Wie es begann …

EDITORIAL (Heft 1/81)

‚Wieder mal eine Zeitschrift von frustrierten Philosophen für frustrierte Philosophen. Wer weiß, wie lange die sich diesmal hält’, werden einige von Euch denken. Auch wir wissen es nicht. Aber eines wissen wir: die bloße Kritik an den Zuständen im herrschenden Lehrbetrieb, die aufkommende Frustration über die Sinnlosigkeit des „Philosophierens“ in den Seminaren genügt nicht als solide Grundlage für die Arbeit an einer Zeitschrift. Blinder Aktionismus nach dem Motto ‚Tu irgendwas, aber tu was’ reicht vielleicht hin, um eine Zeitschrift zu gründen und eine Zeit lang sein Publikum für den eigenen aufgestauten Unmut zu finden; aber diese Unmittelbarkeit des Handelns trägt nicht; sie hat schon den Keim des Untergangs in sich, wie es in der Sprache der Philosophen so anschaulich heißt.

Für eine Zeitschrift – und erst recht für eine alternative zum herrschenden Lehrbetrieb – braucht es ein Programm. Und das haben wir! Ein klares, nachvollziehbares und festumrissenes Programm, das wir Euch vorstellen wollen.

Philosophie – wofür?

Beginnen wir zunächst mit der zweiten Frage, die seit eh und je an die Philosophie gerichtet worden ist. Nicht: „Was ist eigentlich die Philosophie?“ – die spezifische Aneignung der Welt als Totalität –, sondern: „Was soll Philosophie?“ Wozu ist sie eigentlich gut? – Eine berechtigte Frage. Sie ist sogar so berechtigt, dass sie nicht nur immer wieder die Philosophen stellen, sondern alle die arbeitenden Menschen, die wissen wollen, was sich Philosophen da mit ihren Geldern eigentlich alles ausdenken, und was damit anzufangen ist.

Philosophie ist für die Philosophie nicht das Letzte. Sie hat ihren Sinn und Zweck nicht in sich, sondern muß sich in ihrem Tun vor der Gesellschaft verantworten und an deren Bedürfnissen und Interessen orientieren. Wie jede Arbeit, so ist auch die philosophische zugleich gesellschaftliche Arbeit. Im Grunde ein so selbstverständlicher und naheliegender Gedanke, dass er den meisten unserer Philosophen aufs Höchste suspekt ist.

Einiges über das „Münchner Philosophieren“ oder die Selbstgenügsamkeit der Philosophie

Leugnet man diese Erkenntnis, geht man also vom ‚immanenten Zweck’ der Philosophie, von der Philosophie als Selbstzweck, aus, dann befinden wir uns schon auf dem besten Wege, uns der gesellschaftlichen Realität zu entheben und in die lichten Höhen der „Münchner Philosophie“ zu entschweben. Aus der lebendigen Wirklichkeit gelangen wir in das tote Reich der verschiedenen Geister, setzen an die Stelle der realen Auseinandersetzung und des wirklichen Lebens die Stille der geistigen Versenkung in eine längst vergangene Gedankenwelt. Die lebendige Unruhe wird ersetzt durch „eine dem philosophi­schen Geist nicht gerade günstige Bravheit“, wie ein zeitge­nössischer Philosoph die gegenwärtige Situation unserer Philosophie zurecht schildert.

Diese Abstraktion und Trennung der „geistigen Welt“ von der Wirklichkeit aber erzeugt nichts anderes als einen ganz unwirklichen Schein der Selbstgenügsamkeit. An die Stelle wirklicher Befriedigung tritt eine Scheinbefriedigung in der Entrückung und Entzückung an jener geistigen Welt, die nur ein paar weltferne Studenten der Philosophie auf die Dauer in ihren Bann ziehen kann. Aber für die anderen führt diese untragbare Kluft zwischen einer Welt der Unsicherheit, der physischen und psychischen Verarmung, der Arbeitslosigkeit und der Kriegsgefahr einerseits und der heiteren, unbeschwerten, mit sich zufriedenen Gedankenwelt der Philosophen andererseits zu einem Widerspruch, den selbst der Stärkste nicht langer auszuhalten vermag, und der ihn am Sinn der Philosophie zweifeln lässt.

Dieser Widerspruch ist jedoch keineswegs das Problem der Philosophie insgesamt, sondern der “Münchner Philosophie“, insofern sie mit dem Mittel der Abstraktion bewusst oder unbewusst statt zu Erklärung, nur zur Verklärung der gesellschaftlichen Zustände beiträgt.

Zum Verhältnis von Philosophie und Wirklichkeit

Philosophie, die nicht Selbstzweck ist, hatte immer schon ein bewusstes Verhältnis zum gesellschaftlichen Leben, zu den Aktionen, Gedanken und Ideen der Menschen. Wirkliche Philosophie hat nie sich selbst, sondern immer das wirkliche Leben zum Gegenstand.

Nur – wie verhält sie sich zu diesem ihrem Gegenstand? Verhält sie sich zu ihm nur theoretisch oder auch praktisch? Ist die Aufgabe der Philosophie, in einer gleichsam titanischen Anstrengung eine irgendwie aus den Fugen geratene Wirklichkeit im Begriffe, im philosophischen Denken, nochmals zusammenzubringen und sie als letztlich doch vernünftig zu erweisen? Oder ist es ihre Aufgabe, den Menschen Zielvorstellungen zu artikulieren, ihnen Perspektiven zu formulieren und zu begründen, die auf einen gesellschaftlichen Fortschritt hinorientiert?

Nach unserer Auffassung kann sich das philosophische Denken ebensowenig selbst genügen wie es nur ein theoretisches „Auf-den-Begriff-bringen“ ist. Philosophie soll dem gesellschaft­lichen Fortschritt dienen und sie muß dies, wenn sie dem Leben der Menschen überhaupt etwas geben will. Nicht abstrakte Utopien, unwirkliche Wunschvorstellungen von einer anderen, besseren Welt, sondern mögliche und realistische Ziele soll die Philosophie nach unserer Auffassung setzen und begründen.

Wir verwechseln nicht den Missstand und den Stillstand des philosophischen Fachbereichs mit der Wirklichkeit. Wir sehen eine Welt, die auf Veränderung drängt, die unter vielen Qualen und mit großen Mühen Neues hervorbringen will und wird; Aufgabe der Philosophie ist es, dieses „Neue“ zu formulieren und ihm zur Realität zu verhelfen. Die Einheit von Theorie und Praxis, von Philosophie und tätiger Veränderung mag zwar ein theoretisches Problem sein, seine Lösung aber ist allemal eine Sache der Praxis.

Die arbeitenden Menschen in den Betrieben und Büros, im Studium und im Beruf, die oft orientierungslos um ihre Existenz kämpfen müssen, sie haben ein Recht auf eine Philosophie, die ihnen weder erklärt, dass ja letztlich alles seine Ordnung habe, noch weißmachen will, wie sie sich zu verhalten haben und was eigentlich rechtens sei, sondern eine Philosophie, die sich ihrer Interessen annimmt, sie artikuliert, verallgemeinert und bei ihrer Realisierung behilflich ist.

Unsere Zeitschrift – Ein Organ der lebendigen Diskussion …

Unsere Zeitschrift möchte wieder einmal die Wirklichkeit, in der wir leben, wenn wir nicht auf gut münchnerisch philoso­phieren, und die vor den Seminaren halt machen musste, in die Philosophie einbringen. Wir wollen uns nicht weiterhin mit scholastischen Pseudo- und Sekundärproblemen herumschlagen, sondern sie in der Weise aufnehmen und diskutieren, wie sie uns die Wirklichkeit stellt, – und zwar sub specie ihrer Veränderung.

Wir wissen, dass das schwierig und kompliziert ist. Wir wollen keine Popularphilosophie treiben, die jedem nach dem Munde redet; auch keine „politische Philosophie“ im Sinne eines Teilgebiets der Philosophie, sondern eine Philosophie, die sich in ihren innersten Quellen dem historischen und dem sozialen Fortschritt verpflichtet weiß. Wir sehen auch, wie schwer das gegenwärtig ist. Gerade heute, wo ganze philosophische und wissenschaftliche Institute es sich zur Aufgabe gemacht zu haben scheinen, uns zum Verzicht auf Veränderung, auf Fortschritt mit allen nur erdenklichen Mitteln zu bewegen. Aber wir beziehen unser Vertrauen auf eine bessere Zukunft aus den Kräften der Vergangenheit und der Gegenwart, die diese Verzichtserklärungen nicht gemacht haben, die sich dem Fortschritt der Menschheit verpflichtet gefühlt haben und weiterhin fühlen. Wir orientieren uns am Gedankengut vergangener und gegenwärtiger Philosophen, die ihre theoretische Arbeit in den Dienst praktischer Veränderung von Natur und Gesellschaft gestellt haben.

… und ein Gegner von Dogmatismus und Reduktionismus in der Philosophie

Was wir unter allen Umständen vermeiden wollen und vermeiden werden, ist engstirniger Dogmatismus, lebensfernes Sektierertum und unphilosophische Rechthaberei. Wir vertreten keinen Alleinvertretungsanspruch in den Fragen des Fortschritts und der Entwicklung von Menschheit und Gesellschaft.

Die Zeitschrift soll ein Forum der Diskussion, eine Plattform der lebendigen Auseinandersetzung um die wesentlichen Fragen über unsere Gegenwart und um die Perspektiven der Zukunft sein, an der sich jeder Interessierte beteiligen kann und sollte.

Allerdings – sie soll eine philosophische Zeitschrift werden, eine Zeitschrift, die diese Fragen und Probleme unter philosophischen Aspekten und Gesichtspunkten thematisiert und behandelt.

Sicherlich sind auch die Probleme der Wissenschaftstheorie, der Erkenntnistheorie, der Sprache, der Logik und Mathematik, oder der Platon- und Aristoteles-Deutung philosophische Probleme. Aber wir wenden uns gegen die verkürzte Auffassung, Philosophie hätte keine andere Aufgabe, als über die bestehenden Wissenschaften zu reflektieren, oder sei nicht mehr als die Erinnerung und Vergegenwärtigung vergangener Philosophie, und sei darauf zu reduzieren.

Philosophie ist für uns in erster Linie und vor allem die geistige Aneignung der Wirklichkeit als Totalität; nicht lebensferne Abkapselung und weltfremde „Theoretisierei“, sondern die geistige Öffnung zur wirklichen Welt, die Aufnahme und theoretische Verarbeitung ihrer Probleme und die Entwicklung und Begründung von Perspektiven und Zielvorstellungen. Diese Offenheit schließt sowohl Dogmatismus als auch Reduktionismus aus.

Einladung

Wir wollen eine Zeitschrift gestalten, die all dies berücksichtigt, die interessante, diskussionswürdige und perspektivreiche Beiträge veröffentlicht, die wichtige Informationen über das philosophische Geschehen gibt, sich mit der gegenwärtigen Philosophie vor allem in München kritisch auseinandersetzt und – die dazu Eure Unterstützung und Mitarbeit braucht.

Habermas – „es musste etwas besser werden …“

Jürgen Habermas: „Es musste etwas besser werden…“ Gespräche mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos

geb., 273 S., 28,– €, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024

von Fritz Reheis

Google-Forscher haben jetzt eine „Habermas-Maschine“ entwickelt. Sie soll mithilfe von Künstlicher Intelligenz Menschen im politischen Diskurs zusammenführen können, war zu lesen. Ein letzter, schlagender Beweis, dass es sich bei Jürgen Habermas um einen Ausnahme-Intellektuellen handelt. Habermas, geboren 1929, ist bekanntlich Philosoph und Soziologe gleichermaßen, Begründer der zweiten Generation der Frankfurter Schule und ein durch und durch politischer Mensch, der sich vielfach, zuletzt beim Ukraine-Krieg, in die öffentliche Debatte wortstark eingemischt hat. Inzwischen sind mehr als 250 Interviews mit ihm weltweit publiziert worden.

Der vorliegende Band enthält ein Großinterview, geführt von Stefan Müller-Doohm, emeritierter Professor für Soziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, und Roman Yos, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fachgruppe Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal. Beide sind ausgewiesene Habermas-Kenner. Die Besonderheit seines Werkes bestehe darin, so die Einleitung zu einer der Fragen an Habermas, dass er die positiven wie negativen Einflüsse auf sein Werk „nicht nur ordnungsgemäß in Fußnoten“ verzeichne, „sondern geradezu offensiv sichtbar“ mache, „nämlich in einer Vielzahl von Würdigungen, Nachrufen und Portraits“. Habermas habe ein „Subgenre“ des Schreibens entwickelt, dem er bis heute die „Treue“ halte (187). Das Interview mit Habermas beruht auf zwei Treffen am Starnberger See sowie auf einem über viele Monate geführten Mail-Dialog. Die Interviewer vereinbarten mit Habermas, „dass die an ihn gerichteten Fragen sowohl biographische Kontexte berühren als auch „Platz für theoretische Erörterungen und Revisionen einräumen sollten“ (246).

Die Gliederung des Gesprächsbands folgt der Biographie. Es geht um die Stationen Göttingen, Bonn, Frankfurt, Marburg, Heidelberg, erneut Frankfurt, Starnberg und schließlich noch einmal Frankfurt. Thematisiert werden unter anderem die erste Orientierungssuche zwischen Soziologie und Philosophie, die Begegnung und konstruktive Verarbeitung der Kritischen Theorie, der Weg von der „Positivismuskritik“ zur „Kritik der funktionalistischen Vernunft“, vom „nachmetaphysischen Denken“ zur „detranszendentalisierten Vernunft“ und schließlich sein jüngstes Großwerk „Auch eine Geschichte der Philosophie“. „Immer wieder wird deutlich“, so verrät der Einbandtext des Verlags, worum es diesem Philosophen im Kern geht: um „die Begründung des Quäntchens Vernunftvertrauen und der Pflicht zum Gebrauch unserer Vernunft“.

