Marz – Wut auf Differenz

Ulrike Marz

Wut auf Differenz

Kritische Theorie und die Kritik des Rassismus

br., 378 Seiten, 39,- €

Bielefeld 2023, transcript-Verlag

von Marija Bogeljic-Petersen

Bereits im Vorwort nennt die Autorin drei Gründe, warum der Rassismus wissenschaftlich stets relevant bleibt. Erstens sitzt die Annahme tief, dass Menschen mit ähnlichem Aussehen eine Gruppe bilden und bestimmte Eigenschaften teilen. Wissenschaftliche Widerlegungen allein lösen solche sozialen Praktiken nicht auf. Zweitens erzeugen selbst Antirassismus-Positionen neue Varianten, etwa den kulturalistischen Rassismus, der biologische Zuschreibungen durch kulturelle ersetzt. Und drittens verbindet sich Rassismus mit postfaktischen Tendenzen und passt durch seine Widersprüchlichkeit gut zu Debatten, welche die Wahrheit gering schätzen, zum Beispiel in der Flüchtlingspolitik. Seine Irrationalität bleibt zudem an die Rationalität kapitalistischer Gesellschaften anschließbar.

Dieses Zusammenspiel von Unvernunft und kapitalistischer Logik mache somit den Rassismus zu einem zentralen Gegenstand Kritischer Theorie, die gesellschaftliche Ideologiefunktionen mit dem Blick auf psychische Strukturen im Subjekt verbindet. Marz’ leitende These lautet: Moderner Rassismus dient als Verarbeitung gesellschaftlicher Anforderungen, die als naturgegeben erscheinen (9). Zugleich fehlt es den Subjekten an kritischem Reflexionsvermögen, sowohl gegenüber sozialen Zusammenhängen als auch gegenüber eigenen Bedürfnissen und Konflikten. Ideologiekritik müsse deshalb um eine stärkere Hinwendung zum Subjekt ergänzt werden, wie es bereits die frühe Kritische Theorie tat.

Marz verfolgt in ihrer Studie zwei Ziele. Sie möchte erstens die unterschiedlichen theoretischen Ansätze der Rassismusforschung sowie deren verschiedene Deutungen wieder stärker in die aktuelle wissenschaftliche und politische Debatte einbringen; und sie zielt zweitens darauf, die Kritische Theorie weiterzuentwickeln, indem sie deren Überlegungen mit dem Forschungsfeld Rassismus konfrontiert, das bisher nicht systematisch aus dieser Perspektive untersucht worden sei. Obwohl Adorno und Horkheimer keine eigene Rassismustheorie vorgelegt hätten, fänden sich in ihrer Gesellschaftskritik immer wieder Hinweise auf rassismuskritische Gedanken, meist im Zusammenhang mit Antisemitismus oder in Überlegungen zu Rassenvorurteilen. Diese Spuren arbeitet die Autorin ausführlich in ihrem Hauptanliegen heraus, einen Ansatz für eine Kritische Theorie des Rassismus zu entwickeln. Dieser sei dabei doppeldeutig zu verstehen: Als theoretischer Bezugspunkt und zugleich als Versuch, die Grundlagen einer solchen Theorie zu begründen. Dazu greift Marz ausdrücklich auf die frühen Überlegungen der Kritischen Theorie zurück und versucht, den Rassismus mit deren methodischem und begrifflichem Instrumentarium zu beschreiben und zu kritisieren. Es wirkt daher folgerichtig, wenn das zweite Kapitel den Titel „Methode als geronnener Inhalt – Der Kritikbegriff Kritischer Theorie“ trägt. In ihm reflektiert Marz zunächst die zentralen Elemente des Kritikbegriffs bei Adorno und Horkheimer und arbeitet „Leid als Maßstab“, „immanente Kritik als materialistische Kritik“, „Negativität und negative Dialektik“ sowie „Historizität“ systematisch heraus. Diese Prinzipien prüft sie dann in Hinblick auf ihre Eignung für das methodische Verfahren der Analyse des Rassismus.

Im dritten Kapitel „Metamorphosen des Rassismus – Natur und Kultur“ oder prägnanter: „Aus ‚Rasse‘ wurde Kultur“ (51) geht sie zunächst detailliert auf den vormodernen und modernen Rassebegriff sowie auf den biologistischen Rassismus ein – nicht vergessend, dass Menschenrassen nicht nur in den Naturwissenschaften propagiert wurden, sondern dass auch bei den Philosophen Kant, Fichte oder Hegel (als rare Ausnahme, die die Regel bestätigt, Herder) deren „Verstrickung“ und „Widersprüchlichkeit“ bis heute ein Problem für „aufklärerische Rassismuskritik“ bleibt (56). Den zynischen Gedanken der Nationalsozialisten, wonach getrennte Menschengruppen eine friedliche Ordnung sichern sollten, sieht Marz dann im Ethnopluralismus der Neuen Rechten fortgeführt. Dort bleibt die Vorstellung bestehen, dass es eine vermeintlich natürlich berechtigte Gesellschaft gebe und eine Gruppe von Nichtberechtigten, die etwa mit dem Hinweis ausgeschlossen werden, sie hätten zu wenig zum Sozialsystem beigetragen. Der Ethnopluralismus bildet für Marz das zentrale Ideologiefragment eines Neo-Rassismus, der den Begriff „Rasse“ meidet und ihn durch „Kultur“ und „Ethnie“ ersetzt.

In einem Unterkapitel widmet sie sich der Frage, ob die Debatten um die „kulturelle Aneignung“ einem linken Ethnopluralismus ähneln. Sie nennt zwei Aspekte: Erstens greifen Hinweise auf „hybride Identitäten“ wenig, weil Eingewanderte meist als kulturell geschlossene Gruppe wahrgenommen werden. Zweitens schwächt die Kritik an der „kulturellen Aneignung“ die Hoffnung auf eine kulturelle Öffnung. Denn wer Elemente als „fremd“ geltender Kulturen zum Zwecke der Vermarktung oder des Profits ausbeutet oder deren geistiges Eigentum, traditionelles Wissen, Frisuren, Kleidung, Nahrung etc. übernimmt, stehe schnell in der Kritik, dass solche Übernahmen nur aufgrund der Macht westlicher Gesellschaften möglich seien. Dadurch aber werden diese Kulturen als fest umrissen dargestellt und stereotypisiert. Das jedoch rückt sie in die Nähe eines rechten Denkens, dem die Kulturen auch als abgeschlossene Einheiten erscheinen.

Marz betont folglich, dass entscheidend sei, wie eine multikulturelle Gesellschaft begründet wird. Denn eine Fixierung auf die Differenz fördert den Rassismus, sodass auch das Denken in Minderheiten ausgrenzen kann. Egalität hingegen entsteht erst, wenn Kulturen dezentriert werden und keine ‚Leitkultur‘ vorausgesetzt wird. Der einzelne Mensch, so Marz, sollte Vorrang vor kulturellen Kollektiven haben. Denn erst dann werde die Freiheit, verschieden sein zu können, wirklich universal. Nur dort, wo der einzelne den Vorrang vor einem Kollektiv erhält, dem er zugeschrieben wird, könne eine Gesellschaft ihren Anspruch auf Individualität einlösen; und dort wäre die Freiheit, verschieden sein zu dürfen, universell.

Mit diesem Spannungsfeld zwischen Partikularismus und Universalismus und mit der Frage, ob die Kritik an kultureller Aneignung oder am Multikulturalismus tatsächlich antirassistisch ist oder doch ungewollt rassistische Muster stützt, führt Marz ins vierte Kapitel „Metamorphosen der Rassismustheorien – Objektivismus und Subjektivismus“ ein. In ihm untersucht sie historische Formen des Rassismus und theoretische Versuche, ihn kritisch zu fassen. Objektivistische Ansätze wie die von Robert Miles, Étienne Balibar und Stuart Hall liefern dabei wichtige Einsichten: Rassismus ist wandelbar; er passt sich sozialen Konflikten an und legitimiert Herrschaft, indem er Differenzen produziert, naturalisiert und in nationale Ingroups übersetzt. Diese Theorien schließen damit an zentrale Motive der Frankfurter Schule an wie die der verselbständigten Logik sozialer Institutionen oder der Funktion autoritärer Bindungen. Dabei betont Marz aber zugleich den Unterschiede zur frühen Kritischen Theorie, weil stärker an den Erfahrungen, dem Alltag und Privatem angesetzt wird. Nicht die Handlungsfähigkeit des Subjekts wird hervorgehoben, sondern vielmehr deren Gefährdung. Subjektivistische Perspektiven bedeuten hier, zu verstehen, wie die Möglichkeit zu selbstbewusstem Handeln und Mündigkeit objektiv eingeschränkt wird.

Im fünften Kapitel „In schlechter Gesellschaft“ skizziert die Autorin zunächst die Grundannahmen der Kritischen Theorie. Sie führt die Begriffe der Mimesis‘ und Idiosynkrasie‘ ein, um den Gesellschaftsbegriff erklären und die Position des Subjekts darin analysieren zu können. Anschließend erörtert sie die Rolle der Erfahrungin kapitalistischen Gesellschaften, um zu klären, wer die Rassismuskritik tragen kann. Den Abschluss bildet dann eine Analyse des Nichtidentischen im Kontext von Rassismus.

Dieser Begriff des Nichtidentischen, so Marz, ist für die Rassismusanalyse ambivalent: Denn einerseits zeigt er, dass der Rassismus ohne die Konstruktion eines Kollektivs der Rassifizierten nicht existieren kann, da die Identität der Rassifizierenden auf ihrer Abgrenzung gegen außen beruht. Adornos Konzept des Nichtidentischen verdeutlicht, wie nötig dieses Identifizieren der Anderen ist, um die eigene Identität zu stabilisieren. Jedoch gefährdet das Nichtidentische stets die angestrebte Geschlossenheit von Identitätskonstruktionen wie der „Rasse“, des „Volk“ oder der „Nation“. Andererseits aber eröffnet die Anerkennung des Nichtidentischen auch die Möglichkeit, diese Unterdrückung durch Zwangsidentifizierung zu beenden. Fraglich bleibt dabei, ob dieses Nichtidentische sichtbar gemacht werden soll, oder ob als Hoffnungsträger gesellschaftlicher Veränderung dienen kann. Auf keinen Fall, so Marz, darf es jedoch schlicht unter das Identische subsumiert werden.

Das sechste Kapitel „Rassismus und gesellschaftliche Objektivität“ beschreibt die Strukturen, die den Rassismus tragen. In ihm zeigt Marz, welche Elemente der marxschen Kritik der politischen Ökonomie für die Analyse von Rassismus zentral sind. Im Mittelpunkt stehen zwei Gedanken: erstens die Kritik von Marx an der „Geneseblindheit“ bürgerlichen Denkens, das gesellschaftlich Gewordenes, besonders die ökonomisch vermittelte Herrschaft, als Natur ausgibt; zweitens sein ideologiekritischer Hinweis, dass das Bürgertum an seinen eigenen Versprechen von Freiheit und Gleichheit scheitert. Darauf aufbauend zeigt Marz, wie Kritische Theorie gesellschaftliche Objektivität versteht: die Überausbeutung rassifizierter Arbeitskräfte, die dadurch erzeugte Konkurrenz sowie die Rolle des Staates, der gemeinsam mit dem Kapital rassistische Strukturen stabilisiert. Anschließend prüft Marz, ob die immanente Kritik ein geeignetes Instrument zur Analyse von Rassismus ist. Sie betont nit Rahel Jaeggi, dass die Ideologie der Gleichheit selbst Ungleichheit erzeugen kann. Entscheidend sei nicht das Nichterfüllen des Gleichheitsversprechens, sondern seine „verkehrte Verwirklichung“. So zeige sich, dass der moderne Kapitalismus rassistische Praktiken hervorbringt, obwohl er zugleich ihre Überwindung verspricht. Die Mechanismen, Menschen immer wieder rassistisch zu sortieren, sind eng mit den Mechanismen bürgerlicher Gleichheit verknüpft. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet der Arbeitsmarkt: Warenbesitzende treten einander als Gleiche gegenüber, während Ausgeschlossene, etwa durch Arbeitsverbote oder Visaregeln, nicht zu dieser Gruppe der Gleichen zählen. Beide Logiken, die des Kapitals wie die des Rassismus, stufen sie als minderwertig ein, im ersten Fall aufgrund mangelnder Produktivität, im zweiten aufgrund vermeintlicher Natur. So erscheint Rassismus als struktureller Effekt kapitalistischer Ordnung, besonders im Zusammenspiel von Kapitalverwertung und Arbeit.

