielmehr eine statistisch gewonnene Durchschnittsgröße, die aus einer Vielzahl von Wetterbeobachtungen errechnet worden ist. Das Wetter erfahren wir jederzeit; das Klima jedoch entzieht sich unserer Wahrnehmung; es ist ein allgemeiner Begriff, der von uns hinzugedacht werden muss.

Dieser Unterschied zwischen dem Wetter, mit dem wir täglich konfrontiert sind, und dem Klima, von dem wir uns erst einen Begriff bilden müssen, zeigt sich gegenwärtig daran, dass wohl niemand daran zweifelt, dass sich das Wetter jederzeit ändern kann – weshalb wir an dessen Vorhersage so interessiert sind –, dass es heute jedoch eine weltweite Kontroverse darüber gibt, ob das auch für das Klima gilt, ob also das Klima sich wandelt. So gilt den Befürwortern des Wandels der Schutz des Klimas als eine der größten Herausforderung dieses Jahrhunderts, die Skeptiker hingegen betrachten ihn oft als ein kostspieliges Luxusproblem. So klar und unstrittig unser Bild vom jeweiligen Wetter ist, so unscharf und umstritten ist offenbar unser Bild vom Klima als einer höchst abstrakten Vorstellung.

Im Folgenden soll in vier Kapiteln gezeigt werden, dass der Begriff des Klimas in der Tat eine wechselvolle Geschichte von unterschiedlichen Bedeutungen hatte, die in ihrer Zeit jeweils eng mit philosophischen und weltanschaulichen Kontroversen verbunden waren. Das erste Kapitel befasst sich mit der Kontroverse in der Antike, das zweite mit der erkenntnistheoretischen und weltanschaulichen Auseinandersetzung zwischen Johann Gottfried Herder und Immanuel Kant um den Begriff des Klimas, das folgende mit Alexander von Humboldt und der Entstehung der Klimatologie als Wissenschaft, das letzte Kapitel schließlich mit der gegenwärtigen wissenschaftlichen und politischen Debatte um den Klimawandel. Was das Klima ist und wie wir es erkennen können, so das Fazit, war bis in die Gegenwart Gegenstand wissenschaftlicher und philosophischer Kontroversen.

I. Antike: Das Klima als „Neigung“

Mit dieser mathematischen Erklärung der Erdzonen durch die „Neigung“ war jedoch noch nichts über das wirkliche bzw. physische Verhältnis von Erde und Sonne gesagt. Denn entweder gehen wir von unserer Alltagserfahrung aus, nach der die Erde das ruhende Zentrum des Universums bildet und die Sonne als Quelle der Wärme (und mit ihr die anderen Gestirne) die Erde umkreist. Oder wir setzen, kontrafaktisch, umgekehrt voraus, dass die Sonne das Zentrum bildet und die Erde sie als ein Planet in einer bestimmten Weise umkreist. Im ersten Fall, der Erde als Zentrum, liegt nun aus einer menschlichen bzw. anthropozentrischen Perspektive die Annahme nahe, dass sich hinter den Unterschieden des Klimas eine gewisse Absicht oder Vernunft verbirgt, durch die im Mittelpunkt des Universums eine bestimmte Zone der Erde gerade so beschaffen ist, dass sie für den Menschen zum bewohnbaren Lebensraum geworden ist. Im entgegengesetzten Fall wäre es aus kosmologischer Perspektive jedoch unmöglich, dem Universum eine solche Absicht oder Vernunft zu unterstellen. Die klimatischen Unterschiede wären schlicht physikalische Wirkungen der Sonneneinstrahlung. Hat also die Aufteilung der Erdkugel in jene fünf Klimazonen einen höheren Sinn, oder hat sie keinen? Diese Frage nach dem wirklichen Verhältnis von Erde und Sonne aber war bei der Erdvermessung der ‚alten Griechen’ von zentraler philosophischer und ideologischer Bedeutung.

Nun war und ist es bis heute unsere unmittelbare Erfahrung, dass die Erde im Zentrum ruht, während der „gestirnte Himmel“ sich um sie dreht. Doch prinzipiell spricht nichts dagegen, dass es sich in Wirklichkeit, wie wir heute – bis auf wenige Ausnahmen – annehmen, umgekehrt verhält, dass wir uns also durch die wissenschaftliche Erforschung vom Gegenteil unserer Erfahrungen überzeugen lassen. Dennoch ist der erste Fall, das sog. „geozentrische System“, in der Folge über eineinhalb Jahrtausend zum allgemein verbindlichen Standard geworden, der das Verhältnis von Erde und Sonne vermeintlich ‚richtig’ beschreibt. Da diese Verbindlichkeit jedoch weder auf die unmittelbare Erfahrung zurückgeführt werden kann, die uns ja des Öfteren täuscht, noch auf den damaligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse, wie sich zeigen wird, muss das Motiv für diesen Standard des geozentrischen Systems letztlich philosophisch-weltanschaulicher Natur gewesen sein. Zu deren Erklärung müssen wir uns der damaligen philosophischen Debatte zuwenden.

Der Streit ums Weltbild

Im damals geistig führenden Zentrum Athen war mit Sokrates, Platon und Aristoteles eine Denkströmung prägend geworden, die sich von der theoretischen Erforschung des Wahren, wie sie zuvor insbesondere von den ionischen Philosophen betrieben worden war, abgewandt und sich den praktischen Fragen nach dem Guten zugewandt hatte. Von ihnen wurde das Gute und Vollkommene als das Vernünftige zum höchsten Prinzip erhoben, das nicht nur das praktische Handeln, sondern auch die denkende Erkenntnis bestimmen sollte. Während Platon dieses Gute jedoch als ein jenseitiges Reich der ewigen Ideen konzipiert hatte, nach dem die menschliche Erkenntnis strebe, war die Philosophie des Aristoteles vom Gedanken getragen, das Gute auch in der sinnlich gegebenen Natur aufzufinden, die, wie er annahm, zu ihm als ihrem letzten und höchsten Zweck strebe. Diese teleologische Weltanschauung aber musste an dem Unterschied vom Himmel und der Erde in der Weise festhalten, dass die von den Menschen bewohnte Erde das selbst ruhende Zentrum des Universums ist, während am Himmel die Gestirne und mit ihnen die Sonne als „selige Götter“ ihre ewigen Kreisbahnen um die Erde ziehen.

Einer solchen, nach dem Prinzip des Guten und Vollkommenen organisierten Weltordnung musste nun aber die Annahme völlig widersprechen, die Erde – und auf ihr das Volk der Griechen – sei nicht das Zentrum des Universums, sondern sei ein kugelförmiger Körper, der ständig um sich und die Sonne kreist, und die Klimazonen seien nur die Folge dieser Bewegungen der Erde. Aus dieser Perspektive war eine solche Annahme vor allem in ethisch-praktischer Hinsicht verwerflich: sie leugnete das Gute und Vernünftige der Weltordnung.