Diese Begründung hängt für Habermas eng mit dem Verhältnis von Soziologie und Philosophie zusammen. „Mich bewegt das Problem, wie ein fragiles und bisher immer wieder zerreißendes soziales Zusammenleben gelingen kann … Mein ‚letztes’ Motiv ist, wenn Sie wollen, die befreiende Kraft des Wortes, die sich nur in den reziprok-egalitären Anerkennungsverhältnissen einer vollständig individuierenden Vergesellschaftung ganz entfalten könnte“ (15 f.). Habermas spricht von einer „Balance“ zwischen „Nähe und Ferne“, „Ja und Nein“, „Zustimmung und Widerspruch“, von „kommunikativen Erfahrungen“, wie sie nur in „sozial halbwegs integrierten Verhältnissen“ möglich seien (16). In Anknüpfung an Kant, Fichte, Schelling und Hegel begleite sein ganzes Werk das Ziel, „eine religiöse Intuition restlos ins Säkulare zu überführen“ (16). Und auf dem Buchcover lesen wir: „Ich halte das Streben, die Welt um ein Winziges besser zu machen oder auch nur dazu beizutragen, die stets drohende Regression aufzuhalten, für ein ganz unverächtliches Motiv.“

Ein Buch, das nicht nur als Einführung in den „Habermas-Kosmos“, sondern auch für fortgeschrittene Habermas-Leser empfohlen werden kann. Das Namensregister erleichtert die Orientierung. Ein Stichwortregister sowie eine Übersicht über Stationen und Wirkstätten sucht der Leser freilich vergeblich.

Benhabib – Kosmopolitismus

Seyla Benhabib: Kosmopolitismus im Wandel. Zwischen Demos, Kosmos und Globus

br., 92 S., 13,– €, Mandelbaum Verlag, Berlin 2024

von Bernhard Schindlbeck

Mit bewundernswerter Ausdauer und Hartnäckigkeit hält Seyla Benhabib gegen alle von den gegenwärtigen Zeitläuften ausgesendeten Signale an ihrem Thema Kosmopolitismus fest, und das mit gutem Recht. Erinnert man sich an ihre vorangegangenen (auch auf Deutsch erschienenen) Publikationen wie Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte mit Jeremy Waldron, Bonnie Honig und Will Kymlicka (2006, dt. 2008) sowie Kosmopolitismus ohne Illusionen. Menschenrechte in unruhigen Zeiten (2010, dt. 2016) – dem unter Zeitknappheit leidenden Leser sei der Aufsatz Unterwegs zu einer kosmopolitischen Demokratie? in der Neuen Zürcher Zeitung vom 13.06.2009 empfohlen –, dann darf man mit Fug und Recht resümieren, dass Seyla Benhabib eines der für die kommende Praxis der Menschheit theoretisch wichtigsten Projekte verfolgt, dessen Bedeutung leider noch immer nicht ins Bewusstsein der maßgeblichen Regierenden und Institutionen auf dem Planeten gelangt ist. Eigentlich wissen alle, dass die globalen Krisen wie Klimawandel, Migration und Armut – und neuerdings ganz offensichtlich: die Konkurrenz von Imperialismen mit ihren Stellvertreterkriegen – nicht von den Regierungen auf nationaler Ebene, auch nicht durch internationale Kooperationen gelöst werden können, sondern nur in einem kosmopolitischen Gesamtrahmen. Gegen den aber sperren sich noch immer die meisten Regierungen, vor allem des westlichen Blocks, d.h. die Nachfahren der ehemaligen Kolonialherren.
Im Postskriptum ihres neuen Buches hält Benhabib fest, dass es während der Abfassung des Buches zum Terrorakt der Hamas vom Oktober 2023 kam, der nur dem Anschein nach den Proponenten einer rein machtorientierten „Realpolitik“ Recht gebe, jedoch kein Grund sei, das Beharren aufzugeben, „den latenten emanzipatorischen Gehalt unserer Ideale und Illusionen [mit denen sie sich auf die Frankfurter Schule bezieht – B. Sch.] sichtbar zu machen“ (78).
Das unzweifelhaft enorm wichtige Buch enthält die 2023 von Benhabib am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen gehaltenen Vorlesungen, in denen die Autorin, ausgehend von Grundgedanken Kants (Stichwort „Weltbürgerrecht“), die Möglichkeiten auslotet, zu völkerrechtlich verbindlichen kosmopolitischen Standards zu gelangen, die nationales oder transnational übergreifendes Recht des Demos nicht negieren, aber dennoch transzendieren. In ihrem „kosmopolitische Interdependenz“ genannten Ansatz geht es um „eine Einbettung der demokratischen Selbstbestimmung in ein neues internationales Recht interdependenter Souveränitäten“ (53; Hervorh. im Orig.). Das sieht sehr nach der Quadratur des Kreises aus; ob dem so ist oder nicht, wird nur die Praxis zeigen können. Kantische Vernunftorientierung und „kommunikative Ethik“ (gemeint ist Habermas) sind die philosophischen Stützen, auf denen Benhabibs Auseinandersetzung sowohl mit Kritikern des „kantianischen Kosmopolitismus“ (wie der Aristotelikerin Martha Nussbaum), mit dem politischen Liberalismus als auch mit postkolonialen Theoretikern und Kritikern des Eurozentrismus und westlichen Imperialismus (Walter Mignolo, E. Tendayi Achiume, Dipesh Chakrabarty u.a.), aber auch mit Hannah Arendts Kant-Lektüre und Denkern wie Bruno Latour, Carl Schmitt oder Hans Kelsen ruht. Ihr theoretischer Horizont ist so weit, wie es dem Thema – und dem Globus – gebührt und angemessen ist.
Das erste Kapitel ist der Verteidigung des „kantianische[n] Kosmopolitismus“ gegen seine Kritiker gewidmet, die argumentieren, „dass das kantianische Vermächtnis rundweg abgelehnt und eine andere philosophische Grundlage geschaffen werden müsse“ (25). Seine Forderung, dass alle Staaten die republikanische Regierungsform haben sollten, habe Kant nicht auf die europäischen Kolonien und abhängige Staaten bezogen. Benhabibs wichtigster Referenztext ist natürlich Kants Zum ewigen Frieden (1795), daneben die Metaphysik der Sitten (1797/98). Sie verweist auf Kants eigene Entwicklung hinsichtlich seines Denkens über „Rassen“ und auf seine (gelegentliche) Kritik am europäischen Imperialismus. Allerdings muss kritisch zurückgefragt werden, wie viel Kants Verständnis des „Weltbürgerrechts“ (im dritten Definitivartikel, wo er nebenbei massiv „das inhospitable Betragen“ europäischer Kolonialmächte gegenüber fremden Völkern kritisiert), das er ausdrücklich „auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt“ wissen will, also auf ein (zeitweiliges) Besuchsrecht, für ein heutiges Kosmopolitismus-Konzept hergibt – auch wenn er auf den gemeinschaftlichen Besitz „der Oberfläche der Erde“ hinweist, auf der ursprünglich „niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere“.
Desgleichen ist zu fragen, wie weit die „Prinzipien der kommunikativen Ethik bzw. Diskursethik“ (25) von Habermas im gegebenen internationalen und völkerrechtlichen System ein Weltbürgertum stützen können. Denn Habermas beharrt in seinem Verständnis der deliberativen Demokratie ja darauf, dass diese sich als Ausdruck von Volkssouveränität stets in einem nationalstaatlichen Rahmen (ggf. einem transnationalen wie dem der EU) organisieren müsse, aus dem also immer jemand ausgeschlossen bleibt (z.B. Flüchtlinge, Asylbewerber). Gleichzeitig verlangt die Diskursethik aber, dass „nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten)“ (Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1983, 103). Das würde bedeuten, dass Asylbewerber bei der Asylgesetzgebung des Landes, von dem sie aufgenommen werden wollen, mitsprechen dürfen. Benhabib übersieht, wie Habermas selbst, diese offensichtliche Unmöglichkeit, um nicht zu sagen: Antinomie.
Anders als etwa die von Benhabib als „Globalisten“ bezeichneten Mitglieder der Gruppe Third World Approaches to International Law (TWAIL) oder E. Tendayi Achiume (von 2017 bis 2022 Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für aktuelle Formen des Rassismus) plädiert Benhabib im zweiten Kapitel ausdrücklich nicht „für eine Welt ohne Grenzen“ (47). Während Achiume „das Konzept der ‚exklusiven Souveränität‘ ins Visier [nimmt], die vorherrschende hegemoniale Vorstellung der westlichen und nördlichen liberalen Demokratien, die es ihnen erlaubt, Migranten und Asylsuchende von ihren Gestaden auszuschließen“ (41), behauptet Benhabib: „Demokratien brauchen juristische Grenzen.“ Denn: „Wir müssen wissen, in wessen Namen ein Gesetz erlassen wird, und wir müssen wissen, wie wir von denen, die es erlassen, und von denen, die dagegen verstoßen, Rechenschaft verlangen können. Wir brauchen sowohl nationale als auch transnationale Gerichte, um den Schutz und die Stärkung von Rechten sowie die Bestrafung von Tätern, die sie verletzen, zu gewährleisten. Aber diese Grenzen der Gerichtsbarkeit sind nicht gleichbedeutend mit militärisch bewaffneten und gewaltsam bewachten Grenzregimen“ (47 f.).
Man sieht, wie sehr Benhabib auf das Recht, insbesondere das Völkerrecht, baut. Das ist gewiss gut gemeint, verkennt jedoch, dass erstens das Recht grundsätzlich ein Gewaltverhältnis ist, und dass zweitens die Sanktionsgewalt, die hinter dem Völkerrecht steht, zweifelhaft ist. Ist ein Staat mächtig genug, internationales Recht ohne die Gefahr von Sanktionen zu brechen (etwa weil er im UN-Sicherheitsrat eine Vetostimme hat oder eine Vetomacht ihre schützende Hand über ihn hält), dann tut er es. Die Geschichte kennt genügend Beispiele. Die Ohnmacht des Internationalen Gerichtshofs wurde z.B. 1984 und 1986 von den USA vorgeführt, die das Urteil gegen sie wegen Unterstützung der Contra-Rebellen in Nicaragua und Verminung der nicaraguanischen Häfen schlicht ignorierten. Als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der britischen Regierung die Abschiebung von Asylbewerbern nach Ruanda im Juni 2022 untersagte, erklärte die Regierung, man könne aus dem Europarat und der Europäischen Menschenrechtskonvention ja auch austreten und die Zustimmung zur Genfer Flüchtlingskonvention widerrufen. Das Völkerrecht macht mächtige Regierungen nicht zittern. Die Regierungen in dieser Welt, die nicht jederzeit aus Opportunismus Menschenrechte verletzen, kann man vermutlich an einer Hand abzählen. Sich auf das Recht und Gerichte zu verlassen, ist also nicht unbedingt der erfolgversprechendste Weg zu einer kosmopolitisch gestalteten Welt und für „Projekte der Weltgestaltung und des Welt-Teilens durch gemeinsames Engagement in Praktiken und Institutionen“ (38).
Und warum sollten wir, wie Benhabib behauptet, unbedingt wissen, „in wessen Namen“ ein Gesetz erlassen ist? Die vor Gericht beim Urteilsspruch benutzte Floskel „Im Namen des Volkes“ ist ja nur eine leere und Legitimation bloß erheischende Redeweise. In Deutschland erleben wir gegenwärtig, wie von den „demokratischen Parteien“ das Recht auf Asyl geschleift wird, um rechtspopulistische Ressentiments zu bedienen, und dass auch ein (grundsätzlich auslegungsbedürftiger) Verfassungswortlaut faktisch wenig wert ist. In der von exorbitanter Dummheit zeugenden Interpretation des Bundeskanzlers lautet z.B. das Asylgrundrecht in der Verfassung: „Wir dürfen uns aussuchen, wer zu uns kommen darf und wer nicht.“ (Spiegel 36/2024). Eine deutsche Regierung hält von Projekten „des Welt-Teilens“ so wenig wie jede andere westlich-demokratische Regierung. Benhabib selbst weist darauf hin, dass nach der Entkolonialisierung die wirtschaftlichen Unterschiede fortbestanden und durch „die Funktionsweise der Breton-Woods-Institutionen, die nochmals neuere Techniken zur Aufrechterhaltung von Ungleichheits- und Hierarchieverhältnissen formulierten“ (39), zementiert wurden. Sie schreibt: „Wir müssen fragen: … Wie kann ein interaktiver Universalismus nicht nur im Bereich der Moralphilosophie gedacht werden, sondern ganz konkret als eine Form des Institutionenaufbaus und des Welt-Teilens? Versuche zur Dekolonisierung des Völkerrechts hin zu einem integrativeren Kosmopolitismus können den Weg weisen.“
Gibt man als Realist zu, dass die Mächtigen und Regierenden der Ersten Welt kein Interesse an einer Dekolonisierung des Völkerrechts und an einem Welt-Teilen haben, bleibt die Frage: Wer soll denn das Wir im „Wir müssen fragen …“ sein? Es sind eben nur ein paar Moralphilosophen (in Europa und USA) und mehrere Aktivisten aus der Dritten Welt. Dass die heutige sogenannte „Migrationskrise“ ein Ergebnis des westlichen Imperialismus ist, wird in der Öffentlichkeit der kapitalistischen Industriestaaten ignoriert oder glatt geleugnet. Benhabib plädiert (mit Achiume) dafür, „die Unterscheidung zwischen dem politisch verfolgten Flüchtling und dem Wirtschaftsmigranten“ endlich aufzugeben. „Angesichts der langen Geschichte des europäischen Imperialismus in Afrika, Südamerika und dem Rest der Welt ist diese Unterscheidung zwischen dem unehrenhaften Wirtschaftsmigranten und dem ehrenwerten politischen Flüchtling heuchlerisch und unhaltbar“ (42). Vom deutschen Kanzler jedoch werden die Wirtschaftsmigranten bekanntlich als diejenigen bezeichnet, „die kein Recht haben, hier bei uns zu sein.“ Woran man einmal mehr sieht, dass Recht (das seiner Natur nach sowieso kontingent ist) stets sehr beliebig interpretiert und verwendet werden kann.
Das dritte, mit „Der Globus als Welt, Erde und Planet“ überschriebene Kapitel beleuchtet die durch im Anthropozän erzeugten globalen Problematiken (vor allem die Klimakrise) aus Chakrabartys „planetarischer“ Perspektive, die das Globale „überschreibt“, und mit Bruno Latours Konzept des „Terrestrischen“. Beide streben eine „epochale Neuorientierung im Denken“ (63) an, die Benhabib mit der Kritik an moderner Wissenschaft und Technologie sowie moderner Politik konvergieren sieht, „wie sie von der bekannten Tradition des antimodernen reaktionären Denkens vertreten wird, für das die Philosophen Heidegger und Schmitt stehen.“ (ebd.) Über Hannah Arendt, die bekanntlich einen Weltstaat und ein Weltbürgertum ablehnte, und deren Dialog mit Karl Jaspers (dessen Buch Die Atombombe und die Zukunft des Menschen 1957 erschien) kommt Benhabib, die Gefahr des Atomkriegs und den Klimawandel implizit nebeneinanderstellend, zu Arendts schon 1958 vorgetragener Einsicht und zitiert: „Diese auf Furcht vor globaler Zerstörung gegründete negative Solidarität [Hervorh. B. Sch.] ist begleitet von einer weniger evidenten, aber nicht weniger wirksamen Befürchtung politischer Natur. Positive Solidarität im Politischen kann es nur geben auf Grund gemeinsamer Verantwortlichkeit“ (67).
Wie Arendt folgt auch Benhabib Kants Behauptung in Zum ewigen Frieden, dass ein Weltstaat „ein seelenloser Despotism“ sei, der nicht die „Idee des Völkerrechts“, nämlich „die Absonderung vieler von einander unabhängiger benachbarter Staaten“ ersetzen dürfe – ohne zu fragen, wie plausibel Kants Begründung („Aber die Natur will es anders.“) wirklich ist. Dass Staaten, die ja grundsätzlich um Investitionen, Ressourcen, Arbeitskräfte und Macht konkurrieren, selten zu tragfähigen und nachhaltigen Kooperationen finden und ihrer „gemeinsamen Verantwortlichkeit“ eben nicht nachkommen, was man auch tagtäglich auf den ersten Blick sieht, ignorieren Kant, Arendt und Benhabib gleichermaßen. Mit den Überlegungen von Chakrabarty decke sich, schreibt Benhabib, Arendts (sowie Jaspers‘) Urteil, „ ‚daß das Auftreten der Menschheit als greifbare politische Realität das Ende der in der Achsen-Zeit beginnenden Weltgeschichte kennzeichnet … Was jetzt nach dem Ende der Weltgeschichte beginnt, ist die Geschichte der Menschheit“ (68). Bei dieser Denkfigur der „eigentlichen“ Geschichte der Menschheit „nach“ dem Vorhergegangenen darf man sich an einen ähnlichen Gedanken im Marxismus erinnern. Jedoch genau davon setzt sich Benhabib ab: „Aber diese ‚Menschheit‘, die am Ende jener Epoche der Weltgeschichte auftaucht, ist keine Spezies – kein ‚Gattungswesen‘, wie Feuerbach oder Marx vielleicht gesagt hätten. Die Philosophie der Menschheit darf den Menschen nicht als ein singuläres Subjekt betrachten, das ‚im einsamen Dialog zu sich selbst‘ redet, sondern als ‚die Menschen, die miteinander reden und sich verständigen‘. Die conditio humana ist eine Pluralität, nicht Singularität.“ (68; Zitate aus: Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten). Fraglich an dieser Marx-Kritik ist freilich, warum man das Gattungswesen nicht als Pluralität denken können sollte. Der grammatikalische Singular impliziert nicht notwendig eine semantische Singularität.
Offen bleibt also am Ende des Buches, wie die Einbettung demokratischer Selbstbestimmung vieler einzelner Staaten in das neue internationale Recht „interdependenter Souveränitäten“ vor sich gehen und wie diese Interdependenz sich gestalten soll. Die Interdependenz besteht ja bereits, nur ohne jeden positiven Effekt für einen Kosmopolitismus. Ebenso bleibt unklar, wie sich „die Ideale der kommunikativen Ethik mit dem kosmopolitischen Ansatz“ verknüpfen lassen, ohne die sogenannte demokratische Selbstbestimmung (die Volkssouveränität) weitestgehend auszuhebeln. Vor allem vergisst Benhabib (wie schon Kant und Arendt), dass es faktisch keinen „gemeinschaftlichen Besitz der Oberfläche“ der Erde gibt. Die Erdoberfläche (Grund und Boden) ist längst überwiegend das private Eigentum von Konzernen (juristischen Personen) und natürlichen Personen. Und Privateigentum bedeutet immer den willkürlichen Ausschluss anderer Personen vom Gebrauch. Gerade in Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre ist dies die raison d’être des Rechts. Der Kosmopolitismus kann sich mithin bestenfalls auf einen halbierten Kant berufen.
Insgesamt kommt das Buch also nicht über den Appell hinaus, von dem man jedoch nach aller Erfahrung weiß, dass er bei den relevanten Institutionen, Politikern und Wirtschaftsführern auf taube Ohren stoßen wird.