Damit kehrt Marz zurück zur klassischen Ideologiekritik: Ideologie bleibt eine Rechtfertigung von Herrschaft, die materialistisch verstanden werden müsse als Ergebnis bestimmter Produktionsweisen. Weil eine rein historische Perspektive jedoch nicht ausreicht, plädiert sie schließlich für eine Erweiterung des Ideologiebegriffs um die Kritik instrumenteller Vernunft, damit materialistische Analysen nicht durch relativistische Deutungen ersetzt werden.

Im siebten Kapitel „Die Wendung aufs Subjekt – Ressentiments, Autoritarismus, Rassismus“ werden die Fragen aufgegriffen, warum sich nicht alle Menschen antidemokratischen Bewegungen anschließen? Warum machen „Arbeiter und Angestellte“ keine Revolution, sondern unterstützen in weiten Teilen die neuen autoritären Bewegungen in Europa? (243) Marz verbindet hier einen antipsychologisch und objektivistisch gelesenen Marx mit der psychoanalytischen Subjekttheorie der Frankfurter Schule, deren Studien zum Autoritarismus sie in den Mittelpunkt stellt. Dieser gilt als Syndrom, das Menschen besonders empfänglich für politische Vorurteile und Aggressionen macht. Seine Erklärung gelinge jedoch nicht nur durch die bloßen Inhalte autoritärer Angebote, sondern vor allem in den psychologischen Reizen, die sie aussenden, und der Resonanz, die sie bei bestimmten Personen finden. Sie zeigt dabei zunächst im Abschnitt „Sozialpsychologie, Psychoanalyse und Kritische Theorie“ die Bedeutung psychoanalytischer Ansätze, stellt danach die Forschung zum autoritären Charakter vor und diskutiert verschiedene Perspektiven, wie gesellschaftliche Bedingungen autoritäre Bedürfnisse erzeugen. Abschließend analysiert sie aus autoritarismuskritischer Sicht das Verhältnis des Rassismus zu anderen Ideologien.

Vor diesem Hintergrund erscheint das Unterkapitel „Rassistisches Meinen“ angesichts heutiger Social-Media-Debatten fast unabdingbar. Marz fragt, warum Menschen rassistische Positionen über- und einnehmen. Diese Aneignung sei ein kollektiver Prozess der Entfremdung, der aber als individuelle, frei geäußerte Meinung erscheint. Wer sich im Einklang mit anderen erlebt, fühlt sich bestätigt, die eigene Meinung wirkt normal und wahr. Diese „normale“ Form des Meinens hat Adorno von ihrer pathischen Ausprägung unterschieden. Das Pathische, „das Deformierte und Aberwitzige von Kollektivideen“, liege bereits in der Struktur des Meinens selbst, in der „die reale Dynamik der Gesellschaft steckt“ (267). Durchschnittliche Meinungen werden so fetischisiert, sie wirken wahr, obwohl sie ideologisch sind. Die Vorstellung, Menschen in „Rassen“ einteilen zu können, kompensiere eine Ich-Schwäche, die Adorno als Folge der Ohnmacht des Subjekts gegenüber der Gesellschaft deutet (269). Der objektive Zustand der Entfremdung erzeuge damit subjektiv irrationale Formen pathischen Meinens. Hier hält sich Meinung nicht durch Prüfung, sondern durch emotionale Besetzung. In postfaktischen Debatten wird sie zusätzlich aufgewertet: In ihnen ersetzt die abstrakte Gleichheit der Meinungen den Streit um Argumente durch einen Kampf um die Macht. Unter diesem Schild aber kann der Rassismus wieder als Ressentiment auftreten, als bloßer Wille, die „Anderen“ nicht zu mögen und nicht zu ertragen, ohne dies begründen zu müssen, weil es nur als Meinung erscheint.

Im letzten Kapitel „Kein Ende in Sicht“ fasst Marz ihre Studie in 17 Thesen zusammen. Diese bieten eine knappe, fast tabellarische Übersicht über die vorangegangenen 300 Seiten und sind klarer strukturiert als manche der zuvor weit ausholenden Passagen, in denen man oft zurückblättern musste, um der Argumentation zu folgen. Sie greift hier die zentralen Begriffspaare wieder auf: Partikularismus und Universalismus, Objektivismus und Subjektivismus sowie Natur und Kultur, nun aber in einem durchgehenden Argumentationsfluss ohne die vielen Exkurse zu einzelnen Theoretikerinnen und Theoretikern.

Die Stärke der Darstellung in ihrem Buch liegt darin, aus unterschiedlichen Perspektiven zu zeigen, warum eine kritische Theorie des Rassismus dessen Reduktion auf Vorurteile zurückweisen muss. Zwar bleiben Vorurteile wichtige Untersuchungsgegenstände, weil sie ideologische Inhalte in subjektive Wahrnehmungen übersetzen und psychologisch ein Eigenleben entwickeln können. Doch sie sind zugleich Symptome einer gesellschaftlichen Logik, die rassistische Welterklärungen als Herrschaftspraxis stabilisiert. Als Ideologie rechtfertigt der Rassismus die Ungleichheit in einer Gesellschaft, die sich selbst über Gleichheit definiert. Wer den Rassismus daher nur als individuelles Vorurteil deutet, verschiebt diese Struktur auf einzelne Personen und setzt auf pädagogische oder psychologische Korrektur, ohne jedoch die Bedingungen zu verändern, die dieses Denken produzieren.

Der ideologische Kern des Rassismus liegt für Marz darin, Ungleichheit und Ausbeutung zu legitimieren, sei es nachträglich oder vorausschauend (310). Zugleich wird hier aber auch eine Schwäche sichtbar: Die starke Betonung struktureller Logiken lässt wenig Raum für Fragen nach der politischen Handlungsfähigkeit und nach den Brüchen, in denen rassistische Ideologien auch scheitern. Dennoch liefert sie eine wichtige Einsicht: Kritische Theorie kann sich nicht für eine kollektiv festgelegte Form des Nicht-Identischen einsetzen. Ihre Betonung des Nicht-Identischen richtet sich gegen den subsumierenden Charakter jedes Identitätsdenkens. Sie will die Unsichtbaren sichtbar machen, ohne die Identität zu verabsolutieren. Damit übt sie auch Kritik an der Identitätspolitik. Rechte Identitätspolitik strebt nach Homogenisierung; linke Identitätspolitik will das Heterogene stärken, betont aber oft die Gruppe statt die geteilten Erfahrungen. Im Zentrum sollten nicht Identitäten stehen, sondern die Sichtbarkeit gemeinsamer Erfahrung und ihr politischer Umgang. Marz erinnert daran, dass Ideologie nicht im Kopf entsteht, sondern in gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie erzeugen. Befreiung liegt daher nicht im Festschreiben von Gruppenmerkmalen, sondern in der Kritik der Verhältnisse, die diese Merkmale politisch aufladen. Identitätspolitik ist produktiv nur dann, wenn sie Ausdruck geteilter Erfahrung ist. Kritische Theorie betont und erinnert, dass politische Kämpfe ihre Form wechseln müssen, um nicht das zu reproduzieren, was sie doch überwinden wollen.

Amlinger, Nachtwey – Zerstörungslust

Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey

Zerstörungslust

Elemente des demokratischen Faschismus

geb., 453 Seiten, 30,- €

Berlin 2025, Suhrkamp-Verlag

von Bernhard Schindlbeck

Dass die liberale Demokratie durch rechtspopulistische Bewegungen, Parteien, Akteure und Regierungen in Bedrängnis und unter Druck, ja in Existenznot geraten ist, wird so massenhaft wie hilflos beklagt, aber kaum jemand fragt, weshalb das so ist. Endlich, so muss man deshalb wohl sagen, erforscht jemand systematisch, vielschichtig und mit Genauigkeit die mannigfaltigen Ursachen dieser Misere. Und am liebsten würde man das Buch allen Abgeordneten und Regierungsamtsinhabern zur Pflichtlektüre machen. Zum Beispiel stehen alle Innenminister immer hilflos vor dem auf sie wie ein unlösbares Rätsel wirkenden Phänomen und finden keine Erklärung, weshalb Menschen Feuerwehrleute und Rettungssanitäter bei ihrer Arbeit behindern und sogar angreifen. Auf den Seiten 123 und 124 könnten sie sich einschlägig informieren und dann sogar, falls sie es schaffen, über ihren ideologischen Schatten zu springen, etwas begreifen. Warum, so fragen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in ihrem mit dem Geschwister-Scholl-Preis 2025 ausgezeichneten Buch, „hat in liberalen Gesellschaften eine nicht unerhebliche Zahl an Menschen eine Gefühlsstruktur angenommen, die sich in Abwehr und Destruktion äußert?“ (112) Und sie erklären: „Unser Buch ist weniger eine Bestandsaufnahme neufaschistischer Projekte als vielmehr eine Suche nach den Gründen, warum sie auf so viel Zustimmung stoßen“ (13). Indirekt und unbeabsichtigt zeigt das Buch also auch, dass viele Politiker die Gesellschaft, in der sie agieren, gar nicht verstehen, weshalb ihr Handeln nicht in der Lage ist, den neofaschistischen Tendenzen etwas entgegenzusetzen.

In gewisser Weise schließen die Autoren an ihr Buch Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus von 2022 an. In zweifacher Hinsicht steht es in der Tradition der klassischen kritischen Theorie. Zum einen orientiert es sich methodisch (in modifizierter Weise) an den Untersuchungen des Instituts für Sozialforschung zur autoritären Persönlichkeit, außerdem will es ausdrücklich als wissenschaftliche Publikation politisch wirksam sein: „Adorno schrieb 1950, ‚die Wissenschaft‘ müsse ‚Waffen gegen die potentielle Drohung der faschistischen Mentalität‘ finden. Hierzu soll dieses Buch einen Beitrag leisten“ (26).

Die Intention und das Erkenntnisinteresse sind klar: „Uns geht es vor allem darum, die Wechselwirkungen zwischen sozioökonomischen sowie politischen Veränderungen und Gefühlsstrukturen zu analysieren. Wir orientieren uns dabei zwar stark an den Autoritarismus-Theorien der Frankfurter Schule, machen uns aber die in den Studien zum autoritären Charakter hinterlegte individualpsychologische Perspektive nur eingeschränkt zu eigen. Destruktivität begreifen wir nicht als einen in die Persönlichkeit eingelassenen Charakterzug, sondern wir betrachten sie als etwas Dynamisches … Wie lässt sich erklären, dass viele Menschen – wenn auch nicht die Mehrheit – autoritäre und destruktive Einstellungen entwickelt haben, obwohl sie keine autoritäre Grunddisposition haben, obwohl sie als Kinder viel weniger streng erzogen wurden, obwohl Männer nicht mehr zum Militärdienst müssen, beide Geschlechter mit anderen Rollenvorstellungen in Berührung kommen und in zunehmend liberalen Gesellschaften aufgewachsen sind?“ (25 f.)

Die empirische Grundlage der Studien bilden eine Umfrage mit 2060 Personen und ausführliche Gespräche mit daraus ausgewählten 41 Interviewpartnern, nämlich AfD-Wählern oder Sympathisanten; Ausschnitte aus diesen Gesprächen oder Zusammenfassungen werden über das Buch verstreut eingebaut, um die theoretischen Erkenntnisse zu illustrieren. Da die westliche Gesellschaft am Beispiel von USA und Deutschland in den Blick genommen wird, kommen (neben anderen europäischen Parteien und Politikern) in der Konkretion vorwiegend die neofaschistischen Kommunikations- und Politikstile Trumps und der AfD vor.