Alexandria – Zentrum der Wissenschaften

  1. Die „verbrannte“ wie die „kalten“ Zonen fasste man später dann als „zonae inhabilitabiles“ (unbewohnbare Zonen) zusammen. ↩︎
  2. Eine wichtige Grundlage für die Erdkugellehre hatte bereits Anaximander mit seiner These von dem im kugelförmigen All freischwebenden Erdzylinder geliefert. So lag der Analogieschluss von der Kugelgestalt des Himmels auf die im Zentrum ruhende Erde zumindest nahe. Er wurde durch Aristoteles’ Beobachtung der runden Gestalt des Erdschattens bei der Mondfinsternis erhärtet sowie durch die theoretischen Erwägungen über die Kugel als vollkommenen Körper begünstigt. Wie die theoretische Genese jedoch im einzelnen verlief, entzieht sich unserer Kenntnis. ↩︎
  3. Stephan Heilen, Eudoxos von Knidos und Pytheas von Massalis, In: Wolfgang Hüber (Hg), Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften in der Antike, Bd. 2, Geographie und verwandte Wissenschaften, Stuttgart 2000, 60. ↩︎
  4. Aristoteles, Politik, VII, 7. – Eine ‚klimatologische Völkerlehre’, der sich schon sein Schüler Alexander der Große widersetzen sollte. ↩︎
  5. Zudem konnte Aristarchs heliozentrisches Modell die Unregelmäßigkeiten der Planetenbewegungen erklären. ↩︎
  6. In seinem Werk über die hellenistische Wissenschaft schreibt der Wissenschaftshistoriker Lucio Russo: „Wir haben Lukrez’ herrliches Gedicht über die Natur, nicht jedoch die Werke eines Straton von Lampsakos, bei dem einiges darauf hindeutet, dass er der wahre Begründer der Wissenschaften im eigentlichen Sinne des Wortes sein könnte“ (L. Rosso, Die vergessene Revolution oder die Wiedergeburt des Antiken Wissens, Berlin/Heidelberg/New York 2004, 11). ↩︎
  7. „Die hellenistischen Herrscher förderten die Kultur weniger aus innerem Großmut, sondern weil Wissen für sie eine wichtige Machtquelle war“ (ebd., 285). ↩︎
  8. „Die Beweiskraft der induktiven Methode“, schreibt der Philosophiehistoriker Friedrich Lange, „beruht aber auf der Voraussetzung eben jener Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit des Weltganges, welche Demokrit zuerst entscheidend zum Bewusstsein gebracht hatte.“ (F.A. Lange, Geschichte des Materialismus, Bd. 1, Frankfurt/Main 1974, 91). ↩︎
  9. Dies scheint anders bei seinem einzigen Nachfolger, dem Astronomen Seleukos von Seleukeia, gewesen zu sein, der den Heliozentrismus durch theoretische Überlegungen bewiesen haben soll. ↩︎
  10. Plutarch, de facie 6, 923 A = SVF I 500 (zit. nach: Eric R. Dodds, Mentalitätswandel von der griechischen Aufklärung zur Spätantike und zum Christentum. In: Jochen Schmidt, Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1089, 111) – „(D)ie Stoa hatte schon immer versucht, durch ihren Einfluss den heliozentrischen Ansatz des Aristarch zu Fall zu bringen, weil er, falls man ihn akzeptiert hätte, die Fundamente sowohl der Astrologie als auch der stoischen Religion umgestürzt hätte“ (ebd.). ↩︎
  11. ebd., 93-128. ↩︎

Nida-Rümelin – Die Tatenarmut der praktischen Philosophie

Julian Nida-Rümelin (geb. 1954) war von 2004 bis 2020 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie und politische Theorie an der LMU. Seit 2022 ist er Rektor der Humanistischen Hochschule Berlin. Seine Spezialgebiete sind Erkenntnis- und Rationalitätstheorie, Ethik und politische Philosophie. Nida-Rümelin war 1998-2001 Kulturreferent der Stadt München, 2001-2002 Kulturstaatsminister in Berlin, 2010-2014 Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD und 2020-2024 stellvertr. Vorsitzender des Deutschen Ethikrats.

Widerspruch: Zu Anfang möchten wir Sie bitten, uns ein paar Worte zu Ihrer Biografie zu sagen. Wie kamen Sie dazu, Philosophie zu studieren und in diesem Bereich eine akademische Karriere zu verfolgen.

Nida-Rümelin: Ich bin 1954 in München geboren und hier in einer Künstlerfamilie aufgewachsen, in einem Künstlerhaus – dem „Hildebrandhaus“. Das gibt es immer noch, unterdessen ist dort aber die „Buchsammlung Monacensia“ untergebracht, Literatur von Münchner Autoren und vor allem Literatur über München.

Eine Zeitlang wusste ich nicht recht, ob ich eher in Richtung Naturwissenschaften oder Philosophie tendiere und habe deshalb beides studiert: Physik und Philosophie. Es war dann aber sehr rasch klar, dass mich die Philosophie mehr interessiert als die Naturwissenschaft, und habe in Philosophie bei Stegmüller promoviert. Stegmüller war überwiegend Wissenschaftstheoretiker; er war aber auch offen für andere Themen der analytischen Philosophie. Mich hat immer die praktische Philosophie besonders interessiert, nicht nur die Wissenschaftstheorie. Als nach der Promotion bei Stegmüller keine Stelle frei war, bekam ich von Herrn Opitz das Angebot, bei ihm Assistent mit dem Schwerpunkt „politische Philosophie“ zu werden, und war dann von 1984 bis 1989 am Geschwister-Scholl-Institut. 1989 habe ich in Philosophie hier in München habilitiert. Ich hatte dann zunächst eine Gastprofessur in Minnesota und erhielt 1990 einen Ruf auf eine C4-Zeitprofessur im Angestelltenverhältnis – etwas recht Ungewöhnliches – am Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Interessanterweise war sie nicht in die philosophische, sondern in die biologische Fakultät integriert, obwohl ich kein Biologe bin. Die Widmung der Professur war „Ethik in den Biowissenschaften“. Für mich war allerdings wichtig, dass ich an der philosophischen Fakultät kooptiert war und dort Lehrveranstaltungen halten konnte. 1992 erhielt ich dann einen Ruf nach Göttingen und einen nach Konstanz. Nach einigem Überlegen habe ich mich entschieden, in Göttingen die Nachfolge von Günther Patzig anzutreten, der ja einer der Pioniere der analytischen Philosophie in Deutschland war, aber anders als Stegmüller den Akzent auf die Rekonstruktion antiker Texte, auf Ethik und praktische Philosophie setzte.

Widerspruch: Wann haben Sie begonnen, sich politisch zu engagieren, und was hat Sie bewogen, in eine politische Karriere als Kulturreferent der Stadt München überzuwechseln?

Nida-Rümelin: Also, politisch engagiert habe ich mich eigentlich seit meiner Jugendzeit, als Schulsprecher usw. Es waren die „Ausläufer“, die letzten Jahrgänge einer doch sehr stark politisierten Generation, während man 15 Jahre danach doch weitgehend politikabstinent war. Als ich mit dem Studium anfing, wollte ich mich weiter politisch engagieren, fand aber die Hochschulpolitik irgendwie langweilig und sehr stark nach innen gerichtet. Deshalb bin ich dann in die SPD eingetreten, und zwar vor allem mit Themen wie Friedenspolitik, Ökologie und Energiepolitik. Ich habe mich dort auch inhaltlich engagiert, etwa für das 1989 beschlossene neue Grundsatzprogramm, und natürlich auch für die Kultur- und Bildungspolitik. Seit meinem 19. Lebensjahr habe ich mich – innerhalb und außerhalb der SPD – politisch engagiert, aber zuvor nie ein politisches Mandat innegehabt.