Später – Adornos Erben

Jörg Später: Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik

geb., 760 S., 40,– €, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024

von Lothar Butzke

Der Historiker und Journalist Jörg Später möchte eine Geschichte der Bundesrepublik erzählen, von der Rückkehr Adornos und Horkheimers nach Frankfurt am Main bis zum Ende der alten Bundesrepublik. 20 Jahre mit und 20 Jahre ohne Adorno. Adornos Tod bildet darin die Zäsur. Er interessiert sich für die ersten Schüler und Schülerinnen Horkheimers und vor allem Adornos, die später dann von der Theoriegeschichtsschreibung als ‚zweite Generation’ der Kritischen Theorie bezeichnet wurden. Diese ‚zweite Generation’ nennt er „Adornos Erben“.

Später wählt zwölf Schüler und Schülerinnen aus „aufgrund ihrer Funktion im Adorno-Orbit oder einer Rolle, die sie nach 1969 spielten“ (11). Bei ihnen handelt es sich um Jürgen Habermas, Oskar Negt, Hermann Schweppenhäuser, Rolf Tiedemann, Karl Heinz Haag, Alfred Schmidt, Herbert Schnädelbach, Ludwig von Friedeburg, Gerhard Brandt, Helge Pross, Regina Becker-Schmidt und Elisabeth Lenk. Hinzu kommt Alexander Kluge „stellvertretend für viele Zaungäste aus Kunst und Kultur“ (11). Der Autor nutzt dazu neben der Literatur auch die Nachlässe, bei Habermas auch den Vorlass, die in verschiedenen Archiven liegen und hat, soweit noch möglich, auch Gespräche mit ihnen geführt.

Zunächst wird auf rund 140 Seiten die Geschichte des Instituts für Sozialforschung, das Exil und Adornos Wirken als Universitätslehrer mit den ersten Schülern und Schülerinnen bis zu dessen Tod geschildert. In den weiteren Teilen verfolgt er dann die Lebensläufe und akademischen Laufbahnen der genannten Erben und betrachtet sich dabei als „Chronisten, der eine profane Rekonstruktion der Frankfurter Schule und ihrer kritischen Theorien versucht“ (14). Was dabei „die Kritische Theorie der Frankfurter Schule war, beziehungsweise ist, soll nicht mit einer Definition vorab geklärt werden, sondern bildet das hier Darzustellende. So wie in einer Familie über die Erbschaft gestritten wird, haben Adornos Schüler und Schülerinnen miteinander um das angemessene Verständnis von Kritischer Theorie gerungen“ (11) – so, als wäre der Inhalt Kritischer Theorie beliebig, als hätte es den grundlegenden Aufsatz von Horkheimer nie gegeben, und als hätte Habermas nicht explizit davon gesprochen, er wolle keine Tradition fortsetzen, sondern seine eigene Theorie entwickeln. Diese Brüche werden von Später nicht thematisiert.

Dieses recht äußerliche und oberflächliche Verhältnis zur Theorie durchzieht das ganze Buch. Dabei passieren der Autor auch fatale Schnitzer, die sowohl am Verständnis der Philosophie als auch an der Kenntnis der Person Adornos zweifeln lassen. So zitiert er aus einem Aufsatz, den es so nicht gibt: „Wozu noch Philosophie?“ (634, Anm. 43). Adornos Titel enthält jedoch kein Fragezeichen (vgl. Adorno, GS Bd. 10/2), vielmehr ist der Aufsatz die Antwort auf die Frage. Auch lernte Adorno Rudolf Kolisch 1925 in Wien kennen (Adorno/Kolisch, Briefwechsel, Berlin 2023, 805 f.) und nicht in New York und René Leibowitz 1947 in Los Angeles (Adorno, Briefe an die Eltern, Berlin 2003, 437) und nicht in Darmstadt (608, Anm. 11). Das sind Kleinigkeiten, die sich aber hätten klären lassen. Später hätte schweigen können, statt Falsches zu behaupten. Er bemerkt auch nicht, wenn ein zentraler Gedanke Adornos und Horkheimers aus der „Dialektik der Aufklärung“ sinnentstellend zitiert wird: „Eingedenken in die Natur“ (Habermas-Zitat, 452) statt „Eingedenken der Natur im Subjekt“ (Adorno, GS Bd. 3, 58; oder Horkheimer, GS Bd. 5, 64). Er verwendet die Phrase zudem noch, um die Kritik Schnädelbachs an Adorno zu beschreiben: „Über die ‚simple Lösung’, dass man der gigantischen weltgeschichtlichen Fehlstruktur durch ‚Eingedenken in die Natur’ beikommen könne, konnte Schnädelbach nur noch den Kopf schütteln“ (484). Bei Adorno jedoch gibt es diesen Satz nicht.

Des weiteren referiert Jörg Später Thesen von Adorno sowie die Kritik an ihnen, wobei er allerdings der offiziellen Lesart, wie sie von Habermas, Schnädelbach und Honneth propagiert wird, unkritisch folgt bis hin zu der lapidaren Zusammenfassung von Schnädelbachs Kritik: „Adornos Philosophie stimmt eben nicht“ (537), so, als hätte Adorno sich bei einer Rechenaufgabe vertan (Adorno, 6, setzen!). Oder: „Habermas stand im Unterschied zu seinem Lehrer mit beiden Beinen in der Wissenschaft“ (257), als hätte Adorno nie Sozialforschung betrieben. Er wiederholt, was Axel Honneth und andere als Theoriegeschichte konstruiert haben: „eine Erbschaftslinie von Adorno zu Habermas im Sinne des wissenschaftlichen Fortschritts“ (D. Claussen, Kann Kritische Theorie vererbt werden? In: T. Freytag/M. Hawel (Hg.), Arbeit und Utopie. Oskar Negt zum 70. Geburtstag, Frankfurt/Main 2004, 275). Selbstverständlich kommen auch die ‚orthodoxen’ Schüler und Schülerinnen zu Wort; nur bleiben sie dagegen recht blaß. Es ist offenbar Habermas, der die Kritische Theorie beerbt hat, ob er das selbst wollte oder nicht.

Das Buch ist zudem zu großen Teilen in einem unangenehmen, flapsigen und bei Personen oft auch herablassenden und gönnerhaften Ton geschrieben. Da ist von „bürgerliche(r) Software“ (27) die Rede, vom „Spirit des linken Unimilieus“ (423), von „Akteuren, die ihr Ding machten“ (336), von Habermas und Luhmann als „Alphatiere(n) der … Soziologie“ (437). Später teilt aus, wo immer er einen Lacher vermutet: Negts „philosophische Höhenflüge (88)“ und sein „Comte-und-Hegel-TÜV“ (90), der „Zwölftoncineast“ Kluge, dessen Filme spät abends in der „Glotze“ (395) laufen, Regine Lenk die für ihre Professur „vorsingen durfte“ (296). Besonders angetan hat es ihm offenbar Rolf Tiedemann. Zum Tode von dessen Sohn schreibt er im Stile der „Gala“: „Ein grausamer Schock, ein unbeschreiblicher Schmerz, ein kaum zu ertragendes Schuldgefühl – was auch immer in Tiedemann vorging, sein Leben war mit Sicherheit von einem Tag auf den anderen nicht mehr dasselbe“ (294). Und auch beruflich hatte Tiedemann viel Ärger: „Ab und zu schleuderte er eine Tirade in geschliffener Formulierung hinunter, dann vergrub er sich wieder und leckte sein Wunden“ (302). So genau wollten wir das freilich gar nicht wissen.

Nachdem Adornos Theorien nun mal in einem „ausweglosen Negativismus“ (541) endeten, der Erkenntnis nur noch ästhetischen Werken zuerkannte, und sie letztlich einfach nicht stimmten (vgl. 537), während sein ‚Erbe’ Habermas fest „mit beiden Beinen in der Wissenschaft“ stand (257) und sie daher „für nicht mehr zeitgemäß“ (479) befand, war es wohl nichts mit dem Erbe – außer dem Etikett ‚Kritische Theorie’..

Wozu, fragt sich der Leser, sollte man sich dann überhaupt noch mit Adorno abgeben? Weil Adorno die „jüdische Vorstellung“ (403) und die „jüdische Erfahrung“ (586) des Zivilisationsbruchs, mithin das „Auschwitzbewußtsein“ (586) gehabt hatte, während die restliche linke Intelligenz „einfach in einem anderen Film“ (465) war? Nur, man muss nicht Jude sein, um zu begreifen, was der Holocaust bedeutete. Schließlich wurden Auschwitz und der Holocaust Ende der 80er Jahre thematisiert, unter anderen von Dan Diner und Detlev Claussen. Hier hätte Später die unterschiedliche Bedeutung, die diese Erfahrung in den Theorien von Adorno, aber auch Horkheimer, Marcuse und Löwenthal einerseits und bei Habermas, Schnädelbach und Honneth andererseits hatte, herausarbeiten können. Stattdessen bleibt es bei dem blassen Statement: „mir scheint die ‚jüdische Erfahrung’ der Gründergeneration ein konstitutives Element zu sein, das lange übersehen wurde und oft unterschätzt wird“ (586). Dies ist in der Sekundärliteratur jedoch längst behandelt worden. Vielen anderen jedoch war recht schnell klar, dass für Habermas diese Erfahrung, im Gegensatz zur ‚ersten Generation’ kritischer Theorie, nicht konstitutiv für seine eigene Theorie war, sondern sie lediglich das Kolorit oder die Stimmung der Zeit betraf.

Trotzdem habe ich das Buch mit Interesse und Gewinn gelesen. Denn zum ersten mal wird die Geschichte von Adornos Schülern und Schülerinnen detailliert im Zusammenhang mit der deutschen Nachkriegsgeschichte erzählt. Viele Namen erhalten ein Gesicht, und wen man nur als Autor oder Namen kannte, erhält jetzt eine Biographie und nicht zuletzt, der ‚Adorno-Kosmos’ wird vor Augen geführt. Man erfährt, welche Rolle Gretel Adorno am Institut spielte, wie Habermas nach Starnberg ans Max-Planck-Institut wechselte und wieder nach Frankfurt kam. Die Querelen um das hessische Hochschulrahmengesetz werden geschildert, durch die man Kontinuitäten konservativer Politik erfahren kann wie bei Bernhard Vogel, der damals gegen das sozialdemokratische Gesetz hetzte und erst kürzlich in seinen Erinnerungen Bodo Ramelow für gefährlicher für die Demokratie hält als die gesichert rechtsextremistische AfD. Es wird die gesellschaftliche und politische Stimmung mit Studentenrevolte und anschließendem Terror der RAF, für den Adorno und die kritische Theorie verantwortlich gemacht wurden, geschildert. Die darauf folgende Sympathisantenhetze mit Berufsverboten, der deutsche Herbst werden ebenso vor Augen geführt wie Kohls ‚geistig-moralische Wende“ und schließlich der Historikerstreit um Nolte. Interessant sind die Probleme, die Rolf Tiedemann mit dem Adorno- und Benjamin-Archiv und der Herausgabe der Gesammelten Schriften Benjamins hatte, bis hin zum Rechtsstreit mit dem Suhrkamp Verlag um eine angemessene finanzielle Beteiligung der Erben Benjamins. Und es beeindruckt, wie sich vor allem Habermas immer wieder in die politischen und intellektuellen Debatten eingemischt hat. Es entsteht so ein lebendiges Bild der Zeit bis 1989, und man erhält einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Schüler und Schülerinnen und ihre Beteiligung an den politischen und theoretischen Debatten.