Der Ausdruck „demokratischer Faschismus“ scheint ein Oxymoron, auf den ersten Blick ein Widerspruch in sich selbst zu sein. Allerdings wird in der Abgrenzung der gegenwärtigen Phänomene vom „historischen Faschismus, der die Demokratie offen bekämpfte“ deutlich, inwiefern der demokratische Faschismus „in der Demokratie verankert“ ist und „sich als ihr Erneuerer“ versteht. „Gleichzeitig untergräbt er ihre Grundlagen. Treibende Kraft ist die Zerstörungslust. Mit seiner lustvollen Grausamkeit sowie dem frivolen Spiel der Gewalt geht der demokratische Faschismus über den Rechtspopulismus hinaus“ (12). Die destruktiven Impulse dieser neuen Art des Faschismus richten sich grundsätzlich gegen alles Liberale, Fortschrittliche und Emanzipatorische der liberalen Demokratie. Ausführlich erklären die Autoren: „Wir wählen für unsere Analyse eine Perspektive, in der wir die grundsätzliche Problemkonstellation des historischen Faschismus aufnehmen, dabei jedoch die veränderten Strukturen, Normen und Handlungskonstellationen in der Gegenwart berücksichtigen. Auf der makrosoziologischen Ebene lässt sich dabei zunächst feststellen: Der Faschismus resultiert auch heute – nicht nur, aber wesentlich – aus Krisen der kapitalistischen Moderne, in der sozioökonomische und moralische Fortschritte blockiert sind. Dennoch unterscheiden sich die Zeit der Großen Depression und unsere Gegenwart signifikant: Mit der Massenarbeitslosigkeit der Jahre 1929ff. wurden große Teile der Mittelklasse pauperisiert. Sie büßten ihren Status ein und hofften, ihn durch eine Zerstörung der sozialistischen Arbeiterbewegung zu restaurieren. Heute hingegen sind eher die Angst vor Statusverlust, eine gefühlte Blockade und das Nullsummendenken die Quelle faschistischer Affekte“ (258 f.).

Das Nullsummendenken „ist eine zentrale, wenn nicht die wesentliche mentale Schaltstelle, um die Entstehung des gegenwärtigen Faschismus zu verstehen“ (50). Es ist eine Folge davon, dass ohne entsprechende Wachstumsraten viele Menschen das Gefühl haben, es sei nicht genug für alle da, sodass das, was der eine bekommt, dem anderen vorenthalten wird. Alles, was Flüchtlingen, Fremden, Migranten zugutekommt, fehlt den einheimischen Deutschen. Dieses simple Denkmuster kommt dadurch zustande, dass – wie in den ersten beiden Kapiteln (Nach dem Fortschritt und Blockiertes Leben) detailliert herausgearbeitet wird – Demokratie und Liberalismus nicht mehr in der Lage sind, die Versprechen, die mit ihnen gemeinhin verbunden werden, einzulösen, vor allem die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs („die Kinder werden es einmal besser haben“) und der materiellen Verbesserung der eigenen Lage. Der Liberalismus hat seine Kraft und Glaubwürdigkeit verloren, er „leidet unter einem Mangel an Problemlösungskapazitäten“ (15), wie allabendlich in den Fernsehnachrichten und in den Talkshows ausführlich gezeigt wird. Im Rückgriff auf die Untersuchungen von Karl Polanyi und Seymour Martin Lipset über die sozioökonomischen Grundlagen des Funktionierens der Demokratie zeigen Amlinger und Nachtwey, woran genau die Demokratie heute scheitert. Die Wachstumsraten von 1961 bis 2023 für USA und Deutschland zeigen, wie es dem Kapitalismus immer weniger gelingt, ein hinreichendes Wachstum zu generieren, um Wohlstand auch für die mittleren und unteren Schichten zu garantieren und den Wohlfahrtsstaat zu finanzieren. Politik ist nicht in der Lage, Lösungen für die vielen Krisen (Klimawandel, Wachstumskrise, Renten- und Pflegeproblematik, marode Infrastruktur, Finanzierung des Gesundheitssystems, des Bildungssystems usw.) zu entwickeln. Der Neoliberalismus hat, gerade unter sozialdemokratischen Regierungen (Clinton, Blair, Schröder), neue eklatante Ungleichheiten geschaffen und zur Eskalation dieser Ungleichheit beigetragen, wobei im selben Zug soziale und demokratische Rechte und Institutionen, die einst für die Einhegung des Kapitalismus sorgten, in vielen Bereichen abgewickelt wurden. Die moderne Gesellschaft wird regressiv, was sich vor allem für die Unterklassen negativ auswirkt. „Die Politik ist nicht länger in der Lage, effektiv für Wachstum und Aufwärtsmobilität zu sorgen, wodurch sie in den Augen vieler Bürger:innen an Legitimation einbüßt. Zugleich lässt der beschleunigte soziale Wandel neue Spaltungslinien aufbrechen. Bislang nicht repräsentierte Gruppen werden besser integriert; zuvor privilegierte Gruppen fühlen sich übergangen und von einer ‚woken‘ Hegemonie bedroht. Diese gefühlte Bedrohung ist eine wichtige Quelle des gegenmodernen Projekts“ (47 f.).

Für immer mehr Menschen ergibt sich angesichts der nicht endenden Sparpolitik aller Regierungen der Eindruck, das eigene Leben sei blockiert, ein Gefühl der Perspektivlosigkeit und der Ohnmacht, das anfällig für Autoritarismus macht. Bei der Erklärung des „Gefühl[s] des blockierten Lebens“ beziehen sich die Autoren umfassend auf Studien Erich Fromms, der in seinem Buch Die Furcht vor der Freiheit (1941) von der „Vereitelung des Lebens“ sprach. „Die Räder des gesellschaftlichen Antriebsmechanismus bewegen sich nicht mehr synchron, sie erzeugen eine Blockade. Dies drückt sich in empfundenen Benachteiligungen aus, etwa dem Gefühl, sich hinten anstellen zu müssen, nicht auf seine Kosten zu kommen, den Kürzeren zu ziehen. Die moderne Idee gelungener Lebensführung, die auf Maximen des quantitativen Zuwachses und der qualitativen Verbesserung gründet, stößt im Gefühlshaushalt der Nachmoderne auf Schranken. Potenzialitäten, die nicht verwirklicht werden können, werden zu verhinderten Möglichkeiten“ (134). Klar ist, dass es hier nicht um einzelne enttäuschte Wünsche geht, sondern um „eine umfassende Blockade.“ Das Leben ist für Fromm „durch eine expansive Dynamik geprägt: Menschen wollen sich ausbreiten und Spuren in der Welt hinterlassen. Werde ‚diese Tendenz vereitelt‘, so Fromm, … scheine ‚die auf das Lebens ausgerichtete Energie einen Zerfallsprozeß durchzumachen und sich in Energie zu verwandeln, die auf Zerstörung ausgerichtet ist. … Destruktivität ist das Ergebnis ungelebten Lebens.‘ Diese Beobachtung ist so hellsichtig wie folgenreich. Sie führt uns zum Kern der gegenwärtigen Zerstörungslust“ (135).

Das dritte Kapitel untersucht verschiedene Grade, Typen und Formen der Destruktivität, ordnet sie statistisch bestimmten Einstellungen (etwa Antisemitismus, Anti-Gender, Klimaskepsis und Formen des Autoritarismus wie Unterwürfigkeit, Aggression und Konventionalismus), aber auch sozialen Schichten und Berufsklassen nach AfD-Wahlabsicht zu. Als die drei grundlegenden Typen der Destruktivität werden sog. Erneuerer, Zerstörer und Libertäre ausgemacht. Die Erneuerer wollen die liberalen Institutionen „erschüttern, um auf ihren Trümmern eine Gesellschaft mit traditionellen Hierarchien wieder- oder neu aufzubauen und sie schließlich saniert in die Zukunft zu führen“ (214). Die Gesellschaft der Vergangenheit mit tradierten Rollenbildern und ohne (bzw. mit nur geringer) Migration imaginieren sie als „Normalität“. Dagegen weisen die Zerstörer „viele Züge der von Fromm identifizierten rachsüchtigen Destruktivität auf, die ‚oft grausam, lustbetont und unersättlich‘ sei. Es gibt unter den Zerstörern mitunter eine regelrechte Strafsucht, auch die Todesstrafe wird von ihnen häufig befürwortet und gilt als probate Lösung sozialer Probleme. Zugleich fürchten sie sich besonders vor Heterogenität, Diversität und gemischten Verhältnissen jeder Art (der Geschlechter, der Hautfarben, in der Gesellschaft usw.), wobei sie diese Angst oft mit biologischen und evolutionstheoretischen Argumenten unterlegen“ (215). Die libertären Autoritäten vertreten einen radikalen Individualismus, eine ausgeprägte Migrationsfeindlichkeit und „wollen sich nicht zuletzt aus ideologischen Gründen des regulierenden Staates entledigen“ (217). Eine Geneinsamkeit aller Typen besteht darin, dass in all ihren Ansätzen zur Kritik der demokratischen Gesellschaft der Kapitalismus ausgespart bleibt.

Das vierte Kapitel (Demokratischer Faschismus) widmet sich ausführlich dem Begriff des Faschismus, der bekanntlich oft sehr leichtfertig und vorschnell bestimmten politischen Erscheinungen als Etikett angeheftet wird. Zunächst wird die „Bivalenz des Faschismus“ (237 ff.) als Grundmuster erläutert, womit der „Doppelsinn oder die Doppelbödigkeit von Sprechakten oder symbolischen Handlungen, die neben der wörtlichen noch eine weitere Bedeutung transportieren“, gemeint ist (239 f.). Mussolini ist ein perfektes Beispiel für solche Sprechakte, die durch ihre Bivalenz Wahrheitsansprüche und Zurechenbarkeit sowie Verantwortung immer unterlaufen und eine Atmosphäre schaffen, „die sich hinter dem Gesagten verbirgt. Faschistische Dispositionen zeigten sich in unseren Gesprächen oft in Allegorien oder vagen Andeutungen. Im Zweifel können die Interviewten immer behaupten, es sei eigentlich ganz anders gemeint gewesen.“ Der Faschismus befördert etwas, „das in einem vagen Gefühl bereits vorhanden ist, aber unbestimmt bleiben soll. Faschistische Politik ist eine Führung der Gefühle, in der unbewusste Impulse, Wünsche und Ängste nicht bewusst gemacht, sondern ‚künstlich unbewusst‘ (Adorno) gehalten werden“ (241). Dass sich dafür auch Mythen des Nationalen und Schicksalhaften perfekt eignen, leuchtet ein. „Es sind Erzählungen ewiger Wiederkehr und schicksalhafter Fügung, die die Prüfungen des Lebens mit Bedeutung ausstatten und Menschen ihren Platz in einer überzeitlichen Ordnung zuweisen, wenn die eigene Existenz als kontingent und der eigene Lebenslauf als blockiert wahrgenommen wird. Wer den Mythos – vor allem jenen der historischen Mission der eigenen Nation – erkannt hat und an ihn glaubt, kann sich erhaben fühlen … Auf dem Mythos gründet der affektive Magnetismus des Faschismus, da er ein Gefühl des Ungenügens und des Mangels in Größe umwandelt“ (242).

Um die vielfältigen Facetten des „demokratischen Faschismus“ richtig einzuordnen, werden im Rückgriff auf den historischen Faschismus verschiedene Definitionen und Erklärungen des Faschismus – von Georgi Dimitroff bis Robert Paxton, Michael Mann, Roger Griffin usw. – kontrastierend betrachtet und geprüft. Zentrale Elemente sind immer wieder die Sakralisierung der Nation, die Gewaltverherrlichung und der antimoderne Impuls. Die Autoren verflechten ihre Ergebnisse mit einem umfangreichen kulturellen Wissen innerhalb eines weiten Horizonts nicht nur profunder soziologischer, politikwissenschaftlicher und historischer Kenntnisse, auch psychoanalytische Befunde (etwa aus Theweleits Männerphantasien) und Überlegungen postmoderner Autoren wie Foucault, Deleuze und Guattari (Anti-Ödipus und Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie) oder Lacan (Encore. Das Seminar) werden in die Erklärungen unterstützend einbezogen. Im Schlusskapitel (Ein neuer Antifaschismus) wird deutlich ausgesprochen, dass ein neuer Antifaschismus notwendig ist und dieser logischerweise nicht aus dem Liberalismus kommen kann, da letzterer mit seinem Versagen als Mitverursacher an der Wiege des neuen demokratischen Faschismus steht. Schon Polanyi kam ja zu der Schlussfolgerung, dass die liberale Marktgesellschaft eine für die menschliche Gemeinschaft zerstörende Wirkung hat. Deshalb schließt das Buch mit einem leicht abgewandelten Zitat von Max Horkheimer: „Wir sind so frei, abschließend ein bekanntes Diktum Max Horkheimers ein wenig zu ergänzen: Wer aber vom Kapitalismus und vom Liberalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ (321). Dass diese Ergänzung notwendig ist, erschließt sich schon aus der Tatsache, dass der Liberalismus bei all seinen theoretischen Auffächerungen und unterschiedlichen Akzentuierungen letztlich immer nur ein ideologischer Appendix des Kapitalismus war.