Die Entscheidung, in München für eine Amtszeit Kulturreferent zu werden – ich bin von meiner Professur in Göttingen beurlaubt –, hat verschiedene Motive. Ein Motiv, warum ich dachte, diese Aufgabe könnte nicht nur für mich persönlich reizvoll sein, sondern auch für die Stadt Sinn machen, war, dass ich die Sprachlosigkeit zwischen Politik und Kunst doch sehr persönlich empfunden habe. Es gab in den 60er und 70er Jahren eine große Auseinandersetzung um den Erhalt dieses Künstlerhauses, die ich nicht vergessen konnte. Wie geht man von politischer Seite mit den Künstlern um? Wie sieht die Situation derer aus, denen die Existenzgrundlagen, ihr Atelier und ähnliches, entzogen werden? Wie also wird zwischen Politik und Kunst kommuniziert? Mein Eindruck war und ist nach wie vor, dass es dort viel Verständigungsprobleme und Interessenkonflikte gibt. Hier zu vermitteln, finde ich eine interessante Zielsetzung. Ob es mir gelingt, weiß ich nicht; aber ich bringe immerhin, einfach aufgrund meiner Biografie, Voraussetzungen mit, die mir das Verständnis leichter machen als anderen.

Das zweite Motiv war, dass ich in der reinen Wissenschaft immer ein Defizit empfunden habe. Speziell in den Bereichen der Philosophie, die sich mit praktischen Fragen befassen, also Ethik, politische Philosophie oder Rationalitätstheorie, sind die zentralen Fragestellungen ja eigentlich nur relevant, wenn auch die Praxisdimension irgendwann in den Blick kommt. Zwar nicht so direkt, dass man sagt, eine Gerechtigkeitstheorie macht nur dann Sinn, wenn ich genau weiß, wie das nächste Steuersystem aussehen muss. Aber solange Diskussionen über Gerechtigkeit oder politische Institutionen, über Legitimation in der Politik oder über die Ethik der Wissenschaft oder der Gentechnik nur die Kreise ansprechen, die als Fachphilosophen oder als Bioethiker ihrerseits ihre Artikel schreiben, – da fehlt doch was. Das Ganze macht doch keinen Sinn, wenn es nicht eine konkrete Auswirkung zeitigt. Also, die „Tatenarmut“ der Wissenschaft und gerade der praktischen Philosophie – in der theoretischen ist dieser Hiatus nicht ganz so dramatisch – hat mich oft gestört, und war sicher auch ein Motiv, in der politischen Praxis, speziell in der kulturpolitischen Praxis, Verantwortung zu übernehmen.

Im übrigen hänge ich ja sehr an der Stadt und wollte mich auch nie ganz ablösen. Hätte ich eine Professur in Berlin oder Hamburg gehabt, hätte ich meinen Lebensmittelpunkt vielleicht dorthin verlegt; aber Göttingen oder Tübingen sind keine Alternative, und so ist München eben mein Lebensmittelpunkt geblieben.

Widerspruch: Der in „praktischer Politik“ erfahrene Theoretiker Niccolò Machiavelli hält es für erforderlich, dass ein Fürst die Moral aus dem Handlungsbereich der Politik ausgrenzen muss, um Erfolg zu haben. Wie begreifen Sie als Spezialist für praktische Philosophie analytischer Provenienz das Verhältnis von Politik und Moral? Wie beurteilen Sie dieses Verhältnis nicht nur theoretisch, sondern auch vor dem Hintergrund Ihrer Erfahrungen mit der zeitgenössischen politischen Kultur der Bundesrepublik?

Nida-Rümelin: Eine Frage, die es in sich hat. Ob Machiavelli dies in letzter Konsequenz so vertreten hat, können wir dahingestellt sein lassen. Seine Theorie des Politischen hat eine starke moralische Komponente, die zwar im Gegensatz zu den üblichen Sittlichkeits- bzw. Moralvorstellungen der Menschen steht, die aber doch, wie ich glaube, den normativen Kern seiner Theorie bildet. Aber lassen wir das einmal ausgeklammert.

Würde die Politik sich selbst wirklich als moralfrei verstehen, dann wären die Formen, in denen der politische Diskurs abläuft und politische Entscheidungsprozesse zustande kommen, überhaupt nicht verständlich. Nehmen Sie ein banales Beispiel: wenn ein Gesetzesentwurf eingebracht wird, dann wird das intensiv diskutiert. Es werden Gründe angeführt, warum dieses Gesetz besser als ein alternativer Gesetzesentwurf ist. Jetzt kann man zwar sagen, dies alles sei Teil eines Machtspiels – nur: Warum bringen die Menschen dann überhaupt diesen Aufwand und diese Energie auf, immer wieder nach Argumenten zu suchen, wenn nicht doch unser Selbstverständnis von politischem Handeln, von politischer Kultur, vom Funktionieren einer Demokratie an die Vorstellung gebunden ist, dass es auch in der Politik ein richtiges und falsches Handeln gibt? Praktisch jede politische Rede dreht sich um die Frage: Ist das richtig, oder ist das falsch? Und zwar nicht richtig, um die eigene Machtsituation zu verbessern oder einer bestimmten Interessensgruppe zu nutzen, sondern richtig simpliciter: richtig gegenüber im Grunde jeder Person und jedem individuellem Standpunkt.

Wenn dies das Selbstverständnis ist, dann kann man zwar immer noch sagen, es beruhe auf einer gigantischen Selbsttäuschung. Ich glaube aber nicht, dass es wirklich so ist. Damit bestreite ich ja nicht, dass ökonomische Interessen vor allem, aber auch andere Interessen, kulturelle Vorurteile usw. eine prägende Rolle in der Politik spielen, und dass die Reichweite des rationalen Arguments durch persönliche Eitelkeiten und ähnliches beschränkt ist. Aber das ganze Projekt politischen Handelns – jedenfalls in der Demokratie mit ihren Begründungsansprüchen – macht nur Sinn, wenn es auch oder im Kern um die Fragen von richtig und falsch geht. Und diese Fragen sind letztlich ethische Fragen. Also steht auch politisches Handeln unter ethischen Kriterien.