Späters Buch ist sicher nicht geeignet, in die Theorien Adornos oder die Kritische Theorie einzuführen. Dazu wird man die Texte selbst lesen müssen mit geeigneter Sekundärliteratur wie den zitierten Aufsatz von Detlev Claussen oder „Das Eingedenken der Natur im Subjekt“ von Gunzelin Schmid Noerr (Darmstadt 1990). Aber man gewinnt einen lebendigen Einblick ins Wirken seiner Erben in der ‚alten’ Bundesrepublik.

Rochedy – Nietzsche

Julien Rochedy: Nietzsche – der Zeitgemässe. Einführung in die Philosophie Nietzsches

br., 176 S., 18,– € (Jungeuropa Verlag, Dresden 2022)

von Paul Stephan

Der junge französische Autor Julien Rochedy, geb. 1988, gilt als einer der wichtigsten Nachwuchsintellektuellen der radikalen Rechten. Er kommt allerdings aus der politischen Praxis. Schon 2006 trat er dem Front National bei, war von 2012 bis 2014 der Vorsitzende der Jugendorganisation der Partei und beriet 2012 Marine Le Pen bei ihrem Präsidentschaftswahlkampf. 2014 trat er allerdings aus der Partei aus, da er mit ihrem ‚Entgiftungskurs‘ nicht einverstanden war. Seitdem nimmt er extremere Positionen ein und unterstützte bei der letzten Präsidentschaftswahl in der ersten Runde Éric Zemmour.

Rochedy hat seither seine Aktivitäten auf die sozialen Medien und das Schreiben von Büchern verlagert, von denen das vorliegende das einzige ist, das bislang auf Deutsch vorliegt. Das Original erschien 2020. Die Lektüre dieses Buches verspricht einen erstklassigen Einblick in die Denkweise der jungen radikalen Rechte – und vor allem, wie sie Nietzsche in ihrem Sinne interpretiert. 2019 veröffentlichte Rochedy einen dreistündigen Vortrag zu Nietzsche auf Youtube, der 1,5 Millionen Zuschauer erreichte. Seine Gedanken entfalten also eine große Resonanz und dürften das Welt- und Nietzschebild zahlreicher junger Franzosen prägen.

Der schmale, 176 Seiten umfassende Band zielt sichtlich auf Breitenwirkung. Das Cover ziert ein poppiger Nietzsche im Hawaii-Hemd, der mit der Pistole zielt. Er trägt eine Sonnenbrille, in der sich ein gelber, runenartiger Blitz spiegelt – eine deutliche Anspielung auf die Symbolik der Identitären Bewegung und rechtsradikalen Szene allgemein.

Die Stoßrichtung des Buches wird schon zu Beginn deutlich, wenn der Historiker der Neuen Rechten, David Engels, im Vorwort von der „zunehmend um sich greifenden Cancel Culture und der immer deutlicher werdenden medialen und politischen Zensur“ (9) spricht. Der Übersetzer Philipp Bender schreibt in seinem Vorwort dann von Nietzsche als „Querdenker im edelsten Sinne des Wortes und als Anti-Mainstream-Rebell“ (13). Es geht also darum, die Moralkritik Nietzsches als intellektuelle Waffe im Kampf gegen den ‚linken Mainstream‘ in Anschlag zu bringen und dem rechten Projekt dadurch eine gewisse ‚Coolness‘ zu verleihen.

Dementsprechend handelt es sich auch um eine leichte Lektüre. Rochedy vermag es, seine Gedanken sehr eingängig runterzubrechen und dem Leser keine allzu großen Stolpersteine in den Weg zu legen. Dies geht allerdings auf Kosten der Wissenschaftlichkeit. Im Buch wird auf Zitate weitgehend verzichtet, und zahlreiche der, bisweilen steilen, Thesen Rochedys bleiben ohne nachprüfbaren Beleg. In einigen Fällen unterlaufen ihm auch grobe sachliche Fehler.

Eingangs berichtet Rochedy, wie er mit 14 Jahren zufällig auf Nietzsches Zur Genealogie der Moral gestoßen sei, das für ihn eine Art ‚Erweckungserlebnis‘ gewesen, und er fortan, trotz aller Kritik im Detail, „immer wieder zu meinem Meister zurückgekehrt“ (19) sei. Seine Grundperspektive wird bereits hier mehr als deutlich: Wir befinden uns im Zeitalter eines gewaltigen Kulturverfalls, angeheizt von den herrschenden ‚linksliberalen‘, postmodernistischen Eliten und einem grassierenden seichten Hedonismus. Allerorten seien „Nihilismus“ (16) und „Dekadenz“ (ebd.) zu beobachten, der „Triumph des letzten Menschen“ (ebd.), von dem Nietzsche in Also sprach Zarathustra sprach. Es drohe nicht nur der Untergang des ‚Abendlandes‘, sondern der Menschheit insgesamt – und Nietzsches Schriften lasse sich nicht nur eine Diagnose dieses apokalyptischen Szenarios, sondern auch ein Ausweg entnehmen.

Es folgt ein kurzer Abriss Nietzsches früher Jahre bis zur Fröhlichen Wissenschaft (22-49). Dass dieser Teil des Buches so knapp ausfällt, zeigt schon, dass Nietzsches stark aufklärerisch geprägte Frühschriften Rochedy nur am Rande interessieren. Und gerade hier findet sich auf nahezu jeder Seite eine Falschbehauptung. So teilt Rochedy unhinterfragt den von der Forschung längst widerlegten Mythos, Nietzsches Familienname sei polnischer Abkunft (vgl. 22 f.); er unterstellt Hegel die Ansicht, in der antiken griechischen Sittlichkeit habe sich der „wahre Geist“ (27) offenbart, nicht erst im Christentum und im modernen Staat; er erklärt Danaë und nicht deren Mutter Leontion zur Geliebten Epikurs (vgl. 32) und behauptet, Wagner habe sich erst nach 1872 zum „Nationalisten, Antisemiten und christlichen Reaktionär“ (35) gewandelt. Auch die Einschätzung, die deutsche akademische Philosophie sei noch in den 1870er Jahren von Hegel und nicht etwa vom Neukantianismus dominiert gewesen (vgl. 38), zeugt von wenig historischer Gründlichkeit, und nichts spricht dafür, Nietzsches Widmung des ersten Bands von Menschliches, Allzumenschliches an Voltaire sei ironisch gemeint gewesen (vgl. ebd.). Falsch ist auch, den aus Theben stammenden Dichter Pindar als „athenisch“ (39) zu bezeichnen.

Die folgenden Kapitel des Buches sind jedoch stärker und detaillierter. Rochedys Hauptbezüge bilden hier die Schriften ab Also sprach Zarathustra. Er geht in seiner Darstellung von dem berühmten 125. Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft aus, in dem Nietzsche, vermeintlich, den ‚Tod Gottes‘ ausruft. Nicht zu Unrecht weist Rochedy darauf hin, dass es in diesem Text jedoch der „tolle Mensch“ ist, der von jenem Ereignis spricht, und es deshalb voreilig wäre, Nietzsche selbst diese Aussage zu unterstellen oder darin gar eine einseitige Affirmation jenes ‚Todes‘ zu erblicken. Es handelt sich für Rochedy vor allem um eine Diagnose, die „[d]as 20. Jahrhundert, mit seinen Weltkriegen, dem Kommunismus, dem Nationalsozialismus und der destruktiven Postmoderne“ (52) bestätigt habe. Man erkennt hier also die Frontstellung des Buches: Rochedy möchte eine Alternative zum Kommunismus bzw. zur linken Ideologie allgemein aufzeigen, aber auch zur Postmoderne, ohne darum eine faschistische Position zu vertreten. Dies jedenfalls ist sein Anspruch.

Nach einer kurzen Darlegung der „ewigen Wiederkunft“ und des „Übermenschen“ als Grundideen des Zarathustra geht Rochedy nun auf Nietzsches „fruchtbarste, schaffensfreudigste Epoche“ (62) ein, in der er „seine wesentlichen Werke“ (ebd.) verfasst habe. Dazu zählt ihm zufolge vor allem Nietzsches „Hauptwerk“ (65) Der Wille zur Macht. Zwar erwähnt er, dass dieses „Hauptwerk“ eine nachträgliche Kompilation seiner Schwester auf Basis seiner Aufzeichnungen war, doch rückt er die Sache insofern in ein irreführendes Licht, als er es als „unvollendet“ (65) bezeichnet. Tatsächlich jedoch brach Nietzsche die Arbeit an diesem Buch bewusst ab. Dies aber sollte den Status eines „Hauptwerks“, „in welchem Nietzsches Metaphysik“, wie Rochedy meint, „deutlicher zum Ausdruck kommt und sich schlüssiger offenbart“ (ebd.), in Zweifel ziehen – ganz abgesehen von der aus philologischer Sicht unhaltbaren und verfälschenden Editionspraxis seiner Schwester.

Dennoch steht jene „Metaphysik des Willens zur Macht“ (68) ganz im Zentrum von Rochedys Nietzsche-Deutung. Er umreißt sie wie folgt: „Das Universum ist eine Ganzheit, in dem …]nichts neu erschaffen und nichts zerstört wird. Sondern alles wird durch ein Spiel von Kraft und Macht zwischen jenen transformiert, denen es gelingt, eine feste Einheit zu bilden, wie etwa ein Baum, ein Bakterium, ein Stern oder ein Sandkorn, aber auch ein Mensch oder eine menschliche Zivilisation“ (69 f.). Dies formuliert Rochedys ethischen und theoretischen Leitgedanken: Man solle den so verstandenen „Willen zur Macht“ als Grundprinzip allen Seins anerkennen und bewusst ausleben, das heißt, alles zu versuchen, eine solche „feste Einheit“ herzustellen.

Das entscheidende Problem der Moderne erblickt er dementsprechend im „Verschwinden“ (73) dieses Willens im Zuge der Dominanz von Intellektualismus und Moralismus, in dessen „Degeneration und Perversion“ (74). Um diesen Vorgang genauer zu analysieren, folgt eine vertiefende Betrachtung der Genealogie mit ihrer Unterscheidung von auf Selbstbejahung beruhender „Herren-“ und auf Verneinung bzw. „Ressentiment“ gründender „Sklavenmoral“. Diese übernimmt Rochedy vollkommen unkritisch; er spricht sogar von einer hier entwickelten „Methode …, die im Grunde auf alle zeitgenössischen Prozesse anwendbar ist“ (97): „Allgegenwärtige Phänomene wie Antirassismus, Feminismus, Progressivismus und Sozialismus erscheinen in einem neuen Licht“ (ebd.). Diese vermeintlich wohltätigen und moralisch hochstehenden Bewegungen würden durch Nietzsches Brille kenntlich als Auswüchse eines pervertierten Willens zur Macht: „Die Sklavenmoral ist ausschließlich darauf gerichtet, die Starken, Aristokraten und wahrhaft Glücklichen zu eliminieren. Vertreter, die diese Moral in Stellung bringen, um gänzlich irdische, profan-politische Ziele zu verfolgen, schaffen nicht die Dominanz von Menschen über Menschen ab, sondern ersetzen nur die augenblicklich Dominanten“ (100).

Doch auch Rochedy will an der grundsätzlichen Existenz von Herrschaftsverhältnissen nichts ändern, sondern wirft den westlichen Eliten vor, im Bann der Sklavenmoral „im (Selbst-)Hass und Masochismus“ (ebd.) zu versinken und es damit zuzulassen, „dass eine Masse von inferioren Gestalten, die von den aristokratischen Vorfahren noch sofort und rücksichtslos ausgeschaltet worden wäre, die Möglichkeit zur Machtergreifung erhält“ (ebd.).

Eine gewisse Grausamkeit und Unterdrückung sei eben eine zentrale Bedingung für eine hohe Kultur. Daher sei eine auf Friedlichkeit und Gleichheit ausgerichtete Zivilisation dem Untergang geweiht, unterminiere ihre eigene Existenzgrundlage, entfremde sich im Namen eines einseitigen Rationalismus von allen „lebendige[n] Wirklichkeiten“ (117). Vor diesem Hintergrund ist Rochedy insbesondere die Europäische Union ein Dorn im Auge. Sie verweigere es, „sich anhand von konkreten und reellen Elementen zu definieren und zu identifizieren“ (115 f.).

Allerdings distanziert sich Rochedy ebenso vom traditionellen Nationalismus. Er entnimmt Nietzsches Schriften einen „wohlverstandenen Europäismus“ (126) und spricht von der „absolute(n) Notwendigkeit“ (127) zur europäischen „Einheit angesichts anderer entstehender Mastodonten wie den USA oder Russland“ (ebd.). Diese Einheit sei das eigentliche Gegenprojekt zum „Nihilismus“: „Die vereinte europäisch-abendländische Zivilisation muss die politische und menschliche Reaktion gegen Barbarei und Nihilismus sein“ (131). Aus diesem Grund sei auch der Nietzscheanismus Mussolinis und Hitlers zu verwerfen, da es ihnen misslungen sei, „ihre Politik … auf eine bewusst abendländisch-europäische Ebene (zu) heben“ (ebd.). Er bezieht sich stattdessen auf Ernst Jünger: Dieser sei „ein europäischer Aristokrat, ein wahrer Übermensch“ (ebd.) gewesen, der „für eine europäische Einigung im Namen der großen europäischen Kultur“ (132) plädiert habe.