Amlinger und Nachtwey legen hier ein überaus wichtiges und lesenswertes Buch vor, das in vielen Richtungen und Verästelungen einem neuen Phänomen nachgeht, das bislang mit dem Ausdruck Rechtspopulismus eine eher verharmlosende Bezeichnung erhalten hat, weshalb der Untertitel vollkommen berechtigt ist. Seine Befunde werden auch durch andere Studien bestätigt. So kommt zum Beispiel eine Allensbach-Umfrage vom November 2025 zu dem Ergebnis: „Das Vertrauen in demokratische Systeme schwindet. Viele Deutsche trauen mittlerweile autoritären Systemen mehr Krisenkompetenz zu als Demokratien“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.2025).

Es bleibt nur die Frage, ob etwas nicht oder nicht ausreichend beleuchtet ist. Denn es fällt ja auf, dass die Grobunterscheidung zwischen Demokraten einerseits und Anhängern des neuen Faschismus andererseits von den Autoren beibehalten wird. Für Deutschland heißt das: Hier die sog. demokratischen Parteien, dort die AfD und ihre Wähler und Anhänger. Dass es jedoch dazwischen eine Zone des Übergangs und eben keine Kluft gibt, wird nicht deutlich genug. Im Spiegel-Interview etwa sagt Carolin Amlinger: „Selbst wer kein großer Anhänger des aktuellen CDU-Fraktionsvorsitzenden ist, wird ihm richtigerweise kaum absprechen, ein Demokrat zu sein. Bei den konservativen und nationalen Kräften in der Weimarer Republik war das anders“ (42/2025). Mit solchen wohlmeinenden Zuschreibungen übersieht man aber, dass faschistoide Einstellungen immer wieder gerade von Politikern und Journalisten bedient werden müssen, was in der Ära der Sozialen Medien natürlich einfach ist. Jedoch auch etablierte Publikationen wie Cicero, Bild und Welt, Plattformen wie Die Achse des Guten unterstützen neben konservativen Politikern aus der vermeintlichen Mitte und anderen sog. Experten ganz kräftig die Haltungen des demokratischen Faschismus. Ausgerechnet Jens Spahn hat in der Causa Brosius-Gersdorf gezeigt, wie wenig abgeneigt er der Disruption von hergebrachten Spielregeln im parlamentarischen Procedere ist, wie sehr der breite rechte Rand der Mitte sich vom Mob anstacheln lässt. Und wenn etwa ein Ministerpräsident Söder verkündet: „Es kann nicht sein, dass jemand, der bei uns ist, quasi eine Art Asylgehalt bekommt und davon dann noch perfekt leben und die gesamte Heimat finanzieren kann,“ dann reiht er sich damit in die Unterstützer des demokratischen Faschismus ein. Ebenso Friedrich Merz im September 2023 mit seiner Aussage von den dreihunderttausend abgelehnten Asylbewerbern, die „die vollen Leistungen bekommen, die volle Heilfürsorge bekommen. Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine.“ Damit fördert er mit voller Absicht das von Amlinger und Nachtwey analysierte Nullsummendenken und die Haltung „Ich muss verzichten, weil Migranten illegitimer Weise etwas bekommen, was eigentlich mir zusteht“. Desgleichen ist seine Aussage zum Stadtbild im Zusammenhang mit Migration („Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“) ein Musterbeispiel für bivalent faschistische Aussagen. Hinterher kann man (so wie Merz es macht) „immer behaupten, es sei eigentlich ganz anders gemeint gewesen“ (241). Und auf die Rückfrage, wie er es denn gemeint habe, kommt ein charakteristisch ungenaues und vages „Fragen Sie ihre Töchter“. Das ist der im Buch beschriebene kommunikative Stil des Faschismus. Man muss die Demokratie also auch gegen solche Unterstützer des Mobs aus der konservativen Mitte heraus verteidigen. Und dabei müsste man den Mut haben, sie namentlich zu nennen, denn sonst lässt sich die Demokratie nicht verteidigen. Dieser Mut hätte dem Buch gut getan.

von Pechmann – Klima. Geschichte des Begriffs (I)

Das Klima. Geschichte des Begriffs, 1. Teil

von Alexander von Pechmann

Einleitung

Auf den ersten Blick scheint das Klima eng mit unserem Wetter verbunden zu sein. Während wir mit dem Wetter den momentanen meteorologische Zustand an einem bestimmten Ort bezeichnen, wird unter dem Klima der meteorologische Zustand verstanden, der sich über einen langen Zeitraum erstreckt. Das Wetter, so heißt es, entscheidet, was wir heute anziehen, das Klima, was wir im Kleiderschrank haben.

Doch wegen dieser zeitlichen Differenz von Gegenwart und Dauer bezeichnet das Klima eigentlich keinen ‚Zustand’; es bildet vielmehr eine statistisch gewonnene Durchschnittsgröße, die aus einer Vielzahl von Wetterbeobachtungen errechnet worden ist. Das Wetter erfahren wir jederzeit; das Klima jedoch entzieht sich unserer Wahrnehmung; es ist ein allgemeiner Begriff, der von uns hinzugedacht werden muss.

Dieser Unterschied zwischen dem Wetter, mit dem wir täglich konfrontiert sind, und dem Klima, von dem wir uns erst einen Begriff bilden müssen, zeigt sich gegenwärtig daran, dass wohl niemand daran zweifelt, dass sich das Wetter jederzeit ändern kann – weshalb wir an dessen Vorhersage so interessiert sind –, dass es heute jedoch eine weltweite Kontroverse darüber gibt, ob das auch für das Klima gilt, ob also das Klima sich wandelt. So gilt den Befürwortern des Wandels der Schutz des Klimas als eine der größten Herausforderung dieses Jahrhunderts, die Skeptiker hingegen betrachten ihn oft als ein kostspieliges Luxusproblem. So klar und unstrittig unser Bild vom jeweiligen Wetter ist, so unscharf und umstritten ist offenbar unser Bild vom Klima als einer höchst abstrakten Vorstellung.

Im Folgenden soll in vier Kapiteln gezeigt werden, dass der Begriff des Klimas in der Tat eine wechselvolle Geschichte von unterschiedlichen Bedeutungen hatte, die in ihrer Zeit jeweils eng mit philosophischen und weltanschaulichen Kontroversen verbunden waren. Das erste Kapitel befasst sich mit der Kontroverse in der Antike, das zweite mit der erkenntnistheoretischen und weltanschaulichen Auseinandersetzung zwischen Johann Gottfried Herder und Immanuel Kant um den Begriff des Klimas, das folgende mit Alexander von Humboldt und der Entstehung der Klimatologie als Wissenschaft, das letzte Kapitel schließlich mit der gegenwärtigen wissenschaftlichen und politischen Debatte um den Klimawandel. Was das Klima ist und wie wir es erkennen können, so das Fazit, war bis in die Gegenwart Gegenstand wissenschaftlicher und philosophischer Kontroversen.

I. Antike: Das Klima als „Neigung“

Mit dieser mathematischen Erklärung der Erdzonen durch die „Neigung“ war jedoch noch nichts über das wirkliche bzw. physische Verhältnis von Erde und Sonne gesagt. Denn entweder gehen wir von unserer Alltagserfahrung aus, nach der die Erde das ruhende Zentrum des Universums bildet und die Sonne als Quelle der Wärme (und mit ihr die anderen Gestirne) die Erde umkreist. Oder wir setzen, kontrafaktisch, umgekehrt voraus, dass die Sonne das Zentrum bildet und die Erde sie als ein Planet in einer bestimmten Weise umkreist. Im ersten Fall, der Erde als Zentrum, liegt nun aus einer menschlichen bzw. anthropozentrischen Perspektive die Annahme nahe, dass sich hinter den Unterschieden des Klimas eine gewisse Absicht oder Vernunft verbirgt, durch die im Mittelpunkt des Universums eine bestimmte Zone der Erde gerade so beschaffen ist, dass sie für den Menschen zum bewohnbaren Lebensraum geworden ist. Im entgegengesetzten Fall wäre es aus kosmologischer Perspektive jedoch unmöglich, dem Universum eine solche Absicht oder Vernunft zu unterstellen. Die klimatischen Unterschiede wären schlicht physikalische Wirkungen der Sonneneinstrahlung. Hat also die Aufteilung der Erdkugel in jene fünf Klimazonen einen höheren Sinn, oder hat sie keinen? Diese Frage nach dem wirklichen Verhältnis von Erde und Sonne aber war bei der Erdvermessung der ‚alten Griechen’ von zentraler philosophischer und ideologischer Bedeutung.

Nun war und ist es bis heute unsere unmittelbare Erfahrung, dass die Erde im Zentrum ruht, während der „gestirnte Himmel“ sich um sie dreht. Doch prinzipiell spricht nichts dagegen, dass es sich in Wirklichkeit, wie wir heute – bis auf wenige Ausnahmen – annehmen, umgekehrt verhält, dass wir uns also durch die wissenschaftliche Erforschung vom Gegenteil unserer Erfahrungen überzeugen lassen. Dennoch ist der erste Fall, das sog. „geozentrische System“, in der Folge über eineinhalb Jahrtausend zum allgemein verbindlichen Standard geworden, der das Verhältnis von Erde und Sonne vermeintlich ‚richtig’ beschreibt. Da diese Verbindlichkeit jedoch weder auf die unmittelbare Erfahrung zurückgeführt werden kann, die uns ja des Öfteren täuscht, noch auf den damaligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse, wie sich zeigen wird, muss das Motiv für diesen Standard des geozentrischen Systems letztlich philosophisch-weltanschaulicher Natur gewesen sein. Zu deren Erklärung müssen wir uns der damaligen philosophischen Debatte zuwenden.

Der Streit ums Weltbild

Im damals geistig führenden Zentrum Athen war mit Sokrates, Platon und Aristoteles eine Denkströmung prägend geworden, die sich von der theoretischen Erforschung des Wahren, wie sie zuvor insbesondere von den ionischen Philosophen betrieben worden war, abgewandt und sich den praktischen Fragen nach dem Guten zugewandt hatte. Von ihnen wurde das Gute und Vollkommene als das Vernünftige zum höchsten Prinzip erhoben, das nicht nur das praktische Handeln, sondern auch die denkende Erkenntnis bestimmen sollte. Während Platon dieses Gute jedoch als ein jenseitiges Reich der ewigen Ideen konzipiert hatte, nach dem die menschliche Erkenntnis strebe, war die Philosophie des Aristoteles vom Gedanken getragen, das Gute auch in der sinnlich gegebenen Natur aufzufinden, die, wie er annahm, zu ihm als ihrem letzten und höchsten Zweck strebe. Diese teleologische Weltanschauung aber musste an dem Unterschied vom Himmel und der Erde in der Weise festhalten, dass die von den Menschen bewohnte Erde das selbst ruhende Zentrum des Universums ist, während am Himmel die Gestirne und mit ihnen die Sonne als „selige Götter“ ihre ewigen Kreisbahnen um die Erde ziehen.

Einer solchen, nach dem Prinzip des Guten und Vollkommenen organisierten Weltordnung musste nun aber die Annahme völlig widersprechen, die Erde – und auf ihr das Volk der Griechen – sei nicht das Zentrum des Universums, sondern sei ein kugelförmiger Körper, der ständig um sich und die Sonne kreist, und die Klimazonen seien nur die Folge dieser Bewegungen der Erde. Aus dieser Perspektive war eine solche Annahme vor allem in ethisch-praktischer Hinsicht verwerflich: sie leugnete das Gute und Vernünftige der Weltordnung.