Dass es Unterschiede zwischen Regeln gibt, die in der Privatmoral völlig selbstverständlich erscheinen, und Regeln, die die politische Interaktion anleiten, – dies betrifft die Diskussion um die „dirty hands“, wie sie manchmal genannt wird. Das sollte man aber nicht so interpretieren, als sei Politik ein „schmutziges Geschäft“, wie es einem Topos der deutschen Kultur entspricht, die mit ihren antidemokratischen Wurzeln aus der Weimarer Republik noch in die 50er und 60er Jahre hineingereicht haben, sondern die „dirty hands“ sind im Sinne eines vermeintlichen oder tatsächlichen Zwangs innerhalb der Politik zu verstehen, eine gewisse Distanz gegenüber den überkommenen Moralvorstellungen einzunehmen, die im Alltag wirksam sind. Ich glaube, dass der Übergang fließend ist. Es gibt nicht zwei getrennte Bereiche, das Politische mit eigenen Gesetzmäßigkeiten auch des Moralischen und das Private mit eigenen Regeln und Gesetzen des Moralischen, sondern es ist ein Kontinuum, wobei die Akzente jeweils anders liegen. Im privaten Bereich haben wir überwiegend Nahbeziehungen; im politischen Handeln sind Entscheidungen zu treffen, die Menschen betreffen, zu denen ich in der Regel keinen persönlichen Kontakt habe. D. h. ein Gutteil der moralischen Intentionen, die im Nahbereich wirksam werden, sind im Fernbereich nicht mehr vorhanden; die Forderung z.B. nach Gleichbehandlung, nach einem Standpunkt der Fairness, den man gegenüber unterschiedlichen Personen einnimmt, – diese Forderung ist in der Politik strenger als im Privaten. Im Privaten gibt es Bindungen; und das Problem der Korruption hängt zum Teil mit der Übertragung dieser privaten Bindungen in den politischen Bereich zusammen. Dabei denke ich zunächst eher an die Form des Nepotismus, die in Deutschland nicht das Hauptproblem darstellt, sondern eher in lateinischen Ländern. Aber bei uns gibt es vergleichbare Formen. Also: es gibt Unterschiede zwischen dem Politischen und dem Lebensweltlichen; aber die Unterschiede sind nicht so groß, dass es zwei getrennte Sphären wären.

Widerspruch: Seit einigen Jahren werden in der Öffentlichkeit zunehmend die ökonomischen und sozialen Folgen der Globalisierung diskutiert. Im Bereich der Kultur dagegen verbinden viele mit Globalisierung kaum mehr als die seit den 20er Jahren andauernde Überschwemmung des Planeten mit nordamerikanischen Film- und Musikproduktionen und den durch sie transportierten Werten. Was sind die wichtigsten aktuellsten Erscheinungen der zunehmenden Globalisierung der Kultur, und welche Auswirkungen haben sie für Deutschland und Europa?

Nida-Rümelin: Es ist ja interessant, dass die Globalisierung zumeist nicht unter dem Aspekt der Kultur, sondern fast ausschließlich unter wirtschaftlichen, insbesondere finanzwirtschaftlichen, Aspekten diskutiert wird, und die Dimension einer sich entwickelnden globalen Kultur auch mit ihren Problemen gar nicht in den Blick kommt. Gegenwärtig können wir zwei vermeintlich gegenläufige Tendenzen deutlich beobachten. Einmal die Tendenz der Angleichung von kulturellen Prägungen. Ich denke da z.B. an die internationale Rolle der Popmusik, eines zentralen Teils der weltweiten Jugendkultur. Diese verändert sich durch Adaption, wenn man so will. So gibt es im arabischen Kulturbereich eine Adaption an eine bestimmte Form der Musiktradition, die dort verbreitet ist, die aber dann immer noch Pop-Musik bleibt. Auch in Ostasien gibt es ähnliche Phänomene. Aber man kann doch sagen, dass sich eine Musiksprache entwickelt, die von Angehörigen ganz unterschiedlicher Kulturen, Religionen, Ethnien usw. verstanden wird. Das ist jedoch nicht nur ein harmloses und erfreuliches Phänomen; denn dahinter steckt mehr. Es erfasst ja nicht nur die Eingeweihten und Interessierten, wie das bei einem Teil der zeitgenössischen E-Musik der Fall ist, die noch viel internationaler und unabhängiger von regionalen und kulturellen Prägungen ist, sondern es umfasst ganze Bevölkerungsteile, praktisch vollständig, Generationen. Damit entsteht aber nicht automatisch die Basis einer internationalen, interkulturellen Verständigung, sondern auch eine zunächst gegenläufig erscheinende Tendenz: Völlig parallel dazu entsteht offenbar eine Sehnsucht nach dem Eigenen.

In der westlichen Philosophie ist dieses Phänomen, von den USA ausgehend, unter dem Stichwort „Kommunitarismus“ schon seit mehreren Jahren diskutiert worden. In bestimmten Kulturkreisen – im islamischen, aber nicht nur dort – gibt es heftige Abwehrbewegungen gegen diese sich globalisierende Kultur, die sich nicht nur gegen die Popkultur, sondern überhaupt gegen eine sich vereinheitlichende Kultur der Lebensform wendet. Man versucht, das Eigene dadurch zu retten, dass Abgrenzungen gegenüber den Einflüssen vorgenommen werden, die als schädlich empfunden werden, wie das in den antiwestlichen Einstellungen z.B. der islamischen Fundamentalisten geschieht. Diese beiden Tendenzen scheinen mir aber weniger gegenläufig als komplementär zu sein: sie gehören zusammen. Und die Kunst der weiteren – letztlich – Weltkulturpolitik wird darin bestehen, beiden Tendenzen Raum zu geben: der Vergewisserung des Eigenen und der Anerkennung von Differenz einerseits und der Entwicklung eines gemeinsamen Kerns einer Weltkultur oder – ich verwende lieber den Ausdruck von Rawls – eines overlapping consensus über normative Inhalte, über kulturelle Prägungen und die Akzeptanz bestimmter Regeln, mit denen wir Differenzen aushalten können, andererseits. Kulturelle Globalisierung und Vergewisserung des Eigenen sind gewissermaßen, so sehe ich das, zwei Seiten derselben Medaille.

Widerspruch: Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Bedeutung der Philosophie im kulturellen Raum?

Nida-Rümelin: Wir leben ganz zweifellos in einer Boom-Phase der Philosophie. Das äußert sich nicht so sehr darin, dass auch in der Universität das Interesse an Philosophie eher gestiegen als gesunken ist, und dass insbesondere der Bereich der praktischen Philosophie in den letzten Jahren, die „Bereichsethiken“, sich gewaltig ausgedehnt hat; stärker in den USA als in Europa, aber mit ähnlicher Tendenz. Ich beobachte auch ein deutlich gestiegenes Interesse außerhalb der akademischen Welt an philosophischen Fragen, zum Teil in Abwehr zur Universitätsphilosophie. Aber ich halte diese Attitüde für problematisch und mache deshalb eine philosophische Gesprächsreihe, bei der die Bedürfnisse an philosophischen Fragen auch derer, die nie Philosophie studiert haben, ernst genommen werden, aber zugleich Referenten gewonnen werden, die sich beruflich mit Philosophie beschäftigen, die also aus dem Hochschulbereich kommen, um das Gespräch auch mit den entsprechenden Informationen zu füttern, die einfach nötig sind, um einen Standpunkt zu vertreten, der wohlbegründet ist.