Es sei jedoch möglich, wie nicht zuletzt Nietzsche selbst zeige, dem Nihilismus auch auf individueller Ebene zu entgehen: „Diese Dekadenz ist nicht unentrinnbar. Es ist uns möglich, gegen sie zu revoltieren, indem man sein eigenes Sein und Dasein in einer bestimmten Transformation umwandelt sowie eine (erneute) Umwertung aller Werte vollendet. Man beginnt, außergewöhnliche und höhergeartete Menschen um sich zu scharen und sich gegenseitig wertzuschätzen und zu unterstützen. So schließlich … entdecken wir den Übermenschen in uns“ (139).

Dabei geht es Rochedy jedoch dezidiert nicht um ein Programm universeller Selbstverwirklichung, sondern, im Anschluss an den italienischen Philosophen Julius Evola, um einen „radikalen Aristokratismus“ (143). Nur ‚starke‘ Menschen sollen und dürfen sich um eine solche heroische Lebenshaltung bemühen: „Der Zweck der Menschheit besteht … darin, überlegene Individuen – wenn nötig, sogar überlegene Völker – zu erzeugen“ (144). Er zitiert dafür zustimmend die gemeinhin umstrittensten Nietzsche-Passagen, in denen der „Meister“ von der Notwendigkeit neuer Sklavereien oder eines erneuerten Kastenwesens spricht: „Man muss eine Klasse oben festlegen, die für die Ausdünstungen des Vulgären von unten undurchlässig ist. Andernfalls wird sie unweigerlich untergehen“ (146). Gerade Demokratie und Sozialismus, so Rochedy im Anschluss an Nietzsche, ermöglichten durch ihre Erzeugung einer „große[n] plebejische[n] Masse“ (ebd.) die Entstehung einer neuen Aristokratie, nach der diese geschwächten ‚Bienenmenschen‘ instinktiv verlangen.

Ganz im Sinne des ‚umgedrehten Rousseauismus‘ des späten Nietzsche ruft auch Rochedy zur Rückkehr „zum Körper und Körperlichen“ (156) auf, die er immerhin auch mit einer Kritik der Umweltzerstörung verknüpft. Doch vor allem bedeutet dies die Entfesselung des inneren ‚Raubtiers‘: „Das Leben als Krieg annehmen, heißt, den Frieden mit dem Leben zu machen“ (159). Nur so lebe man im Einklang mit dem „Sein“ (163, Rochedy zitiert hier Heidegger): „Teilnehmen am Leben bedeutet in letzter Konsequenz, ihm gehorsam zu sein, indem man als Mensch seine gesamte vitale Kraft entfaltet. Im Einklang mit dem Existierenden zu existieren, das ist der Wille zur Macht“ (ebd.). Im Geiste dieser Ideen gelte es vor allem, den ‚inneren Nihilisten‘ zu überwinden im Sinne eines Ideals, das Rochedy vor allem in den französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts wie Fontenelle oder Rochefoucauld realisiert sieht: „Sie stellten den mustergültigen Typus eines elitären Menschen dar, der einst den Edelmann Frankreichs treffend charakterisierte. Dieser Typ – ihn haben die Heutigen allzu leicht vergessen – ist das Ideal des absolut Männlichen und der Universalbildung, die im Gegensatz zur modernen Spezialisierung steht. Der Edelmann ist vornehm, aber gleichzeitig auch ein Krieger. Er ist ebenso kultiviert wie lebenskräftig und tapfer; Philosoph und Christ, also von starker Spiritualität. Kurzum, dieses Ideal umschreibt den ‚kompletten‘, perfekten Mann, wie er uns in der Geistesgeschichte Europas oft entgegentritt“ (77).

Wer nur ein wenig mit den Klassikern der rechten Nietzsche-Rezeption vertraut ist, erkennt schnell, dass Rochedy nur deren ‚Einsichten‘ in popularisierter und aktualisierter Form wiederkäut. So rekurriert er auf die ‚klassische‘ Differenzierung von Kultur und Zivilisation, mit der ironischerweise Thomas Mann während des Ersten Weltkriegs zum Krieg gegen Frankreich aufrief (vgl. 83), er beruft sich an zentralen Stellen auf Heidegger (66, 139, 144, 163), auf Evola (88, 143) und eben auf Ernst Jünger, einmal auch Ayn Rand (142), die große Vordenkerin der neoliberalen Konterrevolution. Diese namentlichen Erwähnungen sind bemerkenswert, da Rochedy im Buch so gut wie nie Referenzen anführt. So bleibt der Kulturphilosoph Oswald Spengler zwar ungenannt, ist mit seiner Apokalyptik doch stets präsent, ebenso der Nazi-Philosoph Alfred Baeumler.

Die rhetorische Strategie des Buches ist raffiniert: Es beginnt relativ unpolitisch und sachlich – man wundert sich fast ein wenig –; erst im Verlauf offenbart Rochedy nach und nach seine politischen Ansichten. Es geht ihm, wie man dem Buch unschwer entnehmen kann, durchaus um eine Überwindung des bornierten Nationalismus im Dienste einer Vereinigung Europas; doch es soll sich um Europa handeln, das sich von liberalen, demokratischen, sozialen und humanistischen Werten verabschiedet hat und wieder an seine vergangene vermeintliche Größe anknüpft. Es soll von „kriegerischen“, „männlichen“ Werten regiert werden, und zum Erreichen dieses Ziels schreckt Rochedy auch vor gewaltsamen Methoden nicht zurück: „Ist … ein sauber ausgeführter Uppercut an das Kinn des Gegners zwingend weniger ‚klug‘ als das verbale Gegenargument?“ (154) Man wird sich das von ihm ersehnte Europa wohl ein wenig wie Putins Russland vorstellen müssen.

Entsprechend beschwert sich Rochedy darüber, dass die europäischen Städte „von afrikanischen Straßenhändlern“ (45) wimmeln, verkündet seinen Hass – vielleicht gar sein Ressentiment – gegenüber vermeintlich körperlich ‚verwahrlosten‘ Intellektuellen (vgl. 47, 154 f.) und bezeichnet die frühen Christen als „menschliche[n] Abschaum“ (94) und „Versager“ (ebd.).

Zwar verteidigt er Nietzsche mit dem Argument, ein Antifeminist, aber keineswegs misogyn gewesen zu sein (vgl. 140). Doch es ist klar, dass in diesem ‚neuen Europa‘ Frauen – ebenso wie alle anderen ‚minderwertigen‘ Menschen, ‚Behinderte‘, Nicht-Weiße, Homosexuelle etc. – eine bestenfalls untergeordnete Rolle spielen werden. Nicht misogyn ist das allenfalls, wenn man, wie er, davon ausgeht, Frauen seien von Natur aus zu einer devoten Position bestimmt.

Besonders wüst wird es jedoch, wenn Rochedy an den neurechten Verschwörungsmythos vom ‚Großen Austausch‘ anknüpft (vgl. 104, 113) und in diesem Sinne den europäischen „Ethnomasochismus“ (111) geißelt. Es gebe eine regelrechte Strategie bestimmter ‚Eliten‘, die – aus welchen Gründen auch immer – darauf abziele, die angestammte weiße europäische Bevölkerung durch Afrikaner und Muslime zu ersetzen.

Auch wenn Rochedy also eifrig darum bemüht ist, sich vom historischen Faschismus, dem Imperialismus und Militarismus zu distanzieren, und sogar von der Entfesselung einer „absurde(n) Gewalt in zwei Weltkriegen“ (111) spricht, wird nicht klar, wie er sich davon abgrenzen bzw. diese ‚Degeneration‘ verhindern möchte. Denn insbesondere die deutschen Nazis verfolgten ja durchaus die Idee eines von ‚Ariern‘ dominierten Abendlands, das es vor Judentum, ‚Bolschewismus‘ und westlichem Liberalismus zu retten gelte, und agitierten in diesem Sinne in den von ihnen besetzen Gebieten. Handelte es sich bei den Weltkriegen, bei Imperialismus und Faschismus, nicht genau um Eruptionen einer ursprünglichen und verdrängten Grausamkeit und „Männlichkeit“, die Rochedy doch eigentlich begrüßen müsste, auch wenn er die Notwendigkeit ihrer zivilisatorischen Einhegung durchaus zugesteht?

Und wie genau distanziert er sich von neonazistischen Hooligans oder Terroristen, die „afrikanischen Straßenhändlern“ oder anderem „Abschaum“ einen „Uppercut“ im Sinne der von Rochedy propagierten ‚Wehrhaftigkeit‘ verpassen oder sie gar massenhaft niedermetzeln wie Anders Behring Breivik oder Brenton Tarrant, die sich doch auf genau dieselben Konzepte bezogen? Man muss Rochedy nicht einmal unterstellen, sich subjektiv von diesen ‚Exzessen‘ nicht tatsächlich zu distanzieren wie der während des Zweiten Weltkriegs geläuterte Ernst Jünger – doch wenn er es ehrlich meint, müsste er sich ernsthaft fragen, ob es sich nicht um Exzesse seiner eigenen Ideologie handelt.

Was nun seine Nietzsche-Deutung angeht, gilt für Rochedy dasselbe, was er den „linken ‚Nietzscheanern‘“ (149) unterstellt: Sie „missbrauchen … ständig nur die Hälfte seines Denkens“ (ebd.). Er kritisiert zu Recht die unter postmodernen Interpreten verbreitete Unart, die Einheitlichkeit von Nietzsches Denken zu leugnen und in ihm nichts weiter als einen Skeptiker und Ironiker zu verstehen, der eigentlich nichts zu sagen habe außer dem Aufruf zur rein negativen geistigen Befreiung. In der Tat gleicht ein solcher Nietzsche eher Max Stirner (vgl. 150). Doch Rochedys Interpretation krankt an demselben Fehler, alle gegenläufigen Aspekte in Nietzsches vielfältigem Denken – insbesondere seine Werke vor dem Zarathustra – auszublenden.

So findet sich in der Morgenröthe – über die Rochedy kaum spricht – der bemerkenswerte Aphorismus Nr. 206, in dem Nietzsche in sehr deutlichen Worten das Leid der europäischen Arbeiterschaft benennt und anklagt und als Lösung selbst eine Art ‚großen Austauschs‘ vorschlägt: Die europäischen Arbeiter sollen in andere Kontinente auswandern, um dort ein heroisches Leben führen zu können und für eintönige Arbeiten durch besser geeignete Chinesen ersetzt zu werden.

Diese Überlegung Nietzsches ist natürlich, als realpolitische Agenda genommen, eher ein Kuriosum und ihrerseits rassistisch. Doch sie zeigt immerhin, dass Nietzsche wenigstens in dieser Phase die ‚soziale Frage‘ keinesfalls gleichgültig war, und er sich zumindest Gedanken machte, wie man sie lösen könne – und schlägt zu ihrer Lösung eine Maßnahme vor, die Rochedy doch als Inbegriff des „Ethnomasochismus“ verunglimpft. Und wieso eigentlich nicht? Akzeptiert man einmal die (rassistische) Prämisse, dass es ‚Rassen‘ gibt, die mehr oder weniger gut zur Unterordnung bestimmt sind, warum nicht große Teile der europäischen Bevölkerung austauschen? In ähnlichem Sinne spricht Nietzsche wiederholt davon, dass man, wenn man das antisemitische Stereotyp akzeptiert, eigentlich auf die Erzeugung einer ‚arisch‘-jüdischen ‚Mischrasse‘ hinarbeiten müsse, um die den Juden zugeschriebenen nützlichen Eigenschaften mit denen der ‚Arier‘ zu verbinden.

Was Nietzsche zugleich immer wieder – schon in der von Rochedy nur beiläufig erwähnten zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, Über Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben – betont, ist der perspektivische Charakter aller Erkenntnis und die Notwendigkeit des Experimentierens mit verschiedenen Wertmaßstäben, um zu niemals definitiven, jedoch immer besseren Weltinterpretationen zu gelangen. In diesem Sinne stehen auch alle Überlegungen des späten Nietzsche zum „Willen zur Macht“, zur Notwendigkeit einer Wiederkehr der „Herrenmoral“, zu neuen Sklavereien und Kastensystemen etc. – diese Stellen erfindet Rochedy ja nicht, das steht alles wörtlich bei Nietzsche; auch in seinen publizierten Schriften – allerdings unter dem expliziten Vorbehalt, eine solche „Perspektive“ bzw. ein bloßes Gedankenexperiment anzustellen, dem man als Leser durchaus widersprechen kann und auch soll. Immer wieder spricht Nietzsche als Kernessenz seiner Schriften aus, dass es darum gehe, ein eigenes Urteil zu gewinnen und sich von seinen Schriften nicht beeindrucken zu lassen. So lautet eines der die Fröhliche Wissenschaft einleitenden Gedichte:

„Es lockt dich meine Art und Sprach,

Du folgest mir, du gehst mir nach?

Geh nur dir selber treulich nach: –

So folgst du mir – gemach! gemach!“

Auch Zarathustra stößt seine Jünger immer wieder von sich. Er will keine Gläubigen um sich scharen, keine ein- für allemal feststehende Doktrin verkünden. Und dies genau im Namen der Vielfalt des „Lebens“ und der Wirklichkeit, die es immer wieder neu zu entdecken und zu definieren gelte.

Wenn also Rochedy bei Nietzsche eine „Metaphysik“ aufzuspüren meint und in seiner experimentellen Genealogie der Moral einen Generalschlüssel vermutet, der ausreicht, die komplexe soziale Realität der Moderne hinreichend zu verstehen, so entspricht er zwar, partiell, dem Wortlaut von Nietzsches Schriften, er widerspricht jedoch ihrem Geist. Nietzsche ruft wiederholt zur „Selbstüberwindung“ auf und richtet dieses Programm dezidiert, so der Untertitel des Zarathustra, an „Alle und Keinen“. Rochedy selbst stellt seinem Buch sogar das Zitat voran: „Leben – das heißt für uns Alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln“ (7).

Doch diesem Programm einer heroischen Selbstwerdung als permanenter Selbstüberwindung folgt Rochedy nicht, sondern glorifiziert in kitschiger Manier Nietzsche und Wagner zu den „wohl zwei größten Genies, die die Welt jemals gesehen hat“ (25), und bezeichnet sich selbst als „Adepten“ (63) Nietzsches. Es ist jedoch sehr unnietzscheanisch, in seinen Schriften Material für ein politisch-ideologisches Programm zusammenzuklauben, das sich – wie Rochedy selbst zugibt – spätestens seit 1945 gründlich desavouiert hat.