Alexandria – Zentrum der Wissenschaften

  1. Die „verbrannte“ wie die „kalten“ Zonen fasste man später dann als „zonae inhabilitabiles“ (unbewohnbare Zonen) zusammen. ↩︎
  2. Eine wichtige Grundlage für die Erdkugellehre hatte bereits Anaximander mit seiner These von dem im kugelförmigen All freischwebenden Erdzylinder geliefert. So lag der Analogieschluss von der Kugelgestalt des Himmels auf die im Zentrum ruhende Erde zumindest nahe. Er wurde durch Aristoteles’ Beobachtung der runden Gestalt des Erdschattens bei der Mondfinsternis erhärtet sowie durch die theoretischen Erwägungen über die Kugel als vollkommenen Körper begünstigt. Wie die theoretische Genese jedoch im einzelnen verlief, entzieht sich unserer Kenntnis. ↩︎
  3. Stephan Heilen, Eudoxos von Knidos und Pytheas von Massalis, In: Wolfgang Hüber (Hg), Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften in der Antike, Bd. 2, Geographie und verwandte Wissenschaften, Stuttgart 2000, 60. ↩︎
  4. Aristoteles, Politik, VII, 7. – Eine ‚klimatologische Völkerlehre’, der sich schon sein Schüler Alexander der Große widersetzen sollte. ↩︎
  5. Zudem konnte Aristarchs heliozentrisches Modell die Unregelmäßigkeiten der Planetenbewegungen erklären. ↩︎
  6. In seinem Werk über die hellenistische Wissenschaft schreibt der Wissenschaftshistoriker Lucio Russo: „Wir haben Lukrez’ herrliches Gedicht über die Natur, nicht jedoch die Werke eines Straton von Lampsakos, bei dem einiges darauf hindeutet, dass er der wahre Begründer der Wissenschaften im eigentlichen Sinne des Wortes sein könnte“ (L. Rosso, Die vergessene Revolution oder die Wiedergeburt des Antiken Wissens, Berlin/Heidelberg/New York 2004, 11). ↩︎
  7. „Die hellenistischen Herrscher förderten die Kultur weniger aus innerem Großmut, sondern weil Wissen für sie eine wichtige Machtquelle war“ (ebd., 285). ↩︎
  8. „Die Beweiskraft der induktiven Methode“, schreibt der Philosophiehistoriker Friedrich Lange, „beruht aber auf der Voraussetzung eben jener Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit des Weltganges, welche Demokrit zuerst entscheidend zum Bewusstsein gebracht hatte.“ (F.A. Lange, Geschichte des Materialismus, Bd. 1, Frankfurt/Main 1974, 91). ↩︎
  9. Dies scheint anders bei seinem einzigen Nachfolger, dem Astronomen Seleukos von Seleukeia, gewesen zu sein, der den Heliozentrismus durch theoretische Überlegungen bewiesen haben soll. ↩︎
  10. Plutarch, de facie 6, 923 A = SVF I 500 (zit. nach: Eric R. Dodds, Mentalitätswandel von der griechischen Aufklärung zur Spätantike und zum Christentum. In: Jochen Schmidt, Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1089, 111) – „(D)ie Stoa hatte schon immer versucht, durch ihren Einfluss den heliozentrischen Ansatz des Aristarch zu Fall zu bringen, weil er, falls man ihn akzeptiert hätte, die Fundamente sowohl der Astrologie als auch der stoischen Religion umgestürzt hätte“ (ebd.). ↩︎
  11. ebd., 93-128. ↩︎

Nida-Rümelin – Die Tatenarmut der praktischen Philosophie

Julian Nida-Rümelin (geb. 1954) war von 2004 bis 2020 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie und politische Theorie an der LMU. Seit 2022 ist er Rektor der Humanistischen Hochschule Berlin. Seine Spezialgebiete sind Erkenntnis- und Rationalitätstheorie, Ethik und politische Philosophie. Nida-Rümelin war 1998-2001 Kulturreferent der Stadt München, 2001-2002 Kulturstaatsminister in Berlin, 2010-2014 Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD und 2020-2024 stellvertr. Vorsitzender des Deutschen Ethikrats.

Widerspruch: Zu Anfang möchten wir Sie bitten, uns ein paar Worte zu Ihrer Biografie zu sagen. Wie kamen Sie dazu, Philosophie zu studieren und in diesem Bereich eine akademische Karriere zu verfolgen.

Nida-Rümelin: Ich bin 1954 in München geboren und hier in einer Künstlerfamilie aufgewachsen, in einem Künstlerhaus – dem „Hildebrandhaus“. Das gibt es immer noch, unterdessen ist dort aber die „Buchsammlung Monacensia“ untergebracht, Literatur von Münchner Autoren und vor allem Literatur über München.

Eine Zeitlang wusste ich nicht recht, ob ich eher in Richtung Naturwissenschaften oder Philosophie tendiere und habe deshalb beides studiert: Physik und Philosophie. Es war dann aber sehr rasch klar, dass mich die Philosophie mehr interessiert als die Naturwissenschaft, und habe in Philosophie bei Stegmüller promoviert. Stegmüller war überwiegend Wissenschaftstheoretiker; er war aber auch offen für andere Themen der analytischen Philosophie. Mich hat immer die praktische Philosophie besonders interessiert, nicht nur die Wissenschaftstheorie. Als nach der Promotion bei Stegmüller keine Stelle frei war, bekam ich von Herrn Opitz das Angebot, bei ihm Assistent mit dem Schwerpunkt „politische Philosophie“ zu werden, und war dann von 1984 bis 1989 am Geschwister-Scholl-Institut. 1989 habe ich in Philosophie hier in München habilitiert. Ich hatte dann zunächst eine Gastprofessur in Minnesota und erhielt 1990 einen Ruf auf eine C4-Zeitprofessur im Angestelltenverhältnis – etwas recht Ungewöhnliches – am Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Interessanterweise war sie nicht in die philosophische, sondern in die biologische Fakultät integriert, obwohl ich kein Biologe bin. Die Widmung der Professur war „Ethik in den Biowissenschaften“. Für mich war allerdings wichtig, dass ich an der philosophischen Fakultät kooptiert war und dort Lehrveranstaltungen halten konnte. 1992 erhielt ich dann einen Ruf nach Göttingen und einen nach Konstanz. Nach einigem Überlegen habe ich mich entschieden, in Göttingen die Nachfolge von Günther Patzig anzutreten, der ja einer der Pioniere der analytischen Philosophie in Deutschland war, aber anders als Stegmüller den Akzent auf die Rekonstruktion antiker Texte, auf Ethik und praktische Philosophie setzte.

Widerspruch: Wann haben Sie begonnen, sich politisch zu engagieren, und was hat Sie bewogen, in eine politische Karriere als Kulturreferent der Stadt München überzuwechseln?

Nida-Rümelin: Also, politisch engagiert habe ich mich eigentlich seit meiner Jugendzeit, als Schulsprecher usw. Es waren die „Ausläufer“, die letzten Jahrgänge einer doch sehr stark politisierten Generation, während man 15 Jahre danach doch weitgehend politikabstinent war. Als ich mit dem Studium anfing, wollte ich mich weiter politisch engagieren, fand aber die Hochschulpolitik irgendwie langweilig und sehr stark nach innen gerichtet. Deshalb bin ich dann in die SPD eingetreten, und zwar vor allem mit Themen wie Friedenspolitik, Ökologie und Energiepolitik. Ich habe mich dort auch inhaltlich engagiert, etwa für das 1989 beschlossene neue Grundsatzprogramm, und natürlich auch für die Kultur- und Bildungspolitik. Seit meinem 19. Lebensjahr habe ich mich – innerhalb und außerhalb der SPD – politisch engagiert, aber zuvor nie ein politisches Mandat innegehabt.

Die Entscheidung, in München für eine Amtszeit Kulturreferent zu werden – ich bin von meiner Professur in Göttingen beurlaubt –, hat verschiedene Motive. Ein Motiv, warum ich dachte, diese Aufgabe könnte nicht nur für mich persönlich reizvoll sein, sondern auch für die Stadt Sinn machen, war, dass ich die Sprachlosigkeit zwischen Politik und Kunst doch sehr persönlich empfunden habe. Es gab in den 60er und 70er Jahren eine große Auseinandersetzung um den Erhalt dieses Künstlerhauses, die ich nicht vergessen konnte. Wie geht man von politischer Seite mit den Künstlern um? Wie sieht die Situation derer aus, denen die Existenzgrundlagen, ihr Atelier und ähnliches, entzogen werden? Wie also wird zwischen Politik und Kunst kommuniziert? Mein Eindruck war und ist nach wie vor, dass es dort viel Verständigungsprobleme und Interessenkonflikte gibt. Hier zu vermitteln, finde ich eine interessante Zielsetzung. Ob es mir gelingt, weiß ich nicht; aber ich bringe immerhin, einfach aufgrund meiner Biografie, Voraussetzungen mit, die mir das Verständnis leichter machen als anderen.

Das zweite Motiv war, dass ich in der reinen Wissenschaft immer ein Defizit empfunden habe. Speziell in den Bereichen der Philosophie, die sich mit praktischen Fragen befassen, also Ethik, politische Philosophie oder Rationalitätstheorie, sind die zentralen Fragestellungen ja eigentlich nur relevant, wenn auch die Praxisdimension irgendwann in den Blick kommt. Zwar nicht so direkt, dass man sagt, eine Gerechtigkeitstheorie macht nur dann Sinn, wenn ich genau weiß, wie das nächste Steuersystem aussehen muss. Aber solange Diskussionen über Gerechtigkeit oder politische Institutionen, über Legitimation in der Politik oder über die Ethik der Wissenschaft oder der Gentechnik nur die Kreise ansprechen, die als Fachphilosophen oder als Bioethiker ihrerseits ihre Artikel schreiben, – da fehlt doch was. Das Ganze macht doch keinen Sinn, wenn es nicht eine konkrete Auswirkung zeitigt. Also, die „Tatenarmut“ der Wissenschaft und gerade der praktischen Philosophie – in der theoretischen ist dieser Hiatus nicht ganz so dramatisch – hat mich oft gestört, und war sicher auch ein Motiv, in der politischen Praxis, speziell in der kulturpolitischen Praxis, Verantwortung zu übernehmen.

Im übrigen hänge ich ja sehr an der Stadt und wollte mich auch nie ganz ablösen. Hätte ich eine Professur in Berlin oder Hamburg gehabt, hätte ich meinen Lebensmittelpunkt vielleicht dorthin verlegt; aber Göttingen oder Tübingen sind keine Alternative, und so ist München eben mein Lebensmittelpunkt geblieben.

Widerspruch: Der in „praktischer Politik“ erfahrene Theoretiker Niccolò Machiavelli hält es für erforderlich, dass ein Fürst die Moral aus dem Handlungsbereich der Politik ausgrenzen muss, um Erfolg zu haben. Wie begreifen Sie als Spezialist für praktische Philosophie analytischer Provenienz das Verhältnis von Politik und Moral? Wie beurteilen Sie dieses Verhältnis nicht nur theoretisch, sondern auch vor dem Hintergrund Ihrer Erfahrungen mit der zeitgenössischen politischen Kultur der Bundesrepublik?

Nida-Rümelin: Eine Frage, die es in sich hat. Ob Machiavelli dies in letzter Konsequenz so vertreten hat, können wir dahingestellt sein lassen. Seine Theorie des Politischen hat eine starke moralische Komponente, die zwar im Gegensatz zu den üblichen Sittlichkeits- bzw. Moralvorstellungen der Menschen steht, die aber doch, wie ich glaube, den normativen Kern seiner Theorie bildet. Aber lassen wir das einmal ausgeklammert.