Der kulturelle Hintergrund dieses Phänomens lässt sich vielleicht folgendermaßen umschreiben. Philosophie tritt in der Geschichte des – jedenfalls westlich-abendländischen – Denkens immer dann besonders deutlich in Erscheinung, wenn die Gesellschaft sich im Umbruch befindet und Menschen auf rationalem Wege versuchen, neue Orientierung zu gewinnen. Natürlich gibt es andere Formen, Orientierung zu gewinnen, die mit der Philosophie konkurrieren, z.B. fundamentalistische Weltanschauungen, Religionen oder Religionspraktiken unterschiedlicher Art, die auch Gewissheit vermitteln und genau sagen, was richtig ist und was falsch. In einer pluralen Gesellschaft, einer Gesellschaft der kulturellen Differenz und der zunehmenden Globalisierung, sind dies aber in der Regel unzureichende Formen, Orientierung zu geben, weil es den Rückzug bedeutet, den Ausstieg aus der Kommunikation und der Verständigung. Darin glaube ich liegt die Faszination der Philosophie wie vor 2500 Jahren in der griechischen Klassik – auch einer Gesellschaft im rasanten Umbruch mit viel Immigration und Emigration. Philosophie entsteht ja vor allem in den Kolonien, den griechischen Siedlungsgebieten im östlichen Mittelmeerraum. Dann die interessante Umbruchphase beim Ausklingen des Mittelalters durch den Verfall der theologischen Ordnungsmacht und einer erneuten Blütephase der Philosophie. Die Renaissancephilosophie, die als nova scientia aufkommt und mit Konjunkturen bis in der Aufklärungsphilosophie anhält. Sie ebbt dann gerade im praktischen Bereich ab – typischerweise tritt die praktische Philosophie im Laufe des 19. Jahrhunderts zurück –; und jetzt, im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, entwickelt sich wieder eine Blütephase der Philosophie. Die Gesellschaft ist erneut im Umbruch, sie sucht nach Orientierung. Sie findet diese Orientierung überwiegend, jedenfalls in den westlichen Industriestaaten, nicht in traditionalistischen und fundamentalistischen Auffassungen. Die Esoterik hat, so glaube ich, ihren Höhepunkt längst hinter sich und damit auch der Ausstieg aus dem rationalen Diskurs, auch wenn das jetzt recht pauschal klingt. Dieser Diskurs aber macht die Philosophie so faszinierend und im kulturellen Leben gegenwärtig. Darauf sollte die Universitätsphilosophie reagieren, ohne sich anzubiedern: durch Öffnung und durch Gesprächsangebote, und sich nicht zurückziehen in die akademischen Schutzgebiete, in denen diese öffentlichen Ansprüche und Fragen selten gestellt werden.

Widerspruch: Herr Nida-Rümelin, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Manuel Knoll führte das Gespräch für den Widerspruch.

Wagner – Abenteuer der Moderne

Thomas Wagner

Abenteuer der Moderne

Die großen Jahre der Soziologie 1949–1969

geb., 330 Seiten, 28,- €
Stuttgart 2025, Klett-Cotta Verlag

von Konrad Lotter

Thomas Wagner erzählt die Geschichte der deutschen Nachkriegs-Soziologie als einen Prozess, der von Gegensätzen ausgeht, die sich innerhalb von 20 Jahren über verschiedene Stufen hinweg zunächst auflösen, wobei es zu gewissen Annäherungen, zu allen möglichen Formen der Zusammenarbeit und sogar zu persönlichen Freundschaften kommt. Am Ende der „großen Jahre“ allerdings brechen, wie er weitererzählt, die alten Gegensätze unter veränderten Verhältnissen und in veränderter Form wieder auf. Im Zentrum des Buches steht dabei die Beziehung von Th. W. Adorno als Repräsentant der 1949 aus der Emigration zurückgekehrten Antifaschisten und Arnold Gehlen, der 1933 das „Bekenntnis deutscher Professoren zu Adolf Hitler“ unterschrieben und während des „Dritten Reiches“ eine „Traumkarriere“ gemacht hatte.

Eine erste „Begegnung“ der beiden fand bereits am Ende der Weimarer Republik statt. Adorno hatte sich bei dem religiösen Sozialisten Paul Tillich mit seiner Arbeit über Kierkegaard habilitiert. Tillich, der sich mit einer Kritik am aufkommenden Nationalsozialismus hervorgetan hatte, wurde sofort nach der „Machtergreifung“ aus dem Staatsdienst entlassen. Seine Professur erhielt vertretungsweise Gehlen. Wie seinem Lehrer war auch Adorno die Universitätskarriere versperrt, er emigrierte zuerst nach England, dann in die USA. Gehlen wurde dagegen auf den Lehrstuhl seines ebenfalls entlassenen jüdischen Doktorvaters Hans Driesch in Leipzig berufen, später auf den Kant-Lehrstuhl in Königsberg und zuletzt an die Universität in Wien.

Von den acht Lehrstühlen für Soziologie, die 1949 nach dem Ende der Diktatur ihre Arbeit aufnahmen, waren drei von zurückgekehrten Emigranten oder ausgewiesenen Gegnern des Nationalsozialismus (Max Horkheimer, der zunächst von Adorno nur vertreten wurde, René König, Otto Stammer), drei von ehemaligen Nazis (Arnold Gehlen, Helmut Schelsky, Gerhard Mackenroth) besetzt, die nach kurzer „Entnazifizierung“ wieder eingestellt wurden und weiterlehren durften. Das gegenseitige Misstrauen war, wie Thomas Wagner berichtet, groß; beide Seiten fühlten sich voneinander ausspioniert. Schon Anfang der 50er Jahre allerdings, im Zuge der Adenauerschen Politik des Kalten Krieges, der Aufrüstung und der Frontstellung gegen Stalin und die Sowjetunion, die beide Seiten unterstützten, war der Boden ihrer Annäherung bereitet.

Noch überwog freilich die Feindschaft. Durch „vernichtende Gutachten“ verhinderten Horkheimer und Adorno die Berufung Gehlens nach Heidelberg. Adorno stützte sich dabei vor allem auf die Zuarbeit und das Urteil seines damaligen Assistenten Jürgen Habermas. Habermas hatte bei dem Faschisten Erich Rothacker, dem Organisator der „Bücherverbrennungen“ 1933, promoviert, hatte versucht, (in Fortführung der „Kritischen Theorie“) die Marxsche Theorie weiterzuentwickeln, stieß dabei aber auf die Ablehnung von Horkheimer, der sich von diesen Anfängen inzwischen entfernt hatte. In dessen Person zeigt Thomas Wagner die langsame Durchlässigkeit der Grenzen zwischen ehemaligen Faschisten und Antifaschisten. Horkheimer pflegte Kontakte nicht nur zu Adenauer, sondern auch zu dem Bankier Hermann Joseph Abs, der Himmler nahegestanden war, unterstützte (durch Gutachten) den „Parteigenossen“ Bruno Liebrucks und den Rasseforscher Karl Valentin Müller. Er versuchte sogar, die Nazi-Propagandistin Elisabeth Noelle-Neumann, die in der Nachkriegszeit als Demoskopin große Anerkennung fand, zur Mitarbeit im „Institut für Sozialforschung“ zu gewinnen. Habermasʼ marxistisch-orientierte Ablehnung von Gehlen (in dessen Soziologie seiner Ansicht nach „das gesamte Instrumentarium des Faschismus … beisammen“ ist) erscheint umso bemerkenswerter, als sie der ebenfalls marxistisch-orientierten Begeisterung für Gehlen von Seiten des philosophischen Jung-Stars aus der DDR, Wolfgang Harich, gerade entgegengesetzt ausfiel. Harich hielt Gehlens 1940 erschienenes Werk Der Mensch (in zweiter Auflage von Anpassungen an NS-Jargon und -Ideologie gereinigt) für eine Leistung, die für die systematische Ausarbeitung einer marxistischen Anthropologie unverzichtbar sei. Er suchte die Freundschaft Gehlens und setzte sich (vergebens) sogar dafür ein, ihn an die Ostberliner Humboldt-Universität zu berufen.