Es ist ohne Zweifel wahr, dass unsere Zivilisation, ja, die Menschheit vor großen Herausforderungen steht, zu deren Lösung es radikaler Ideen bedarf. Doch, was die vermeintlich avancierte Neue Rechte zu bieten hat, ist der billige Abklatsch längst veralteter und historisch widerlegter Konzepte, der auf dem waghalsigen Versuch gründet, die großen Probleme der Gegenwart auf das einfache Schema „Herren- vs. Sklavenmoral“ zu reduzieren. Wen soll das ernsthaft überzeugen außer denjenigen, die die Realität ressentimentgeladen betrachten und verzweifelt nach Schuldigen für ihr eigenes Unvermögen suchen und sie eben nicht im ‚alten weißen Mann‘, sondern in einer ominösen ‚postmodernen Elite‘ finden? Nietzsches großer Appell: Befreit euch von Denkblockaden, öffnet euch der Vielfalt des Seins! Wagt neue Experimente und neue Perspektiven – aber holt bitte nicht verstaubte Götzen aus dem Gruselkabinett hervor!

In diesem Sinne kann ich mit Rochedy eigenen Worten enden: „Der selbsternannte ‚Unzeitgemäße‘ des 19. Jahrhunderts ist im 21. so zeitgemäß wie nie. Man muss ihn lesen und wieder lesen, auch wenn man nicht alle seine Ideen ungeprüft und bedingungslos übernehmen will (was er selbst als stets kritischer Geist wohl missbilligt hätte)“ (168).

Zima – Kritische Theorie

Peter V. Zima: Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne. Nostalgie als Kritik

br., 295 S., 39,– €, Narr Franck Attempto-Verlag, Tübingen 2024

von Konrad Lotter

Zwei bereits im Vorwort zitierte Aussagen geben dem Buch die Richtung vor. Die eine stammt von Adorno und lautet: das „Maß des neuen Schlechten ist einzig das Frühere“ (und Bessere); die andere stammt von Marcuse: „Die kritische Theorie hat es in bisher nicht gekanntem Maße mit der Vergangenheit zu tun, gerade sofern es um die Zukunft geht“.

In beiden Aussagen, so Zima, kommt der Wandel der Kritischen Theorie zu einer Theorie der Spätmoderne zum Ausdruck. Unter dem Eindruck des konsolidierten Kapitalismus und der Schrecken des Stalinismus verabschieden sich die Vertreter der Kritischen Theorie in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts von Marx und der Hoffnung auf eine proletarische Revolution und schwenken auf eine Argumentationslinie ein, die von den spätmodernen Soziologen und Philosophen Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber vorgezeichnet ist: radikale Kritik an den Missständen, Entfremdungen und Fehlentwicklungen des kapitalistischen Systems, verbunden mit der Erinnerung an das Positive, das im Prozess des gesellschaftlichen Fortschritts verloren gegangen ist. Dabei handelt es sich um keinen romantischen Antikapitalismus, der in eine idealisierte Vergangenheit zurückkehren will, sondern um die Forderung, die einmal verwirklichten Errungenschaften an Humanität nicht preiszugeben, sondern in die fortgeschrittene Form der Gesellschaft aufzuheben.

In diesem Sinne sind für Horkheimer, Adorno oder Marcuse, die gleichermaßen dem Großbürgertum entstammen, der liberale Individualismus und die damit verbundene Bildung, Kritikfähigkeit und Autonomie des Individuums ein Wert, hinter den nicht zurückgefallen werden darf. Hatte die Kritische Theorie in ihren Anfängen noch mit Marx das Proletariat als „Subjekt“ der Geschichte begriffen, so ist jetzt das autonome Individuum an seine Stelle getreten. Bei Habermas, in der zweiten Generation der Kritischen Theorie, ist daraus die „herrschaftsfreie Kommunikation“ der vernunftbegabten, autonomen Individuen geworden, die sich vom „besseren Argument“ leiten lassen.

Der Schwerpunkt des Buches liegt allerdings nicht auf der skizzierten Entwicklung der Kritischen Theorie hin zu einer Theorie der Spätmoderne, sondern im Übergang (oder eigentlich Verfall) der Spätmoderne zur Postmoderne. Trotz ihrer Abkehr von Marx bleiben „Utopie“, „Revolution“ oder „Überwindung“ (des Kapitalismus) Themen der zur „Frankfurter Schule“ gewandelten Kritischen Theorie, wenn auch nicht mehr im Sinne von Marx, sondern mit der vagen Perspektive auf ein „ganz Anderes“. Bei den Postmodernen ist die Abkehr von Marx noch viel entschiedener, so dass selbst diese Themen als überholt, anachronistisch und sogar als gefährlich angesehen werden. An die Stelle der Kritik der naturwüchsigen (kapitalistischen) Verhältnisse treten ein „Living Without an Alternative“ (Zygmund Baumann) und die rückhaltlose Anerkennung der bestehenden Verhältnisse. An die Stelle des (Gebrauchs-)Werts der Dinge tritt die Universalität des Tauschwerts, der alle Wert-Differenzen einebnet (Jean Baudrillard). An die Stelle des Versuchs, die Selbstbestimmung der Individuen zu fördern, tritt deren Gleichschaltung innerhalb der Massengesellschaft (Jean-François Lyotard). Die Reduktion der Vernunft auf die Zweckrationalität und die „Eindimensionalität“ des Menschen werden als Faktum hingenommen und akzeptiert (Gianni Vattimo). Als positiv wertet Zima dagegen die „Vielfalt“ der postmodernen Theoretiker, ihr Interesse für das Einzelne; darin sieht er einerseits eine Verwandtschaft mit Adornos „Akzentuierung des Partikularen“, andererseits einen Gegensatz zum Universalismus der „großen Erzählungen“ von Hegel oder Marx.

Bemerkenswerterweise sehen sich die Theoretiker der Postmoderne selbst oftmals in völliger Übereinstimmung mit der Frankfurter Schule (Michel Foucault) oder knüpfen ausdrücklich an deren Gedanken an. Tatsächlich aber, so die Kritik Zimas, treiben sie deren Gedanken nur „auf die Spitze“ und verkürzen sie, um sie dann als „Argumente gegen sie zu wenden“. So kehrt Lyotard das „Erhabene“ Adornos, das „die Kritikfähigkeit der Kunst und des Einzelnen stärken sollte, gegen das Subjekt“. Der französische Soziologe Michel Maffesoli analysiert (in Übereinstimmung mit Horkheimer und Adorno) zwar den Niedergang der individuellen Autonomie, feiert deren Unterordnung unter die Masse aber als „postmodernen Fortschritt“. Baudrillard erinnert zwar an die Kritik des Tauschwerts, vertritt aber die Auffassung, dessen Herrschaft über den Gebrauchswert sei so total, dass er als „Archimedischer Punkt der Kritik“ ausgedient hat. Grundsätzlich hatte die Kritische Theorie (mit Walter Benjamin) zwischen dem Fortschritt der Naturbeherrschung und dem der Gesellschaft und der in ihr verwirklichten Humanität unterschieden. Dieser Unterschied ist in der Postmoderne, die allein den Fortschritt der Naturbeherrschung thematisiert, verschwunden. Adorno und Horkheimer kritisierten zwar die rücksichtslose Beherrschung der Natur, deren Methoden auf die Beherrschung des Menschen übertragen werden; gleichzeitig widmen sie dem Individualismus des Liberalismus eine „rettende Kritik“. Diese Dialektik kommt in den postmodernen Theorien nicht mehr vor. Gezeigt wird stattdessen nur, wie das Netz der Disziplinierung und der Angleichung der Individuen immer enger wird, so dass sie zuletzt vollständig verschwinden „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (Foucault).

Als Literaturwissenschaftler verweist Zima oftmals auf Parallelen zwischen Philosophie und Literatur und macht auf Selbstreflexionen der Moderne aufmerksam, wie sie auch bei Baudelaire, Valery, Kafka oder Broch anzutreffen sind. Wiederholt zitiert er den bezeichnenden Satz von Robert Musil: „Der Individualismus geht zu Ende … aber das Richtige (an ihm) wäre hinüberzuretten.“ Was wäre aber das Richtige? Zimas Antwort (im Sinne der Frankfurter Schule) lautet: die individuelle Autonomie des liberalen Zeitalters, die Fähigkeit zur Kritik und zum Widerstand, die Fähigkeit, dem ideologischen und kommerzialistischen Konformismus zu widerstehen, letztlich die Würde des Menschen.

Zimas Buch ist gut gegliedert, in seinen Argumenten (auch dank vieler Wiederholungen) gut nachvollziehbar. Es vermittelt ein breites Spektrum der weitgespannten Diskussion, in der Zima am Ende auch selbst Stellung bezieht. Er plädiert (wie schon in früheren Werken) für eine „dialogische Erneuerung der Kritischen Theorie, die postmoderne Kritiken an der (Spät-) Moderne ernst nimmt und den Universalismus der Kritischen Theorie mit dem Partikularismus der postmodernen Denker dialektisch zusammenführt“. Er wehrt sich vor allem gegen Habermas, der die Postmoderne als bloßen Konservativismus abtut und möchte Horkheimer und Adorno „mit Hilfe des postmodernen Partikularismus … korrigieren und ergänzen“. Mit diesem Konzept versucht er, „unzeitgemäß gegen den Zeitgeist zu denken“. So unzeitgemäß, wie behauptet, erscheint dieses Konzept freilich nicht. Höchst zeitgemäß und dem Mainstream entsprechend ist vielmehr, was Zima mit beiden Ansätzen, deren Synthese er anstrebt, verbindet: die Ablehnung der Marxschen Theorie und der Mangel einer wirklichen, gesellschaftlichen (nicht bloß individuellen) Perspektive, die über die Grenzen des gegenwärtigen Kapitalismus hinausblickt.

Ideologiekritik im „Widerspruch“

Alexander von Pechmann

Ideologiekritik im „Widerspruch“

Phasen der Kritik und Selbstkritik

I.

1980 gegründet, war der „Widerspruch – Münchner Zeitschrift für Philosophie“ seinem Selbstverständnis nach ein Kind der Studentenbewegung. Anders als etwa das Berliner „Argument“, das sich in den 60er Jahren seinen Standpunkt erst erarbeitet hatte, war der Widerspruch von Beginn an fertig. Er hatte einen klaren Standpunkt und hatte sich, wie das Editorial der ersten Nummer darlegt, einen ausgewiesenen ideologiekritischen Auftrag gegeben. Damals, Anfang der 80er Jahre, herrschten in der Münchner Philosophie zwei Richtungen: auf der einen Seite die traditionelle geisteswissenschaftliche Ausrichtung, die von den Philosophen Hermann Krings, Robert Spaemann und Dieter Henrich repräsentiert wurde, und auf der anderen die in den 60er Jahren entstandene Wissenschaftstheorie, die von Wolfgang Stegmüller etabliert und vertreten wurde.

Mit der Zeitschrift Widerspruch sollte auch in München die mit der Studentenbewegung wiedererweckte historisch-materialistische Philosophie eine Plattform erhalten, die zugleich die ideologiekritische Auseinandersetzung mit den dominierenden konservativen und liberalen Positionen suchen wollte. So hatten denn auch die Hefte der ersten Jahre eine klare Linie: „Wissenschaft und sozialer Fortschritt“, „Freiheit der Wissenschaften?“, „Friedensbewegung und Friedenstheorie“, „Hilfe zur Selbsthilfe im Konservatismus“ waren die Titel der Hefte. Sie führten in ihren Beiträgen vom historisch-materialistischen Standpunkt aus die Auseinandersetzung um die Demokratisierung der Gesellschaft und die Erhaltung des bedrohten Friedens auf den Konfliktfeldern der damaligen Zeit: den Berufsverboten für fortschrittliche Wissenschaftler wie Horst Holzer, der Nato-Nachrüstung durch die Pershing II-Raketen oder der von der neuen Kohl-Regierung ausgerufenen „geistig-moralischen Wende“. Und das Heft über die „Philosophie im Faschismus“ unternahm es erstmals, das von der herrschenden Philosophie bislang Verdrängte aufzuarbeiten.

So klar und einheitlich der philosophische Standpunkt zu dieser Zeit auch war, so zeigten sich doch Unterschiede und Unsicherheiten auf dem Feld der Ideologiekritik: Sollte man die Auseinandersetzung mit den konträren Auffassungen polemisch führen, ihnen Widersprüche der Argumentation nachweisen, um ihre Vertreter lächerlich zu machen, oder hinter der scheinbar wohlklingenden Rede die unlautere Absicht, das versteckte Herrschaftsinteresse, entlarven, sollte die Kritik also die Leser:innen über die geistige Beschränktheit bzw. die Verlogenheit der Autoren aufklären? Oder sollte Ideologiekritik vielmehr erklärend verfahren, indem sie zeigt, wie und welche gesellschaftlichen Interessen sich in den jeweiligen Theoriegebäuden artikulieren, um so den geistigen Überbau auf seine materielle Basis zurückzuführen? – Und weiterhin: Sollte diese Kritik eher theoretisch oder praktisch motiviert sein, und wäre demnach das Kriterium der Kritik die logische Kohärenz der Argumentation oder aber die Gemeinsamkeit der politischen Ziele? So wurde denn auch auf manche politische „Bündnispartner“, wie den christlichen Sozialisten Helmut Gollwitzer, munter eingeprügelt, um seinen wirklichkeitsfremden Idealismus zu entlarven, während andere aus politisch motivierter Absicht von der Kritik verschont blieben.

II.

Schon bald jedoch fing die klare ideologiekritische Frontstellung zwischen wahrem und verkehrtem Bewusstsein an sich aufzulösen. Neue Fragen und Problemfelder wurden relevant: Mit den Heften „Computer – Denken – Sinnlichkeit“ und zur „Gen-Technologie“ setzte Mitte der 80er Jahre die sozialphilosophische und ethische Auseinandersetzung der Zeitschrift mit den neuen Technologien der digitalen bzw. genetischen Informationsverarbeitung und ihren damals noch unüberschaubaren Anwendungsbereichen ein. Die zunehmend ins Bewusstsein tretende Umweltzerstörung in West und Ost, die Herausforderungen der Frauenbewegung für das traditionelle Rollenverständnis, die neue Suche nach sozialer und geistiger Geborgenheit mit ihrer wachsenden Sensibilität für die Heimat – diese Themen der 80er Jahre passten nicht mehr recht in das bisherige ideologiekritische Schema von „wahr“ und „verkehrt“. Überblickt man die Beiträge der Hefte dieser Zeit, zur „Wiederkehr des Mythos“, zur „Heimat. Zwischen Ideologie und Utopie“ oder zum „Frauen-Denken“, so erkennt man, dass nun ein anderes Schema vorherrschend wurde, das Schema einer dialektischen Differenzierung: Einerseits, so die Argumentation, enthalten die genannten Technologien wie die neuen sozialen Bewegungen etwas Wahres, da sie das menschliche Handlungspotential erweitern bzw. das Unbehagen an Strukturen des bestehenden Gesellschaftssystems artikulieren; andererseits bergen dieselben Phänomene jedoch auch Gefahren, weil die neuen Techniken als Mittel der Herrschaftskontrolle oder Profitmaximierung missbraucht werden, bzw. die Umwelt- und Frauenbewegungen zugleich ein romantisch-reaktionäres Gedankengut, einen „gefährlichen Irrationalismus“, wie es hieß, transportierten. Hier angesichts der Komplexität und Interpretationsvielfalt der neuen technischen wie sozialen Phänomene das Angemessene zu treffen, erwies sich als schwierig; der vormals eindeutige ideologiekritische Standpunkt löste sich in den verschiedenen Beiträgen der Hefte in ein schillerndes Spektrum unterschiedlicher Auffassungen auf.