Würde die Politik sich selbst wirklich als moralfrei verstehen, dann wären die Formen, in denen der politische Diskurs abläuft und politische Entscheidungsprozesse zustande kommen, überhaupt nicht verständlich. Nehmen Sie ein banales Beispiel: wenn ein Gesetzesentwurf eingebracht wird, dann wird das intensiv diskutiert. Es werden Gründe angeführt, warum dieses Gesetz besser als ein alternativer Gesetzesentwurf ist. Jetzt kann man zwar sagen, dies alles sei Teil eines Machtspiels – nur: Warum bringen die Menschen dann überhaupt diesen Aufwand und diese Energie auf, immer wieder nach Argumenten zu suchen, wenn nicht doch unser Selbstverständnis von politischem Handeln, von politischer Kultur, vom Funktionieren einer Demokratie an die Vorstellung gebunden ist, dass es auch in der Politik ein richtiges und falsches Handeln gibt? Praktisch jede politische Rede dreht sich um die Frage: Ist das richtig, oder ist das falsch? Und zwar nicht richtig, um die eigene Machtsituation zu verbessern oder einer bestimmten Interessensgruppe zu nutzen, sondern richtig simpliciter: richtig gegenüber im Grunde jeder Person und jedem individuellem Standpunkt.

Wenn dies das Selbstverständnis ist, dann kann man zwar immer noch sagen, es beruhe auf einer gigantischen Selbsttäuschung. Ich glaube aber nicht, dass es wirklich so ist. Damit bestreite ich ja nicht, dass ökonomische Interessen vor allem, aber auch andere Interessen, kulturelle Vorurteile usw. eine prägende Rolle in der Politik spielen, und dass die Reichweite des rationalen Arguments durch persönliche Eitelkeiten und ähnliches beschränkt ist. Aber das ganze Projekt politischen Handelns – jedenfalls in der Demokratie mit ihren Begründungsansprüchen – macht nur Sinn, wenn es auch oder im Kern um die Fragen von richtig und falsch geht. Und diese Fragen sind letztlich ethische Fragen. Also steht auch politisches Handeln unter ethischen Kriterien.

Dass es Unterschiede zwischen Regeln gibt, die in der Privatmoral völlig selbstverständlich erscheinen, und Regeln, die die politische Interaktion anleiten, – dies betrifft die Diskussion um die „dirty hands“, wie sie manchmal genannt wird. Das sollte man aber nicht so interpretieren, als sei Politik ein „schmutziges Geschäft“, wie es einem Topos der deutschen Kultur entspricht, die mit ihren antidemokratischen Wurzeln aus der Weimarer Republik noch in die 50er und 60er Jahre hineingereicht haben, sondern die „dirty hands“ sind im Sinne eines vermeintlichen oder tatsächlichen Zwangs innerhalb der Politik zu verstehen, eine gewisse Distanz gegenüber den überkommenen Moralvorstellungen einzunehmen, die im Alltag wirksam sind. Ich glaube, dass der Übergang fließend ist. Es gibt nicht zwei getrennte Bereiche, das Politische mit eigenen Gesetzmäßigkeiten auch des Moralischen und das Private mit eigenen Regeln und Gesetzen des Moralischen, sondern es ist ein Kontinuum, wobei die Akzente jeweils anders liegen. Im privaten Bereich haben wir überwiegend Nahbeziehungen; im politischen Handeln sind Entscheidungen zu treffen, die Menschen betreffen, zu denen ich in der Regel keinen persönlichen Kontakt habe. D. h. ein Gutteil der moralischen Intentionen, die im Nahbereich wirksam werden, sind im Fernbereich nicht mehr vorhanden; die Forderung z.B. nach Gleichbehandlung, nach einem Standpunkt der Fairness, den man gegenüber unterschiedlichen Personen einnimmt, – diese Forderung ist in der Politik strenger als im Privaten. Im Privaten gibt es Bindungen; und das Problem der Korruption hängt zum Teil mit der Übertragung dieser privaten Bindungen in den politischen Bereich zusammen. Dabei denke ich zunächst eher an die Form des Nepotismus, die in Deutschland nicht das Hauptproblem darstellt, sondern eher in lateinischen Ländern. Aber bei uns gibt es vergleichbare Formen. Also: es gibt Unterschiede zwischen dem Politischen und dem Lebensweltlichen; aber die Unterschiede sind nicht so groß, dass es zwei getrennte Sphären wären.

Widerspruch: Seit einigen Jahren werden in der Öffentlichkeit zunehmend die ökonomischen und sozialen Folgen der Globalisierung diskutiert. Im Bereich der Kultur dagegen verbinden viele mit Globalisierung kaum mehr als die seit den 20er Jahren andauernde Überschwemmung des Planeten mit nordamerikanischen Film- und Musikproduktionen und den durch sie transportierten Werten. Was sind die wichtigsten aktuellsten Erscheinungen der zunehmenden Globalisierung der Kultur, und welche Auswirkungen haben sie für Deutschland und Europa?

Nida-Rümelin: Es ist ja interessant, dass die Globalisierung zumeist nicht unter dem Aspekt der Kultur, sondern fast ausschließlich unter wirtschaftlichen, insbesondere finanzwirtschaftlichen, Aspekten diskutiert wird, und die Dimension einer sich entwickelnden globalen Kultur auch mit ihren Problemen gar nicht in den Blick kommt. Gegenwärtig können wir zwei vermeintlich gegenläufige Tendenzen deutlich beobachten. Einmal die Tendenz der Angleichung von kulturellen Prägungen. Ich denke da z.B. an die internationale Rolle der Popmusik, eines zentralen Teils der weltweiten Jugendkultur. Diese verändert sich durch Adaption, wenn man so will. So gibt es im arabischen Kulturbereich eine Adaption an eine bestimmte Form der Musiktradition, die dort verbreitet ist, die aber dann immer noch Pop-Musik bleibt. Auch in Ostasien gibt es ähnliche Phänomene. Aber man kann doch sagen, dass sich eine Musiksprache entwickelt, die von Angehörigen ganz unterschiedlicher Kulturen, Religionen, Ethnien usw. verstanden wird. Das ist jedoch nicht nur ein harmloses und erfreuliches Phänomen; denn dahinter steckt mehr. Es erfasst ja nicht nur die Eingeweihten und Interessierten, wie das bei einem Teil der zeitgenössischen E-Musik der Fall ist, die noch viel internationaler und unabhängiger von regionalen und kulturellen Prägungen ist, sondern es umfasst ganze Bevölkerungsteile, praktisch vollständig, Generationen. Damit entsteht aber nicht automatisch die Basis einer internationalen, interkulturellen Verständigung, sondern auch eine zunächst gegenläufig erscheinende Tendenz: Völlig parallel dazu entsteht offenbar eine Sehnsucht nach dem Eigenen.

In der westlichen Philosophie ist dieses Phänomen, von den USA ausgehend, unter dem Stichwort „Kommunitarismus“ schon seit mehreren Jahren diskutiert worden. In bestimmten Kulturkreisen – im islamischen, aber nicht nur dort – gibt es heftige Abwehrbewegungen gegen diese sich globalisierende Kultur, die sich nicht nur gegen die Popkultur, sondern überhaupt gegen eine sich vereinheitlichende Kultur der Lebensform wendet. Man versucht, das Eigene dadurch zu retten, dass Abgrenzungen gegenüber den Einflüssen vorgenommen werden, die als schädlich empfunden werden, wie das in den antiwestlichen Einstellungen z.B. der islamischen Fundamentalisten geschieht. Diese beiden Tendenzen scheinen mir aber weniger gegenläufig als komplementär zu sein: sie gehören zusammen. Und die Kunst der weiteren – letztlich – Weltkulturpolitik wird darin bestehen, beiden Tendenzen Raum zu geben: der Vergewisserung des Eigenen und der Anerkennung von Differenz einerseits und der Entwicklung eines gemeinsamen Kerns einer Weltkultur oder – ich verwende lieber den Ausdruck von Rawls – eines overlapping consensus über normative Inhalte, über kulturelle Prägungen und die Akzeptanz bestimmter Regeln, mit denen wir Differenzen aushalten können, andererseits. Kulturelle Globalisierung und Vergewisserung des Eigenen sind gewissermaßen, so sehe ich das, zwei Seiten derselben Medaille.

Widerspruch: Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Bedeutung der Philosophie im kulturellen Raum?

Nida-Rümelin: Wir leben ganz zweifellos in einer Boom-Phase der Philosophie. Das äußert sich nicht so sehr darin, dass auch in der Universität das Interesse an Philosophie eher gestiegen als gesunken ist, und dass insbesondere der Bereich der praktischen Philosophie in den letzten Jahren, die „Bereichsethiken“, sich gewaltig ausgedehnt hat; stärker in den USA als in Europa, aber mit ähnlicher Tendenz. Ich beobachte auch ein deutlich gestiegenes Interesse außerhalb der akademischen Welt an philosophischen Fragen, zum Teil in Abwehr zur Universitätsphilosophie. Aber ich halte diese Attitüde für problematisch und mache deshalb eine philosophische Gesprächsreihe, bei der die Bedürfnisse an philosophischen Fragen auch derer, die nie Philosophie studiert haben, ernst genommen werden, aber zugleich Referenten gewonnen werden, die sich beruflich mit Philosophie beschäftigen, die also aus dem Hochschulbereich kommen, um das Gespräch auch mit den entsprechenden Informationen zu füttern, die einfach nötig sind, um einen Standpunkt zu vertreten, der wohlbegründet ist.

Der kulturelle Hintergrund dieses Phänomens lässt sich vielleicht folgendermaßen umschreiben. Philosophie tritt in der Geschichte des – jedenfalls westlich-abendländischen – Denkens immer dann besonders deutlich in Erscheinung, wenn die Gesellschaft sich im Umbruch befindet und Menschen auf rationalem Wege versuchen, neue Orientierung zu gewinnen. Natürlich gibt es andere Formen, Orientierung zu gewinnen, die mit der Philosophie konkurrieren, z.B. fundamentalistische Weltanschauungen, Religionen oder Religionspraktiken unterschiedlicher Art, die auch Gewissheit vermitteln und genau sagen, was richtig ist und was falsch. In einer pluralen Gesellschaft, einer Gesellschaft der kulturellen Differenz und der zunehmenden Globalisierung, sind dies aber in der Regel unzureichende Formen, Orientierung zu geben, weil es den Rückzug bedeutet, den Ausstieg aus der Kommunikation und der Verständigung. Darin glaube ich liegt die Faszination der Philosophie wie vor 2500 Jahren in der griechischen Klassik – auch einer Gesellschaft im rasanten Umbruch mit viel Immigration und Emigration. Philosophie entsteht ja vor allem in den Kolonien, den griechischen Siedlungsgebieten im östlichen Mittelmeerraum. Dann die interessante Umbruchphase beim Ausklingen des Mittelalters durch den Verfall der theologischen Ordnungsmacht und einer erneuten Blütephase der Philosophie. Die Renaissancephilosophie, die als nova scientia aufkommt und mit Konjunkturen bis in der Aufklärungsphilosophie anhält. Sie ebbt dann gerade im praktischen Bereich ab – typischerweise tritt die praktische Philosophie im Laufe des 19. Jahrhunderts zurück –; und jetzt, im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, entwickelt sich wieder eine Blütephase der Philosophie. Die Gesellschaft ist erneut im Umbruch, sie sucht nach Orientierung. Sie findet diese Orientierung überwiegend, jedenfalls in den westlichen Industriestaaten, nicht in traditionalistischen und fundamentalistischen Auffassungen. Die Esoterik hat, so glaube ich, ihren Höhepunkt längst hinter sich und damit auch der Ausstieg aus dem rationalen Diskurs, auch wenn das jetzt recht pauschal klingt. Dieser Diskurs aber macht die Philosophie so faszinierend und im kulturellen Leben gegenwärtig. Darauf sollte die Universitätsphilosophie reagieren, ohne sich anzubiedern: durch Öffnung und durch Gesprächsangebote, und sich nicht zurückziehen in die akademischen Schutzgebiete, in denen diese öffentlichen Ansprüche und Fragen selten gestellt werden.

Widerspruch: Herr Nida-Rümelin, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Manuel Knoll führte das Gespräch für den Widerspruch.