Eine Zäsur in der Beziehung zwischen Adorno und Gehlen bildete das Jahr 1960, in dem Gehlens Zeit-Bilder erschienen. Mit seinem Untertitel Zur Soziologie und Ästhetik der Moderne beinhaltete es ein Plädoyer für die abstrakte Malerei und überhaupt die Kunst der Avantgarde, in dem Adorno Übereinstimmungen mit seiner eigenen Kunstanschauung entdeckte. Es kam darüber gewissermaßen zu einem Bündnis nicht nur gegen den verbreiteten Publikumsgeschmack (der zu dieser Zeit der Ablehnung der „entarteten Kunst“ durch die Nazis noch ähnlich war), sondern auch gegen die reaktionäre Ablehnung der Avantgarde durch Hans Sedlmayr, der die Abkehr der Kunst von der Religion als Verlust der Mitte beklagte. Einig waren sich beide auch in der Ablehnung von Heidegger, dem „Yogi von Freiburg“ (Gehlen) und Schwadroneur des „Eigentlichkeit“ (Adorno). Dissens bestand dagegen in Bezug auf Hegel, von dem sich (nach Gehlens Ansicht) nichts mehr lernen ließ. Im Gegensatz zu Günter Anders oder René König, die mit dem ehemaligen Nazi nichts zu schaffen haben wollten, entwickelte sich zwischen Adorno und Gehlen eine gewisse Freundschaft mit privaten Essenseinladungen (samt Ehefrauen) und Ausflügen (in Gehlens VW).

Auf dieser Grundlage kam es zu den denkwürdigen „Streitgesprächen“, die 1964 /65 im Südwestfunk, späterhin auch im WDR-Fernsehen übertragen wurden. Unter Wahrung kollegialer Achtung stritt man zum einen über die Frage, ob sich im Deutschland der Nachkriegszeit eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ breitgemacht habe, für die die Marx‘sche Klassenanalyse nicht mehr greift (so Gehlen im Anschluss an Schelsky), oder die Gesellschaft weiterhin nur als Klassengesellschaft angemessen begriffen werden kann. Zum anderen stritt man über die Bedeutung gesellschaftlicher Institutionen, die von Menschen geschaffen, sich den Menschen gegenüber aber verselbständigt und Macht über sie gewonnen haben. Gehlen, der die Menschen als (biologische) „Mängelwesen“ dargestellt hatte, begriff die Institutionen als „Entlastung“, ohne die die Menschen innerhalb der Industriegesellschaft nicht überleben und sich entwickeln könnten. Freiheit sei nur innerhalb und unter der Voraussetzung und Akzeptanz der bestehenden Entfremdung möglich. Adorno betonte dagegen den repressiven Charakter der Institutionen, die den Menschen im Zustand der Unmündigkeit halte und forderte, die verselbständigten Institutionen wieder unter die Kontrolle der Menschen zu bringen.

Wagners Buch besticht durch seine weite Perspektive und seinen ungeheuren Detailreichtum. Es erzählt die Geschichte der Soziologie in ihrem Bezug auf die Kehrtwendungen und auch auf die Skandale der Politik (Spiegel-Affäre u.a.), auf die wachsende Bedeutung der Massenmedien für den wissenschaftlichen Diskurs und berücksichtigt nicht zuletzt die Biografien und Karrieren einzelner Soziologen. Eine eminente Rolle spielt darin selbstverständlich auch der wirtschaftliche Aufschwung des „Wirtschaftswunders“ und seine Auswirkungen auf die rasanten Veränderungen der Lebenswelt, was die Bedeutung der Soziologie steil ansteigen ließ. 1960 gab es nicht mehr nur 8, sondern bereits 25 Lehrstühle für Soziologie, die Zahl der Studenten an der Frankfurter Universität stieg von 60 (1955) auf 626 (1968). Bundesweit verdreifachte sich ihre Zahl von 1897 (WS 1963/64) auf 5593 (WS 1970/71). Soziologische Bücher wurden zu Bestsellern, zunächst noch mehr von Gehlen und Schelsky als von Adorno und Habermas. Von der Soziologie erwartete man Antworten auf die drängenden Fragen der Industriegesellschaft.

Hatten sich Adorno und Gehlen zunächst einander angenähert, miteinander diskutiert und partiell zusammengearbeitet, so brach im Zuge der Studentenrevolte die alte Feindschaft wieder auf. Dem 16. Kongress der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ im April 1968 zum Thema Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft, der mit 1300 Teilnehmern in der Frankfurter Messehalle abgehalten wurde, blieb Gehlen fern. Während die Studenten neben den Klassikern des Marxismus zunehmend auch die Anarchisten (Bakunin, Kropotkin, Mühsam u.a.) lasen und praktisch-politische Konsequenzen daraus zogen, geriet der Konservative Gehlen, der sich zusammen mit anderen konservativen Professoren im „Marburger Manifest“ den Mitbestimmungs-Ansprüchen der Studenten widersetzte, zunehmend in die Isolation. Er warf dem „liberalen Halbmarxisten“ Adorno vor, die bis dahin überwiegend braven Studenten mit seinen utopischen Idealen zur Revolte angestachelt zu haben. Die Revolte richtete sich zuletzt allerdings auch gegen Adorno selbst, der, als das soziologische Institut von Studenten besetzt wurde, die Polizei zur Hilfe rief und seine Vorlesung abbrach, als er dafür zur „Rechenschaft“ gezogen und zur Entschuldigung aufgefordert wurde. Von den Krawallen gesundheitlich stark angeschlagen, verstarb Adorno im Sommer 1969.

Die „großen Jahre der Soziologie“ hatten, wie Thomas Wagner ergänzt, ein erfreuliches politisches Nachspiel. Bei der Bundestagswahl 1969 scheiterte die NPD, die bereits in verschiedenen Landesparlamenten gesessen hatte, an der 5%-Hürde. Der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, wie Gehlen ehemaliges Parteimitglied der NSDAP, verlor die Wahl. An seiner Stelle wurde Willy Brandt, der wie Adorno 1933 vor dem Nationalsozialismus geflohen und ins Exil gegangen war, zum Bundeskanzler gewählt.

Von großem Interesse sind zuletzt auch noch Wagners Schlussbemerkungen über die Rezeption Gehlens nach dem Ende der „großen Jahre“. Auf der einen Seite wurde Gehlen von den rechtsgerichteten Zeitschaften Criticon und Sezession als ein „unabgegoltener Denker“ entdeckt und dem Studium empfohlen. Mit seiner Propagierung staatlicher Ordnung und autoritärer Strukturen (wobei er zuletzt noch in der Sowjetunion ein Vorbild gesehen hatte) stieg Gehlen auf diesem Wege zum Vordenker der Neuen Rechten auf. Auf der anderen Seite wandte sich Wolfgang Harich, der langjährige Freund und Bewunderer Gehlens (der dessen Werke Georg Lukács und Bert Brecht dringend zum Studium empfohlen hatte) enttäuscht von ihm ab. Ab 1986 sieht er in ihm nur noch den Plagiator des jüdischen Mediziners und Anthropologen Paul Alsberg und dessen Buch Das Menschheitsrätsel (1922): einen Ganoven, der einem Verfolgten des Nazi-Regimes „den rationalen Kern seines Hauptwerkes gestohlen“ hat.