III.

Die katastrophé der Ideologiekritik, die zum Umdenken zwang, kam für den Widerspruch 1987, drei Jahre vor der Umwälzung der globalen Verhältnisse. Das Heft zum „Neuen Denken“ war noch nach dem bisherigen Muster als kritische Auseinandersetzung mit der damals einflussreichen New-Age-Bewegung geplant. Dieser Art des Aufgreifens gesellschaftlicher Phänomene kam jedoch das sowjetische Konzept des „Neuen Denkens“ dazwischen: Es stellte das bisherige Fundament einer historisch-materialistischen Analyse und Kritik recht grundsätzlich in Frage. Denn jetzt sollte nicht mehr der historische Fortschritt, d.h. eine antikapitalistische, auf Befreiung zielende Praxis, der Kompass sein, der die Ideologiekritik motiviert und orientiert, sondern das gerade Gegenteil: die angesichts der globalen Probleme, des atomaren Wettrüstens, der Naturzerstörung und der Unterentwicklung der Dritten Welt, gefährdete Existenz und damit die Erhaltung der Menschheit.

Von diesem Standpunkt der Bewahrung der Menschheit aus musste nun aber die Auffassung vom Fortschritt als Ideologie erscheinen, die zuvor doch Grundlage und Zweck der ideologiekritischen Arbeit war. „Auch die Ideologiekritik kann ideologisch und falsch sein“, heißt es jetzt im Heft. „Die Ideologiekritik muss also selbst noch einmal einer Ideologiekritik unterzogen werden.“ Sollte angesichts der atomaren und ökologischen Bedrohungen diese Konzeption die richtige und damit das Bewusstsein von der Bewahrung der Menschheit das wahre sein, dann, so die naheliegende Schlussfolgerung, wäre die bisherige Ideologiekritik auf der Grundlage eines ‚beschränkten Bewusstseins‘ erfolgt, sie wäre, als ‚naiver Fortschrittsoptimismus‘, selbst Ideologie gewesen.

Die Konfrontation der zwei Paradigmen „Fortschritt“ versus „Bewahrung“ gefährdete das Projekt Widerspruch. Sie zwang, was bislang nicht nötig war, zur Reflexion und zur Verständigung über die eigenen Grundlagen. Diese Phase der Selbstreflexion fand ihren Niederschlag in zwei Heften mit den – zuvor als absurd erschienenen – Titeln am Anfang der 90er Jahre: „Ende der Linken?“ und „Wozu noch Intellektuelle?“. Sie stellten eben das zur Disposition, was seit Gründung der Zeitschrift ihr unproblematisches philosophisches Fundament gewesen war. „Die Linke“, so wurde jetzt festgestellt, „bedarf einer geschichtlichen Perspektive; aber die realen Bedingungen dafür fehlen heute offenbar. Ist mit dem Ende des ‚realen Sozialismus‘ auch die Linke am Ende?“ Bedeutet das, dass mit der epochalen Wende der Typus des Linksintellektuellen, der sich der emanzipatorischen Ideologiekritik verpflichtet wusste, vom „Sieger der Geschichte“ nun zum allseits verhöhnten „Auslaufmodell“ geworden ist?

IV.

Versucht man angesichts der Vielfalt der Stimmen, die sich zu dieser Selbstverständigungsdebatte im Widerspruch zu Wort gemeldet haben, ein neues Fundament für die Zeitschrift herauszuschälen, so bestand dies zum einen in der bitteren Einsicht in die Alternativlosigkeit des Bestehenden und, damit verbunden, in die Ortlosigkeit systemverändernder Praxis sowie zum anderen in der Suche nach der Neuverortung linker Theoriebildung innerhalb des bestehenden Systems. „Am Ende“, so hieß es jetzt, sei „eine Theorie und Praxis …, die Geschichte als einen ‚dialektisch-gesetzmäßigen Fortschritt zum Sozialismus‘ zu verwirklichen glaubte. Der Sozialismus als ‚Ideal‘ hingegen erschien den meisten Autoren als weitgehend ungebrochen“, – ohne freilich dieses „Ideal“ wie auch den Ort linker Theoriebildung genauer bestimmen zu können.

Auf der Basis eines solchen Verzichts auf die geschichtsphilosophische Dimension des eigenen Selbstverständnisses kristallisierte sich in der Folgezeit ein neues Muster der Ideologiekritik heraus. An die Stelle der vormaligen Schemata der Polarisierung bzw. dialektischen Differenzierung trat nun die Aufgabe, die „immanenten Widersprüche“ des Systems herauszuarbeiten und sie gegenüber denjenigen Ideologien kenntlich zu machen, die den sich nun globalisierenden Kapitalismus – der freilich so nicht mehr genannt werden durfte – verklärten. So hatten in den 90er Jahren die Hefte vor allem die Konfliktlinien, Gegensätze und Widersprüche des sich herausbildenden Weltsystems zum Gegenstand: Die Beiträge zur „multi-kulturellen Gesellschaft“ thematisierten die Konfliktpotentiale zwischen der Eigen- und Fremdkultur, die aus der Auflösung der bisherigen Grenzen erwuchsen, wiesen freilich auch auf die darin enthaltene Utopie eines friedlichen Miteinanders der Völker und Kulturen hin. „Markt und Gerechtigkeit“ widmete sich der wachsenden Verteilungsschere der materiellen und sozialen Güter und kritisierte den zunehmenden Realitätsverlust der systemkonformen Markt-Ideologien. Die Hefte über „Gewalt und Zivilisation“ und „Nie wieder Krieg“ versammelten Beiträge, die das scheinbar paradoxe Phänomen untersuchten, dass trotz der Zivilität der Gesellschaft die Gewalt im Inneren wie nach Außen zunimmt, und wie der Einsatz militärischer Gewalt heutigentags ideologisch legitimiert wird. Und das Heft zu einer „Philosophie des Mülls“ schließlich machte den ökologischen Skandal zum Thema, dass „zwischen die Reiche der Freiheit und der Natur die Berge aus Müll wachsen.“

Nach dem Verlust der Zukunftsperspektive brachte das neue Schema der „inneren Widersprüche“ zwar den heilsamen Zwang, genauer auf die Tatsachen hinschauen zu müssen, um sie aufdecken zu können. Es hatte aber den Mangel, diese Widersprüche nicht mehr als Triebfedern seiner revolutionären Umgestaltung begreifen, sondern das kapitalistische System nur immanent an seinen eigenen Ansprüchen der Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit messen zu können. Durch eine solche immanente Kritik sollte zumindest das „Ideal“ des Sozialismus und damit das Bewusstsein des Anders-Möglichen in Erinnerung gehalten werden.

V.

Um die Jahrhundertwende dann wurden die öffentliche Kritik und die Proteste gegen die Globalisierung lauter. Im Heft „Wagnis Utopie“, erschienen 1999, heißt es erstmals wieder: „Die Zeit scheint reif zu sein, über das was ist, hinaus wieder das, was sein soll und sein kann, zu denken, Utopisches als ein real-mögliches Gegenbild zum Bestehenden zu entwerfen.“ Diesem Gegenbild stand jedoch entgegen, dass die sich neu formierenden Antiglobalisierungsbewegungen als Träger des Protestes sich in der Realität als äußerst heterogen zeigten. Sie zu verstehen und zu begreifen, zwang die Zeitschrift, den Horizont der bisherigen Ideologiekritik zu erweitern; sie stellten damit aber auch das Fundament der immanenten Kritik erneut und auf andere Weise in Frage. Hatte das Heft über „Afrikanische Philosophie“ noch die Debatte der afrikanischen Philosophen um die verheerenden Auswirkungen des Weltmarkts auf die traditionellen Lebens- und Wirtschaftsformen zum Thema, traten jetzt außereuropäische Akteure aus dem lateinamerikanischen, islamischen, indischen und chinesischen Raum auf den Plan. Ihr Auftreten musste den bisherigen sozialphilosophischen Rahmen der Kritik um die Dimension des Kulturellen erweitern.

Die Auseinandersetzung mit diesen neuen Trägern des Protestes provozierte jedoch zugleich die Frage, ob und inwiefern der eigene Standort und die bisherige Form der Ideologiekritik tiefer in der europäischen Denktradition verwurzelt waren als gedacht. Die Artikel in den Heften am Anfang dieses Jahrzehnts über die „Kritik der Globalisierung aus außereuropäischer Perspektive“ und über den „Kampf der Kulturbegriffe“ trugen diese Debatte um die Universalität resp. Relativität des eigenen Standpunkts aus. Insbesondere die Autoren nicht-westlicher Kulturen wehrten sich gegen die Zumutung, „die Wahrheit durch die eigene Tradition exklusiv zu definieren.“ Ihnen standen – recht vermittlungslos – Beiträge gegenüber, die sich dagegen verwahrten, den Universalitäts- und Wahrheitsanspruch der eigenen Position preiszugeben. So deutete ein Teil der Beiträge die außereuropäischen Proteste als verständliche Reaktionen auf die Zumutungen einer „Verwestlichung“, andere sahen in ihnen vormoderne Antworten auf die stattfindende Modernisierung. Ein ähnliches Bild zeigten die Hefte über den „Wertestreit um Europa“ und die „Perspektiven postnationaler Demokratie“. Während die einen Autoren die politische Integration Europas an den eigenen, den europäischen Werten maßen, erkannten andere Autoren in dieser Entwicklung die Neuformierung eines imperialen Lagers, die „Anpassung des institutionellen Überbaus an die ökonomischen Notwendigkeiten.“

VI.

Am Ende des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts schien es, dass mit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 nun wieder die alten und vertrauten Krisenphänomene der kapitalistischen Produktionsweise und damit auch Vorstellungen sozialistischer Alternativen zurückkehrten. Die Rückkehr dieser Krisen konnte zwar dazu dienen, die vormaligen Beiträge zur Kritik der Marktideologien nachträglich zu rechtfertigen; sie machte aber zugleich die Diskussion um reale Alternativen zum System der Marktwirtschaft unabweislich, das nun öffentlich auch wieder als „Kapitalismus“ bezeichnet werden durfte. Diese Suche nach Alternativen zum Bestehenden stand denn auch im vergangenen Jahrzehnt im Zentrum. So unternahm es das Heft „1968 – Ideen, Entwürfe, Utopien“ Antworten auf die Fragen nach dem Erinnerungswerten und Unabgegoltenen der 68er Bewegung zu geben; und das Heft über „Alternative Ökonomien“ erörterte die Konzepte einer „Wohlfahrts-“, einer „Solidarischen“ bzw. einer „sozialistischen Ökonomie“, die den Anspruch erhoben, den neuen globalen sozialen wie ökologischen Herausforderungen Rechnung zu tragen.

Auf der politischen Ebene setzten die Hefte über das „Vertrauen in der Krise“ (51), „Brauchen wir Eliten?“ (53), „DemoKratie“ (57) sowie über die „Arcana Imperii. Die dunkle Seite des Staates“ (59) sich nicht nur mit der gegenwärtigen Krise der Repräsentation und dem schwindenden Vertrauen in das Modell der parlamentarischen Demokratie auseinander, sondern suchten auch nach den institutionellen Bedingungen, unter denen die Überwindung dieser Kluft zwischen der sozialen Lebenswelt und dem politischen System möglich wäre. Im historischen Rückblick auf die Zeit nach dem 1. Weltkrieg dann sollte das spätere Heft zur „Räterepublik in Bayern“ (67) den Streit um das Rätesystem als eine Alternative zum Modell der parlamentarischen Demokratie vergegenwärtigen.

Mit den weltweiten Protestbewegungen gegen das westliche kapitalistische System, allen voran dem „arabischen Frühling“, tauchte dann auch wieder die alte, in der Versenkung verschwundene Frage nach dem „revolutionären Subjekt“ als dem sozialen Träger der politischen Veränderung auf, mit dem das Heft Nr. 55 sich befasste. Dessen Beiträge blieben freilich, im Rückblick gesehen, recht vage und diffus. Sie waren offenbar mehr Ausdruck eines Wunsches als der Wirklichkeit. Ähnliches galt auch für das Heft über die: „Philosophie in China“. Die Beiträge in diesem Heft gaben zwar einen ausgezeichneten Ein- und Überblick über das traditionell säkular und pragmatisch geprägte Denken in der Volksrepublik China und arbeiteten auch die Differenzen zu einem westlichen ‚Universalismus‘ heraus; sie ließen aber die Frage nach einem möglichen Gegengewicht zum westlichen Modell des Kapitalismus unbeantwortet.

Auf der Ebene des Sozialen war dann das Heft zum „Internet und der digitalen Gesellschaft“, 2010 erschienen, mit der Vorstellung und Hoffnung auf einen, technologisch bedingten, Wandel verbunden. Das World Wide Web beginne, so hieß es einführend, „die reale Welt des Kapitalismus zu unterminieren“. Es habe „der Vision einer Weltrepublik mit freier Kommunikation neue Nahrung gegeben, einer demokratischen Öffentlichkeit, bei der alle nationalen und sozialen Schranken fallen werden.“ Bei allen Verweisen auf die Gefahren des Missbrauchs überwog in den Beiträgen doch die Hoffnung auf die Chancen eines künftigen „herrschaftsfreien Diskurses“. Werch ein Illtum! – Wie sehr sich diese Perspektive auf die „digitale Gesellschaft“ seither gewandelt hat, verdeutlichen dann die Hefte des Widerspruch über den „Trans-Humanismus“ (66), der den Menschen „das Maß einer (womöglich sich selbst optimierenden) Maschine“ anlegen möchte, über die neuen Möglichkeiten der Verbreitung bornierter Weltbilder und der Verfestigung von Vorurteilen in den Sozialen Medien, denen die Nr. 69 „Öffentliche Meinung und Wahrheit“ gewidmet war, sowie das letzte Heft des Widerspruch über die „Künstliche Intelligenz“ (75). In dessen Zentrum stand nun der „digitale Kapitalismus“, der auf seiner Jagd nach Profit eine rücksichts- und gnadenlose Konkurrenz der High-Tech-Giganten auf dem Weltmarkt bewirkt hat, der die Gesellschaften und staatlichen Institutionen derzeit weitgehend hilflos gegenüberstehen.