Wagner – Abenteuer der Moderne

Thomas Wagner

Abenteuer der Moderne

Die großen Jahre der Soziologie 1949–1969

geb., 330 Seiten, 28,- €
Stuttgart 2025, Klett-Cotta Verlag

von Konrad Lotter

Thomas Wagner erzählt die Geschichte der deutschen Nachkriegs-Soziologie als einen Prozess, der von Gegensätzen ausgeht, die sich innerhalb von 20 Jahren über verschiedene Stufen hinweg zunächst auflösen, wobei es zu gewissen Annäherungen, zu allen möglichen Formen der Zusammenarbeit und sogar zu persönlichen Freundschaften kommt. Am Ende der „großen Jahre“ allerdings brechen, wie er weitererzählt, die alten Gegensätze unter veränderten Verhältnissen und in veränderter Form wieder auf. Im Zentrum des Buches steht dabei die Beziehung von Th. W. Adorno als Repräsentant der 1949 aus der Emigration zurückgekehrten Antifaschisten und Arnold Gehlen, der 1933 das „Bekenntnis deutscher Professoren zu Adolf Hitler“ unterschrieben und während des „Dritten Reiches“ eine „Traumkarriere“ gemacht hatte.

Eine erste „Begegnung“ der beiden fand bereits am Ende der Weimarer Republik statt. Adorno hatte sich bei dem religiösen Sozialisten Paul Tillich mit seiner Arbeit über Kierkegaard habilitiert. Tillich, der sich mit einer Kritik am aufkommenden Nationalsozialismus hervorgetan hatte, wurde sofort nach der „Machtergreifung“ aus dem Staatsdienst entlassen. Seine Professur erhielt vertretungsweise Gehlen. Wie seinem Lehrer war auch Adorno die Universitätskarriere versperrt, er emigrierte zuerst nach England, dann in die USA. Gehlen wurde dagegen auf den Lehrstuhl seines ebenfalls entlassenen jüdischen Doktorvaters Hans Driesch in Leipzig berufen, später auf den Kant-Lehrstuhl in Königsberg und zuletzt an die Universität in Wien.

Von den acht Lehrstühlen für Soziologie, die 1949 nach dem Ende der Diktatur ihre Arbeit aufnahmen, waren drei von zurückgekehrten Emigranten oder ausgewiesenen Gegnern des Nationalsozialismus (Max Horkheimer, der zunächst von Adorno nur vertreten wurde, René König, Otto Stammer), drei von ehemaligen Nazis (Arnold Gehlen, Helmut Schelsky, Gerhard Mackenroth) besetzt, die nach kurzer „Entnazifizierung“ wieder eingestellt wurden und weiterlehren durften. Das gegenseitige Misstrauen war, wie Thomas Wagner berichtet, groß; beide Seiten fühlten sich voneinander ausspioniert. Schon Anfang der 50er Jahre allerdings, im Zuge der Adenauerschen Politik des Kalten Krieges, der Aufrüstung und der Frontstellung gegen Stalin und die Sowjetunion, die beide Seiten unterstützten, war der Boden ihrer Annäherung bereitet.

Noch überwog freilich die Feindschaft. Durch „vernichtende Gutachten“ verhinderten Horkheimer und Adorno die Berufung Gehlens nach Heidelberg. Adorno stützte sich dabei vor allem auf die Zuarbeit und das Urteil seines damaligen Assistenten Jürgen Habermas. Habermas hatte bei dem Faschisten Erich Rothacker, dem Organisator der „Bücherverbrennungen“ 1933, promoviert, hatte versucht, (in Fortführung der „Kritischen Theorie“) die Marxsche Theorie weiterzuentwickeln, stieß dabei aber auf die Ablehnung von Horkheimer, der sich von diesen Anfängen inzwischen entfernt hatte. In dessen Person zeigt Thomas Wagner die langsame Durchlässigkeit der Grenzen zwischen ehemaligen Faschisten und Antifaschisten. Horkheimer pflegte Kontakte nicht nur zu Adenauer, sondern auch zu dem Bankier Hermann Joseph Abs, der Himmler nahegestanden war, unterstützte (durch Gutachten) den „Parteigenossen“ Bruno Liebrucks und den Rasseforscher Karl Valentin Müller. Er versuchte sogar, die Nazi-Propagandistin Elisabeth Noelle-Neumann, die in der Nachkriegszeit als Demoskopin große Anerkennung fand, zur Mitarbeit im „Institut für Sozialforschung“ zu gewinnen. Habermasʼ marxistisch-orientierte Ablehnung von Gehlen (in dessen Soziologie seiner Ansicht nach „das gesamte Instrumentarium des Faschismus … beisammen“ ist) erscheint umso bemerkenswerter, als sie der ebenfalls marxistisch-orientierten Begeisterung für Gehlen von Seiten des philosophischen Jung-Stars aus der DDR, Wolfgang Harich, gerade entgegengesetzt ausfiel. Harich hielt Gehlens 1940 erschienenes Werk Der Mensch (in zweiter Auflage von Anpassungen an NS-Jargon und -Ideologie gereinigt) für eine Leistung, die für die systematische Ausarbeitung einer marxistischen Anthropologie unverzichtbar sei. Er suchte die Freundschaft Gehlens und setzte sich (vergebens) sogar dafür ein, ihn an die Ostberliner Humboldt-Universität zu berufen.

Eine Zäsur in der Beziehung zwischen Adorno und Gehlen bildete das Jahr 1960, in dem Gehlens Zeit-Bilder erschienen. Mit seinem Untertitel Zur Soziologie und Ästhetik der Moderne beinhaltete es ein Plädoyer für die abstrakte Malerei und überhaupt die Kunst der Avantgarde, in dem Adorno Übereinstimmungen mit seiner eigenen Kunstanschauung entdeckte. Es kam darüber gewissermaßen zu einem Bündnis nicht nur gegen den verbreiteten Publikumsgeschmack (der zu dieser Zeit der Ablehnung der „entarteten Kunst“ durch die Nazis noch ähnlich war), sondern auch gegen die reaktionäre Ablehnung der Avantgarde durch Hans Sedlmayr, der die Abkehr der Kunst von der Religion als Verlust der Mitte beklagte. Einig waren sich beide auch in der Ablehnung von Heidegger, dem „Yogi von Freiburg“ (Gehlen) und Schwadroneur des „Eigentlichkeit“ (Adorno). Dissens bestand dagegen in Bezug auf Hegel, von dem sich (nach Gehlens Ansicht) nichts mehr lernen ließ. Im Gegensatz zu Günter Anders oder René König, die mit dem ehemaligen Nazi nichts zu schaffen haben wollten, entwickelte sich zwischen Adorno und Gehlen eine gewisse Freundschaft mit privaten Essenseinladungen (samt Ehefrauen) und Ausflügen (in Gehlens VW).

Auf dieser Grundlage kam es zu den denkwürdigen „Streitgesprächen“, die 1964 /65 im Südwestfunk, späterhin auch im WDR-Fernsehen übertragen wurden. Unter Wahrung kollegialer Achtung stritt man zum einen über die Frage, ob sich im Deutschland der Nachkriegszeit eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ breitgemacht habe, für die die Marx‘sche Klassenanalyse nicht mehr greift (so Gehlen im Anschluss an Schelsky), oder die Gesellschaft weiterhin nur als Klassengesellschaft angemessen begriffen werden kann. Zum anderen stritt man über die Bedeutung gesellschaftlicher Institutionen, die von Menschen geschaffen, sich den Menschen gegenüber aber verselbständigt und Macht über sie gewonnen haben. Gehlen, der die Menschen als (biologische) „Mängelwesen“ dargestellt hatte, begriff die Institutionen als „Entlastung“, ohne die die Menschen innerhalb der Industriegesellschaft nicht überleben und sich entwickeln könnten. Freiheit sei nur innerhalb und unter der Voraussetzung und Akzeptanz der bestehenden Entfremdung möglich. Adorno betonte dagegen den repressiven Charakter der Institutionen, die den Menschen im Zustand der Unmündigkeit halte und forderte, die verselbständigten Institutionen wieder unter die Kontrolle der Menschen zu bringen.

Wagners Buch besticht durch seine weite Perspektive und seinen ungeheuren Detailreichtum. Es erzählt die Geschichte der Soziologie in ihrem Bezug auf die Kehrtwendungen und auch auf die Skandale der Politik (Spiegel-Affäre u.a.), auf die wachsende Bedeutung der Massenmedien für den wissenschaftlichen Diskurs und berücksichtigt nicht zuletzt die Biografien und Karrieren einzelner Soziologen. Eine eminente Rolle spielt darin selbstverständlich auch der wirtschaftliche Aufschwung des „Wirtschaftswunders“ und seine Auswirkungen auf die rasanten Veränderungen der Lebenswelt, was die Bedeutung der Soziologie steil ansteigen ließ. 1960 gab es nicht mehr nur 8, sondern bereits 25 Lehrstühle für Soziologie, die Zahl der Studenten an der Frankfurter Universität stieg von 60 (1955) auf 626 (1968). Bundesweit verdreifachte sich ihre Zahl von 1897 (WS 1963/64) auf 5593 (WS 1970/71). Soziologische Bücher wurden zu Bestsellern, zunächst noch mehr von Gehlen und Schelsky als von Adorno und Habermas. Von der Soziologie erwartete man Antworten auf die drängenden Fragen der Industriegesellschaft.

Hatten sich Adorno und Gehlen zunächst einander angenähert, miteinander diskutiert und partiell zusammengearbeitet, so brach im Zuge der Studentenrevolte die alte Feindschaft wieder auf. Dem 16. Kongress der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ im April 1968 zum Thema Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft, der mit 1300 Teilnehmern in der Frankfurter Messehalle abgehalten wurde, blieb Gehlen fern. Während die Studenten neben den Klassikern des Marxismus zunehmend auch die Anarchisten (Bakunin, Kropotkin, Mühsam u.a.) lasen und praktisch-politische Konsequenzen daraus zogen, geriet der Konservative Gehlen, der sich zusammen mit anderen konservativen Professoren im „Marburger Manifest“ den Mitbestimmungs-Ansprüchen der Studenten widersetzte, zunehmend in die Isolation. Er warf dem „liberalen Halbmarxisten“ Adorno vor, die bis dahin überwiegend braven Studenten mit seinen utopischen Idealen zur Revolte angestachelt zu haben. Die Revolte richtete sich zuletzt allerdings auch gegen Adorno selbst, der, als das soziologische Institut von Studenten besetzt wurde, die Polizei zur Hilfe rief und seine Vorlesung abbrach, als er dafür zur „Rechenschaft“ gezogen und zur Entschuldigung aufgefordert wurde. Von den Krawallen gesundheitlich stark angeschlagen, verstarb Adorno im Sommer 1969.

Die „großen Jahre der Soziologie“ hatten, wie Thomas Wagner ergänzt, ein erfreuliches politisches Nachspiel. Bei der Bundestagswahl 1969 scheiterte die NPD, die bereits in verschiedenen Landesparlamenten gesessen hatte, an der 5%-Hürde. Der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, wie Gehlen ehemaliges Parteimitglied der NSDAP, verlor die Wahl. An seiner Stelle wurde Willy Brandt, der wie Adorno 1933 vor dem Nationalsozialismus geflohen und ins Exil gegangen war, zum Bundeskanzler gewählt.

Von großem Interesse sind zuletzt auch noch Wagners Schlussbemerkungen über die Rezeption Gehlens nach dem Ende der „großen Jahre“. Auf der einen Seite wurde Gehlen von den rechtsgerichteten Zeitschaften Criticon und Sezession als ein „unabgegoltener Denker“ entdeckt und dem Studium empfohlen. Mit seiner Propagierung staatlicher Ordnung und autoritärer Strukturen (wobei er zuletzt noch in der Sowjetunion ein Vorbild gesehen hatte) stieg Gehlen auf diesem Wege zum Vordenker der Neuen Rechten auf. Auf der anderen Seite wandte sich Wolfgang Harich, der langjährige Freund und Bewunderer Gehlens (der dessen Werke Georg Lukács und Bert Brecht dringend zum Studium empfohlen hatte) enttäuscht von ihm ab. Ab 1986 sieht er in ihm nur noch den Plagiator des jüdischen Mediziners und Anthropologen Paul Alsberg und dessen Buch Das Menschheitsrätsel (1922): einen Ganoven, der einem Verfolgten des Nazi-Regimes „den rationalen Kern seines Hauptwerkes gestohlen“ hat.