Joas – Universalismus

Hans Joas

Universalismus

Weltherrschaft und Menschheitsethos

geb., 975 Seiten, 48,- €

Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025

von Robert Lembke

Will, wer „Menschheit“ sagt, betrügen, wie einst der Anarchist Proudhon insinuierte? Nicht, wenn es nach Hans Joas geht: Ganze 900 Seiten widmet der Soziologe mit dem theologischen Profil einer Analyse dessen, was er „moralischen Universalismus“ nennt: Das Bewusstsein dafür, dass allen Menschen ein unhintergehbarer Wert zukommt, auch jenseits der eigenen Gruppe und unabhängig von Interessen und Situationen.

Nicht unbedingt erleichtert wird das Verständnis dadurch, dass das gewichtige Buch den Abschluss einer Trilogie bildet: Hatte Joas im ersten Band nach der „Macht des Heiligen“ gefragt und – der gängigen These einer unumkehrbaren Säkularisierung entgegentretend – ihre vielfältigen Transformationen in der Moderne aufgesucht, bezog er sich im zweiten Band, „Im Bannkreis der Freiheit“, kritisch sowohl auf Hegel als auch auf Nietzsche und versuchte, ein alternatives Religionsverständnis zu entwickeln, das um den Begriff der „Selbsttranszendenz“ und seine ethischen Implikationen kreist.

Im dritten Band nun sind für Joas die Quellen des moralischen Universalismus untrennbar mit der „Achsenzeit“ (800 v. Chr. bis 200 n. Chr.) verbunden. Mit Karl Jaspers, Robert Bellah und anderen sieht er in diesem langen geschichtlichen Zeitraum erstmals ein Menschheitsethos aufscheinen, dessen vielfältige Ausdrucksformen und Wandlungen die weitere Geschichte mitbestimmt haben. Die moralischen Universalismen in Indien, China, dem antiken Griechenland und im Judentum seien eine „kontingente schöpferische Reaktion“ (81) auf den Eroberungs- und Anpassungsdruck antiker Imperien gewesen – wobei sich hier relativ zu Beginn die interessante Pointe ergibt, dass sich drei davon, nämlich der indische, jüdische und griechische moralische Universalismus, der Expansion des antiken persischen Weltreichs „verdanken“. Damit ist zugleich auch der weltgeschichtliche Gegenspieler des Menschheitsethos benannt – der „politische Universalismus“ machthungriger Staaten, die stets bestrebt sind, ihren Herrschaftsbereich zu vergrößern und der eigenen Weltanschauung notfalls mit Gewalt Geltung zu verschaffen.

Die Quellen des moralischen Universalismus werden zunächst aufgesucht in der jüdischen Prophetie, im antiken Griechenland – weniger in Demokratie (nicht konsequent implementiert) und Philosophie (Platon und, etwas überraschend, Aristoteles kommen sehr schlecht weg) als vielmehr in der Tragödie, die Joas allerdings an einem einzigen Werk, Aischylos’ „Die Perser“, exemplifiziert – sowie in Indien (Buddhismus) und China (Konfuzianismus). Schon hier ist Joas’ Bemühen um eine Abkehr vom Eurozentrismus zu verspüren, die ebenso wie seine immer wiederkehrende Auseinandersetzung mit postkolonialen Argumenten sicherlich positiv zu bewerten ist.

Charakteristisch für seine Arbeit ist außerdem der methodische Ansatz, seine eigenen Gedanken über weite Strecken in Abgrenzung und Vergleich mit den Soziologen Max Weber und Ernst Troeltsch zu entwickeln – ein m.E. nicht immer nur produktives Vorgehen, das das Buch teilweise unnötig verlängert, gerade wenn man sich die teils harsche Kritik an den Autoren (mehr an Weber als an Troeltsch) vor Augen führt. Hier wie fast durchgehend zeigt sich Joas jedoch vor allem als stark vom akademischen Umfeld geprägter, skrupulös-relativistischer Denker, der neben stupender Gelehrsamkeit auch mit immensem philologischen Eifer aufwartet – da werden ein ums andere Mal handschriftliche Anmerkungen in abseitigen Werken beigebracht, und es wäre ohne Weiteres möglich, eine Liste von 20 Autoren anzuführen, deren Namen auch Diskursteilnehmern kaum bekannt sein dürften, denen Joas jedoch entscheidende Impulse zuspricht.

Zurück zur Argumentation: Von Anfang an steht der moralische Universalismus unter dem Druck politischer Mächte; in Indien kann der Buddhismus niemals wirklich Fuß fassen und wandert aus, der Konfuzianismus ist der Sonderfall einer „konfessionslosen“, d.h. nicht institutionalisierten und mit anderen Einflüssen teilweise bis zur Unkenntlichkeit sich vermischenden, Religion ohne Kirche, und das geschichtliche Schicksal des Judentums ist weithin bekannt. Umso interessanter muss in der Rückschau der Sonderfall des Christentums erscheinen, das – vermittelt über Paulus als zentrale Figur – eine „Fusion seines religiös-moralischen Universalismus mit dem politischen Universalismus des Imperiums“ (271) zustande brachte und dieses Imperium, das römische, bekanntlich sogar überlebte.

Die wechselvolle Geschichte des Verhältnisses von christlicher (Staats)Religion und den Nachfolgeregimen Roms, wie sie Joas rekonstruiert, kann hier nicht nachgezeichnet werden. Ausdrücklich seien jedoch die diffizilen Kapitel zu Augustinus, zum Dualismus von weltlicher und geistlicher Macht oder zur sogenannten organischen Sozialethik, gipfelnd in Dantes utopischer Vision einer christlichen Universalmonarchie, dem geschichtlich und philosophisch interessierten Leser zur Lektüre empfohlen – Joas befindet sich hier offenbar auf ureigenstem Terrain und kann mit einer Fülle interessanter Befunde und Einsichten aufwarten, immer akribisch situiert und eingeordnet in den diskursiven Strom aktueller Forschung und Diskussion. Ein Beispiel sei trotzdem angeführt, nämlich die Beschreibung der Art und Weise, wie das Christentum in der Eucharistiefeier die archaische Praxis des Opfers (von Menschen, Tieren oder Dingen) in einer Weise transformiert, die an Hegels dialektische „Aufhebung“ erinnert: ein Prozess, in dem eine Sache zugleich beendet, erhöht und bewahrt wird.

Mit dem Ende des Mittelalters entsteht ein zweiter Strang des moralischen Universalismus, der aus den Naturrechtsdebatten des Mittelalters hervorgehende Menschenrechtsdiskurs. Als zentrale Figur macht Joas den Dominikaner Bartolomé de Las Casas aus, der, selber anfänglich spanischer Kolonialist im neu „entdeckten“ Amerika, sich mehr und mehr gegen die Gewalt an und Ausbeutung der indigenen Bevölkerung wendet: „In den folgenden Jahren verstärkte sich bei ihm die Identifikation der Indios mit dem gequälten und gekreuzigten Christus gemäß dessen Lehre, ihn jederzeit in den Geringsten unter den Mitmenschen zu sehen“ (460). Freilich bleibt Las Casas’ lebenslanges Engagement weitgehend folgenlos, wie sowohl er selbst als auch Joas keineswegs leugnen – wohl aber nicht vollkommen wirkungslos: Denn von hier führt eine Linie über Zwischenstationen zu den Menschenrechtserklärungen der Amerikanischen und Französischen Revolution, die in ihrer Interdependenz sowie im Zusammenhang mit den Weltgeschehnissen genauestens analysiert werden. Dabei setzt sich Joas immer wieder in bewundernswerter Weise mit der postkolonialistischen Frage auseinander, ob denn nicht diese angeblich universalen Menschenrechte angesichts ihrer unauflöslichen Verstrickung mit dem Kolonialismus – dem nach Dauer und Opferzahl wohl größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte – nicht wertlos seien; oder schlimmer noch, ob sie als ‚Feigenblatt‘ des politischen Universalismus (Joas vermeidet den Begriff „Imperialismus“ wegen dessen Engführung bei Lenin) nicht sogar gegenteiligen Zielen dienten. Joas arbeitet sich an dieser Frage sehr intensiv ab, verneint sie jedoch letztlich.