VII.

Die Suche nach Alternativen wurde schließlich ab der Mitte des vergangenen Jahrzehnts durch das neue Phänomen überlagert, dass die Kritik am bestehenden System sich politisch nicht mehr nur links verorten ließ, sondern dass sie sich auch in rechten Ideologien artikulierte. So sah sich die Tagung des Widerspruch „Was ist links heute?“ im Jahr 2015, die das Heft Nr. 61 dokumentierte, mit der Herausforderung konfrontiert, dass die Kapitalismuskritik nicht mehr als das ‚Privileg der Linken‘ angesehen werden kann, und dass im öffentlichen Diskurs die Grenzen zwischen links und rechts oft ineinander verschwimmen. Aufgabe der Tagung sollte es daher sein, unter dem Begriff „links“ nicht nur die komplexe Vielfalt linker Aktivitäten zusammenzufassen, sondern sie auch klar gegenüber der rechten Ideologie abzugrenzen. So sehr Einigkeit darüber bestand, dass die Prinzipien linken Handelns der Abbau jeglicher Herrschaft von Menschen über die Menschen und die Natur sowie der weltweite und supranationale Kampf um soziale Gerechtigkeit sind, so kontrovers blieb unter den Teilnehmern freilich die Frage nach den realistischen Wegen zu diesen Zielen.

Das Heft Nr. 68 hatte dann „Die Neue Rechte“ selbst zum Thema. Dabei bestand das Interesse nicht nur darin, dass und wie im öffentlichen Diskurs wieder zunehmend traditionell rechtes Gedankengut einfließt, sondern auch daran, dass die „Neue Rechte“ es nicht ohne Erfolg übernommen hat, traditionell antikapitalistische Theorien und Strategien der Linken in das Projekt einer „nationalen“ bzw. „völkischen Identität“ zu integrieren. Dieser Vermischung von links und rechts gingen denn auch die Beiträge des Hefts über die „Identitätspolitik“ (72) nach, die den Rechten dazu dient, die ‚völkische Substanz‘ zu erhalten, während sie im linken Diskurs vorhandene Diskriminierungen kenntlich machen soll, um sie überwinden zu können.

VIII.

Der Verlust des linken Monopols auf die Kritik des bestehenden Systems führte im Weiteren dann zu einer notwendig gewordenen Reflexion auf die eigenen philosophischen Grundlagen. So bedürfe es angesichts der politisch-ökonomischen Entwicklungen sowie der ökologischen Herausforderungen einer Neubestimmung des altehrwürdigen Begriffs des „Fortschritts“ als Leitidee linker Praxis, der das Heft Nr. 54 gewidmet war. Fortschritt, so der Tenor der Beiträge, lasse sich nicht mehr quantitativ und naiv als ein Mehr an materiellen wie immateriellen Gütern bestimmen. Der Begriff müsse heute zugleich und konstitutiv die natürlichen und einschränkenden Bedingungen und Ressourcen einer solchen Praxis einbeziehen. In ähnlicher Weise thematisierte das Heft Nr. 71, „Problemfall Arbeit“, einen zentralen Begriff jeder historisch-materialistischen Theorie. War es nach diesem Verständnis weder die Vorsehung noch das Schicksal, sondern die Arbeit, durch die die menschlichen Zivilisationen sich überhaupt entwickelt haben, habe sie heute jedoch, wie es im Vorwort hieß, „viel von ihrer ehemaligen Wertschätzung eingebüßt“. Zum einen werde die Arbeit nicht mehr als gestaltend und befreiend, sondern zunehmend als belastend und einschränkend erfahren; und zum anderen sei jede Arbeit als zweckmäßige Tätigkeit zugleich auch ein destruktiver Eingriff in die je vorhandene Natur. Dies aber fordere heraus, neu über die künftige Rolle und Funktion der Arbeit in und für die Gesellschaft nachzudenken.

Entsprechend setzte sich denn auch das Heft Nr. 74 kritisch mit der traditionellen Idee von der einen fortschreitenden Menschheitsgeschichte auseinander. Die Beiträge des Hefts kamen alle zu dem ideologiekritischen Ergebnis, dass die Idee der Kontinuität der Geschichte heute legitimerweise durch die Vorstellung einer Vielzahl kulturell unterschiedlicher Geschichtsverläufe sowie unterschiedlicher Perspektiven des Erzählens von Männer und von Frauen, von Kolonisatoren und von Indigenen zu ersetzen sei.

Diesem Rückbezug auf die eigenen philosophischen Grundlagen dienten auch die Hefte Nr. 65 und 70 zu Karl Marx und Friedrich Engels aus Anlass ihres 200. Geburtstags. In deren Zentrum standen die Fragen und Probleme der dialektischen Methode und ihrer Konzeption von Gesellschaft wie von Natur. Hinsichtlich der Frage nach der Alternative zur kapitalistischen Produktions- und Konsumtionsweise bestand in den Beiträgen jedoch Übereinstimmung, dass mit der von Marx und Engels prognostizierten „Diktatur des Proletariats“ unter den gegebenen Verhältnissen nichts mehr anzufangen sei.

Im Zeichen dieser Rückbesinnung standen zwei weitere Hefte aus jüngster Vergangenheit, die sich grundsätzlich mit der Funktion und der Rolle des Eigentums befasst haben, das von Marx und Engels als wesentlich für die Struktur der Gesellschaft erachtet worden war. Das Heft zur „Eigentumsfrage“ (64) konstatierte, dass die Frage nach Alternativen zum Privateigentum heute ein öffentliches Tabu ist. Während sich sichtbar die Belege häuften, dass die Institution des Privateigentums nicht, wie angenommen, die Wohlfahrt aller fördert, sondern Wenigen den Reichtum und Vielen die Armut beschert, und zudem den Planeten zerstört, findet keine öffentliche Debatte um alternative Eigentumsformen statt. Die anschließende Tagung des Widerspruchs „Privateigentum auf dem Prüfstand“ im September 2022, die in Heft 73 abgedruckt wurde, hatte mit ihren Beiträgen das Ziel, über die Kritik am Privateigentum hinaus die Debatte um alternative Formen eines gemeinschaftlichen Eigentums wiederzubeleben.

Zusammenfassung

Will man abschließend angesichts des Zeitraums von bald 50 Jahren ein Fazit ziehen, so hat das Projekt „Widerspruch“ seinem Namen durchaus Ehre gemacht. Es stand während dieser Zeit in der Tat im Widerspruch zu den herrschenden Ideologien. Allerdings wandelte sich durchaus das, was unter einem solchen Widerspruch zu verstehen ist, und zu was er dient. Wurde er zuerst gewissermaßen als die Lokomotive des Fortschritts und seiner „Aufhebung auf höherer Stufe“ gedacht, musste er dann eher als ein Forum verstanden werden, das es unternimmt, die vorhandenen Gegensätze zuzuspitzen, sie aber dennoch auszutragen und auszuhalten, um den Widerspruch schließlich eher im Sinne eines Einspruchs gegen die (scheinbar?) verfestigten und alternativlosen Verhältnisse zu deuten.

Dass der Widerspruch, gewollt oder ungewollt, ein Kind seiner Zeit war, hat seinen Ausdruck letztlich auch in der Resonanz der Themen beim Publikum und damit in den Verkaufszahlen der Hefte gefunden. Als eine solche „Lokomotive des Fortschritts“ wurde der Widerspruch anfangs breit, auch in der Tagespresse, rezipiert. Auch in seiner zweiten Phase als „Forum der Kontroversen“, im „Denken des Anderen“, hatte er noch sein breiteres Publikum. Mit der Verfestigung der bestehenden Verhältnisse jedoch wurde er mit zunehmender Selbstflexion linker Theoriebildung zu einem „Rufer in der Wüste“, dessen Einsprüche doch weitgehend verhallten und nur mehr eine vergleichsweise kleine Leserschaft hatte. Selbstkritisch werden wir uns eingestehen müssen, dass wir, trotz aller Bemühungen, die allmähliche Marginalisierung der linken Theoriebildung nicht haben aufhalten können. Sic tempora mutantur.

Leserbrief 1

Hans-Günter Melchior, Vorsitzender Richter a.D.

Liebe Widerspruch-Redaktion,

so sehr ich mich darüber freue, dass man beim „Widerspruch“ an einen alten Leser denkt, so bedauere ich andererseits die „Einstellung der Herstellung“ des Heftes.

In der Tat: Ich glaube, zu den ebenso treuen wie gleichzeitig überzeugtesten Lesern des Heftes zu gehören (es war für mich immer mehr als nur ein „Heft“).

Ausnahmslos war jedes Heft für mich nicht nur ein Anlass zum Denken und Nach-Denken, sondern weit mehr dazu, die gesellschaftspolitische Entwicklung der Bundesrepublik kritisch und vor allem unter dem Aspekt sozialer Gerechtigkeit zu betrachten und meinen Protest hervorzurufen.

Es ist mir und meinem inzwischen alt gewordenen Kopf (85 Jahre) natürlich nicht oder nicht mehr möglich, bei der Fülle der – von mir alle aufbewahrten – Widerspruch-Exemplare und der dort behandelten Themen ein umfassendes Resümee abzugeben.

Beeindruckt hat mich immer der denkerische Ansatz ausnahmslos aller Autoren. Da wurde insbesondere zu sozialpolitischen Entwicklungen nicht politische Polemik wie saures Aufstoßen abgelassen (wie es allzu oft, ja fast regelmäßig, politische Praxis ist), sondern es wurde der Versuch unternommen, politische, gesellschaftliche und vor allem soziale Missstände unter dem Aspekt strengen – in der Regel philosophischen – Denkens als das zu entlarven, was sie sind: Gefährdungen des sozialen Friedens, mehr noch: als Verstoß gegen die Regeln strengen Denkens. Das hatte für mich immer wieder etwas von intellektueller Unbestechlichkeit. Es wurde nicht polemisiert, sondern mit Gründen gefochten, die sich der Logik verpflichtet fühlten. Und dass oft Logik und Wahrheit gleichgesetzt wurden, ist unter dem Aspekt stringenten Denkens (vielleicht nicht gerade der Literatur) legitim.

Einige, eher willkürlich herausgegriffene Beispiele, die mich nachhaltig beeindruckten. Keineswegs mit dem Anspruch auf Vollständigkeit, eher unter dem Aspekt der Noch-Gegenwärtigkeit:

Der jüngste Aufsatz von Konrad Lotter im Heft 72 zum Beispiel: „Identitätspolitik als Kampf um Anerkennung“: Der nicht arbeitende Herr verliert seine Selbständigkeit und gerät in Abhängigkeit zum Knecht. Eine Feier des „knechtische(n) Bewusstseins“. Was für ein denkerisch-politischer Ansatz!. Wie gründlich Lotter dieser Frage und ihrer Begründung nachgeht! Und wie er um die soziale Anerkennung des Knechtes wirbt. Eindrucksvoll. Die Knechte sind im Kommen!

Oder der von Dirk Siederoth im Heft 75 unternommene, höchst beachtliche Versuch, die Instrumentalisierung des Menschen durch die von ihm selbst geschaffenen Denkstrukturen gleichsam als Verobjektivierung der Person an die Wand zu malen. Die Befunde der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno drängen sich auf (s.a. Roger Behrens´ Aufsatz im Heft 58: „Kritische Theorie der Kulturindustrie heute: Fortzusetzen Jordi Maiso im Gespräch mit Roger Behrens“).

Und wie sprach mir, einem ehemaligen Vorsitzenden einer Strafkammer beim hiesigen Landgericht, Alexander v. Pechmann aus der Seele mit seinem Aufsatz: „Fake News und die Wahrheitsfrage“ (Heft 69).

Und so weiter. Ach, hätte ich nur die Kraft und die Zeit, noch einmal alles zu lesen. Lassen Sie es genug sein. Ich habe einige neuzeitliche Arbeiten herausgegriffen. Die Fülle an Erkenntnissen und Einsichten aus meiner langen Zeit der Leserschaft darzustellen, würde vielleicht noch einmal ein Heft füllen. Längst bin ich pensioniert und habe mich der Schriftstellerei (zahlreiche Romane) und der Theaterkritik zugewandt. Bereichert nicht zuletzt an Erkenntnissen aus dem „Widerspruch“. Allein der Titel hat inspiriert.

Das nur nebenbei. Eher als Entschuldigung dafür, dass ich jetzt, immer noch anderweitig in Anspruch genommen, das Schwelgen einstellen muss.

Noch einmal: Ich trauere dem höchst verdienstvollen „Heft“ nach. Schwimmen denn wirklich im Alter langsam die „Felle davon“?

Bleibt der Dank an die Verantwortlichen. Es ist ein ganz herzlicher Dank und eine symbolische Umarmung. Sie haben sich um das Denken und den Geist verdient gemacht.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr

H.G. Melchior

Leserbrief 2

Bruno Fey, Dipl-Ing, M.A. (phil.)

Liebe Widerspruch-Redaktion,

vielen Dank für Ihr Schreiben vom 30.07.2024. Ihrer Frage bzw. Ihrer Bitte komme ich gerne nach.

für mich war der Widerspruch immer eine höchst lesenswerte Lektüre. So manch einen Artikel habe ich mehrfach gelesen und einige Formulierungen Ihrer Autoren habe ich mir teilweise zu eigen gemacht. Es versteht sich daher fast von selbst, dass ich die Hefte sorgfältig archiviert habe.

Insbesondere das Heft 68 zur „Neuen Deutschen Rechte“ fand ich besonders lesenswert. Es lassen sich zahlreiche weitere Hefte anführen, wie „Öffentliche Meinung und die Wahrheit“, oder „Identitätspolitik“, die ich gerne immer wieder zur Hand nehme.

Kritisch möchte ich allerdings anmerken, dass ich die zunehmend verwendete Gendersprache als störend empfunden habe. Ein Einsehen bei den Redakteuren ist nach meiner Erfahrung aber eher nicht zu erwarten.

Ich freue mich nun auf das Web-Portal www.widerspruch.com und versichere Ihnen, weiterhin Ihr treuer und höchstinteressierter Leser zu bleiben.

 Mit freundlichen Grüßen

 Bruno Fey