Weniger überzeugen kann Joas‘ Auseinandersetzung mit der Moderne. Die Aufklärung und die mit ihr verbundene Zurückdrängung religiöser Prägungen und Vorstellungswelten zeichnet er als europäischen Sonderweg, der „in hohem Maße kontingent“ (525) gewesen sei. Über die wesentlichen Treiber dieser Entwicklung, nämlich (Natur)Wissenschaft und Technik, redet Joas freilich nicht. Stattdessen betont er, dass sich jede moralische und rechtliche Hochschätzung des einzelnen Menschen als Individuum religiösen Quellen verdankt („Sakralität der Person“) – jedoch sozusagen mit dem Geburtsfehler, dass Angehörige bestimmter subalterner Gruppen in so gut wie allen Kulturen gar nicht erst als Individuen in den Blick kommen: „Wir müssen deshalb dem Sachverhalt ins Auge sehen, daß der menschheitsgeschichtliche Fortschritt hin zu einer rechtlichen Kodifikation moralisch-universalistischer Forderungen selbst im Akt dieser Positivierung mit neuen Formen der Einschränkung dieses Universalismus verbunden war“ (549). Hatte Proudhon – „wer Menschheit sagt, will betrügen“ – also doch recht?

Damit sind wir im Prinzip in der Gegenwart angekommen. In relativ geschlossenen Einzelkapiteln widmet sich Joas gewohnt detail- und kenntnisreich dem Faschismus (als direkter Negation jedes moralischen Universalismus), der Bürgerrechtsbewegung in den USA, dem indischen Unabhängigkeitskampf und dabei insbesondere Gandhi, Mao Zedong (und dem Maoismus als radikalster Form eines antireligiösen Universalismus) sowie dem Islam.

Das alles kann hier nicht nachgezeichnet werden, sei aber zur Lektüre wiederum ausdrücklich empfohlen. Drei Aspekte möchte ich hier herausheben: Erstens die lehrreiche Pointe, dass die „Allgemeine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ von 1948 als direkte Reaktion auf die Erfahrung des Faschismus zu verstehen ist; und dass sie keineswegs „ein westliches Oktroi“ (606) darstellt, wie Joas brillant herausarbeitet. Im Gegenteil geht der Wortlaut im Wesentlichen zurück auf den libanesischen Politiker und Intellektuellen Charles Malik (1906-1987) und den chinesischen Philosophen und Kosmopoliten Peng-chun Chang (1897-1957). Zweitens die Rolle von Mahatma Gandhi, der mit seiner Lehre der „ahimsa“ (Gewaltlosigkeit) und den damit verbundenen Formen des Widerstands sozusagen zum prototypischen Helden von Joas’ moralischem Universalismus wird – und übrigens als Vorbild und Ideengeber die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und Martin Luther King stark beeinflusste. Und drittens die staunenswerte Perspektivierung und Rehabilitierung des Islam, der – mit Unterstützung des amerikanischen (!) Religionshistorikers Marshall Hodgson (1922-1968) – von Joas sozusagen in den weltgeschichtlichen Strom des moralischen Universalismus, nun auch „interreligiöser Universalismus“ genannt, eingemeindet wird.

Bei aller Bemühung um die Verdienste des moralischen Universalismus, etwa die Hochschätzung von Augustinus, Dante oder Martin Luther King, kann man nicht übersehen, welch beschränktes Potenzial moralische Ideale für Joas letztlich haben. Ihr geschichtlicher Aufschwung ist zeitlich und räumlich begrenzt und verdankt sich einmaligen Konstellationen sowie besonderen Individuen, die ihre schöpferische Leistung auffällig oft mit dem gewaltsamen Tod bezahlen. (Man kann daher kritisch fragen, woher die heutigen bedrängten Individuen die Inspiration und Kraft zu solch hochfliegenden und persönlich riskanten Aufschwüngen überhaupt nehmen sollen.) Zudem hat die Geschichte in Joas’ Sicht, jedenfalls in Europa, eine falsche Abzweigung, die des Säkularismus, genommen, an dessen diskursiver Korrektur er als Autor nun tatkräftig mitwirkt – stellenweise liest sich sein Text denn auch wie die Einlösung von Habermas’ Anfang der 2000er Jahre ausgerufener „postsäkularer Wende“ mit ihrem Aufruf zur Revitalisierung religiöser Sinnbestände.

Wenn man sich die aktuellen kulturkämpferischen Frontlinien anschaut, wie sie zum Beispiel in den USA verlaufen – Stichwort MAGA, Wissenschaftsfeindschaft und Deliberalisierung –, kann man große Zweifel haben, ob diese Intervention, so verdienstvoll sie ist, in die richtige Richtung weist. Die Rückkehr zu wie immer gewandelten Traditionsbeständen – ganz im Sinne von Malrauxs angeblichem Diktum: „Das 21. Jahrhundert wird religiös sein oder es wird nicht sein“ – führt nicht selten zu politischen Ideologien, die einmal erreichte zivilisatorische Fortschritte und Freiheitsrechte fröhlich und rücksichtslos missachten. Zudem wäre, selbst wenn es gelänge, sich auf Weltebene auf einen allgemein akzeptierten Satz universeller moralischer Normen zu einigen, noch die ganz praktische Frage zu klären, wie man sie – modern und ironisch gesprochen – in ‚Humankapital‘ implementiert‚ ohne die Zwangszivilisierung der Vergangenheit zu wiederholen.

Mir scheint Joas daher eher das Symptom einer Art utopischen Schließung zu sein, die das Schicksal der Menschheit ungewollt dem Voluntarismus und der Technologie in die Hände legt. Wenn es daraus offenbar kein Entrinnen gibt, bleibt nur, sich mit den Abziehbildern der Vergangenheit zu trösten – wie ohnehin Joas’ ganze Geschichte unrettbar vergangenheitsfixiert ist und die Gegenwart des 21. Jahrhunderts auch zum Ende hin kaum in den Blick bekommt. Es gibt ja auch Universalismen des Geldes, der Technologie, der Wissenschaft etc., die auch ihre Fürsprecher und Agenten haben, aber verdeckter operieren und sich um die Ideengeschichte wenig bis gar nicht scheren. Möglicherweise ist das Zeitalter der Moral – das zudem an das im Rückgang befindliche Medium der Schrift gebunden sein könnte – sogar schon zu Ende, und das Zeitalter des Bildes, der Codes und der Automatisierung hat längst begonnen.