Joas – Universalismus

Hans Joas

Universalismus

Weltherrschaft und Menschheitsethos

geb., 975 Seiten, 48,- €

Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025

von Robert Lembke

Will, wer Menschheit sagt, betrügen, wie einst Carl Schmitt insuinierte? Nicht, wenn es nach Hans Joas geht: Ganze 900 Seiten widmet der Soziologe mit dem theologischen Profil einer Analyse dessen, was er „moralischen Universalismus“ nennt: Das Bewusstsein dafür, dass allen Menschen ein unhintergehbarer Wert zukommt, auch jenseits der eigenen Gruppe und unabhängig von Interessen und Situationen.

Nicht unbedingt erleichtert wird das Verständnis dadurch, dass das gewichtige Buch den Abschluss einer Trilogie bildet: Hatte Joas im ersten Band nach der „Macht des Heiligen“ gefragt und – der gängigen These einer unumkehrbaren Säkularisierung entgegentretend – ihre vielfältigen Transformationen in der Moderne aufgesucht, bezog er sich im zweiten Band, „Im Bannkreis der Freiheit“, kritisch sowohl auf Hegel als auch auf Nietzsche und versuchte, ein alternatives Religionsverständnis zu entwickeln, das um den Begriff der „Selbsttranszendenz“ und seine ethischen Implikationen kreist.

Im dritten Band nun sind für Joas die Quellen des moralischen Universalismus untrennbar mit der „Achsenzeit“ (800 v. Chr. bis 200 n. Chr.) verbunden. Mit Karl Jaspers, Robert Bellah und anderen sieht er in diesem langen geschichtlichen Zeitraum erstmals ein Menschheitsethos aufscheinen, dessen vielfältige Ausdrucksformen und Wandlungen die weitere Geschichte mitbestimmt haben. Die moralischen Universalismen in Indien, China, dem antiken Griechenland und im Judentum seien eine „kontingente schöpferische Reaktion“ (81) auf den Eroberungs- und Anpassungsdruck antiker Imperien gewesen – wobei sich hier relativ zu Beginn die interessante Pointe ergibt, dass sich drei davon, nämlich der indische, jüdische und griechische moralische Universalismus, der Expansion des antiken persischen Weltreichs „verdanken“. Damit ist zugleich auch der weltgeschichtliche Gegenspieler des Menschheitsethos benannt – der „politische Universalismus“ machthungriger Staaten, die stets bestrebt sind, ihren Herrschaftsbereich zu vergrößern und der eigenen Weltanschauung notfalls mit Gewalt Geltung zu verschaffen.

Die Quellen des moralischen Universalismus werden zunächst aufgesucht in der jüdischen Prophetie, im antiken Griechenland – weniger in Demokratie (nicht konsequent implementiert) und Philosophie (Platon und, etwas überraschend, Aristoteles kommen sehr schlecht weg) als vielmehr in der Tragödie, die Joas allerdings an einem einzigen Werk, Aischylos’ „Die Perser“, exemplifiziert – sowie in Indien (Buddhismus) und China (Konfuzianismus). Schon hier ist Joas’ Bemühen um eine Abkehr vom Eurozentrismus zu verspüren, die ebenso wie seine immer wiederkehrende Auseinandersetzung mit postkolonialen Argumenten sicherlich positiv zu bewerten ist.

Charakteristisch für seine Arbeit ist außerdem der methodische Ansatz, seine eigenen Gedanken über weite Strecken in Abgrenzung und Vergleich mit den Soziologen Max Weber und Ernst Troeltsch zu entwickeln – ein m.E. nicht immer nur produktives Vorgehen, das das Buch teilweise unnötig verlängert, gerade wenn man sich die teils harsche Kritik an den Autoren (mehr an Weber als an Troeltsch) vor Augen führt. Hier wie fast durchgehend zeigt sich Joas jedoch vor allem als stark vom akademischen Umfeld geprägter, skrupulös-relativistischer Denker, der neben stupender Gelehrsamkeit auch mit immensem philologischen Eifer aufwartet – da werden ein ums andere Mal handschriftliche Anmerkungen in abseitigen Werken beigebracht, und es wäre ohne Weiteres möglich, eine Liste von 20 Autoren anzuführen, deren Namen auch Diskursteilnehmern kaum bekannt sein dürften, denen Joas jedoch entscheidende Impulse zuspricht.

Zurück zur Argumentation: Von Anfang an steht der moralische Universalismus unter dem Druck politischer Mächte; in Indien kann der Buddhismus niemals wirklich Fuß fassen und wandert aus, der Konfuzianismus ist der Sonderfall einer „konfessionslosen“, d.h. nicht institutionalisierten und mit anderen Einflüssen teilweise bis zur Unkenntlichkeit sich vermischenden, Religion ohne Kirche, und das geschichtliche Schicksal des Judentums ist weithin bekannt. Umso interessanter muss in der Rückschau der Sonderfall des Christentums erscheinen, das – vermittelt über Paulus als zentrale Figur – eine „Fusion seines religiös-moralischen Universalismus mit dem politischen Universalismus des Imperiums“ (271) zustande brachte und dieses Imperium, das römische, bekanntlich sogar überlebte.

Die wechselvolle Geschichte des Verhältnisses von christlicher (Staats)Religion und den Nachfolgeregimen Roms, wie sie Joas rekonstruiert, kann hier nicht nachgezeichnet werden. Ausdrücklich seien jedoch die diffizilen Kapitel zu Augustinus, zum Dualismus von weltlicher und geistlicher Macht oder zur sogenannten organischen Sozialethik, gipfelnd in Dantes utopischer Vision einer christlichen Universalmonarchie, dem geschichtlich und philosophisch interessierten Leser zur Lektüre empfohlen – Joas befindet sich hier offenbar auf ureigenstem Terrain und kann mit einer Fülle interessanter Befunde und Einsichten aufwarten, immer akribisch situiert und eingeordnet in den diskursiven Strom aktueller Forschung und Diskussion. Ein Beispiel sei trotzdem angeführt, nämlich die Beschreibung der Art und Weise, wie das Christentum in der Eucharistiefeier die archaische Praxis des Opfers (von Menschen, Tieren oder Dingen) in einer Weise transformiert, die an Hegels dialektische „Aufhebung“ erinnert: ein Prozess, in dem eine Sache zugleich beendet, erhöht und bewahrt wird.

Mit dem Ende des Mittelalters entsteht ein zweiter Strang des moralischen Universalismus, der aus den Naturrechtsdebatten des Mittelalters hervorgehende Menschenrechtsdiskurs. Als zentrale Figur macht Joas den Dominikaner Bartolomé de Las Casas aus, der, selber anfänglich spanischer Kolonialist im neu „entdeckten“ Amerika, sich mehr und mehr gegen die Gewalt an und Ausbeutung der indigenen Bevölkerung wendet: „In den folgenden Jahren verstärkte sich bei ihm die Identifikation der Indios mit dem gequälten und gekreuzigten Christus gemäß dessen Lehre, ihn jederzeit in den Geringsten unter den Mitmenschen zu sehen“ (460). Freilich bleibt Las Casas’ lebenslanges Engagement weitgehend folgenlos, wie sowohl er selbst als auch Joas keineswegs leugnen – wohl aber nicht vollkommen wirkungslos: Denn von hier führt eine Linie über Zwischenstationen zu den Menschenrechtserklärungen der Amerikanischen und Französischen Revolution, die in ihrer Interdependenz sowie im Zusammenhang mit den Weltgeschehnissen genauestens analysiert werden. Dabei setzt sich Joas immer wieder in bewundernswerter Weise mit der postkolonialistischen Frage auseinander, ob denn nicht diese angeblich universalen Menschenrechte angesichts ihrer unauflöslichen Verstrickung mit dem Kolonialismus – dem nach Dauer und Opferzahl wohl größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte – nicht wertlos seien; oder schlimmer noch, ob sie als ‚Feigenblatt‘ des politischen Universalismus (Joas vermeidet den Begriff „Imperialismus“ wegen dessen Engführung bei Lenin) nicht sogar gegenteiligen Zielen dienten. Joas arbeitet sich an dieser Frage sehr intensiv ab, verneint sie jedoch letztlich.

Weniger überzeugen kann Joas‘ Auseinandersetzung mit der Moderne. Die Aufklärung und die mit ihr verbundene Zurückdrängung religiöser Prägungen und Vorstellungswelten zeichnet er als europäischen Sonderweg, der „in hohem Maße kontingent“ (525) gewesen sei. Über die wesentlichen Treiber dieser Entwicklung, nämlich (Natur)Wissenschaft und Technik, redet Joas freilich nicht. Stattdessen betont er, dass sich jede moralische und rechtliche Hochschätzung des einzelnen Menschen als Individuum religiösen Quellen verdankt („Sakralität der Person“) – jedoch sozusagen mit dem Geburtsfehler, dass Angehörige bestimmter subalterner Gruppen in so gut wie allen Kulturen gar nicht erst als Individuen in den Blick kommen: „Wir müssen deshalb dem Sachverhalt ins Auge sehen, daß der menschheitsgeschichtliche Fortschritt hin zu einer rechtlichen Kodifikation moralisch-universalistischer Forderungen selbst im Akt dieser Positivierung mit neuen Formen der Einschränkung dieses Universalismus verbunden war“ (549). Hatte Schmitt – „wer Menschheit sagt, will betrügen“ – also doch recht?

Damit sind wir im Prinzip in der Gegenwart angekommen. In relativ geschlossenen Einzelkapiteln widmet sich Joas gewohnt detail- und kenntnisreich dem Faschismus (als direkter Negation jedes moralischen Universalismus), der Bürgerrechtsbewegung in den USA, dem indischen Unabhängigkeitskampf und dabei insbesondere Gandhi, Mao Zedong (und dem Maoismus als radikalster Form eines antireligiösen Universalismus) sowie dem Islam.

Das alles kann hier nicht nachgezeichnet werden, sei aber zur Lektüre wiederum ausdrücklich empfohlen. Drei Aspekte möchte ich hier herausheben: Erstens die lehrreiche Pointe, dass die „Allgemeine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ von 1948 als direkte Reaktion auf die Erfahrung des Faschismus zu verstehen ist; und dass sie keineswegs „ein westliches Oktroi“ (606) darstellt, wie Joas brillant herausarbeitet. Im Gegenteil geht der Wortlaut im Wesentlichen zurück auf den libanesischen Politiker und Intellektuellen Charles Malik (1906-1987) und den chinesischen Philosophen und Kosmopoliten Peng-chun Chang (1897-1957). Zweitens die Rolle von Mahatma Gandhi, der mit seiner Lehre der „ahimsa“ (Gewaltlosigkeit) und den damit verbundenen Formen des Widerstands sozusagen zum prototypischen Helden von Joas’ moralischem Universalismus wird – und übrigens als Vorbild und Ideengeber die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und Martin Luther King stark beeinflusste. Und drittens die staunenswerte Perspektivierung und Rehabilitierung des Islam, der – mit Unterstützung des amerikanischen (!) Religionshistorikers Marshall Hodgson (1922-1968) – von Joas sozusagen in den weltgeschichtlichen Strom des moralischen Universalismus, nun auch „interreligiöser Universalismus“ genannt, eingemeindet wird.

Bei aller Bemühung um die Verdienste des moralischen Universalismus, etwa die Hochschätzung von Augustinus, Dante oder Martin Luther King, kann man nicht übersehen, welch beschränktes Potenzial moralische Ideale für Joas letztlich haben. Ihr geschichtlicher Aufschwung ist zeitlich und räumlich begrenzt und verdankt sich einmaligen Konstellationen sowie besonderen Individuen, die ihre schöpferische Leistung auffällig oft mit dem gewaltsamen Tod bezahlen. (Man kann daher kritisch fragen, woher die heutigen bedrängten Individuen die Inspiration und Kraft zu solch hochfliegenden und persönlich riskanten Aufschwüngen überhaupt nehmen sollen.) Zudem hat die Geschichte in Joas’ Sicht, jedenfalls in Europa, eine falsche Abzweigung, die des Säkularismus, genommen, an dessen diskursiver Korrektur er als Autor nun tatkräftig mitwirkt – stellenweise liest sich sein Text denn auch wie die Einlösung von Habermas’ Anfang der 2000er Jahre ausgerufener „postsäkularer Wende“ mit ihrem Aufruf zur Revitalisierung religiöser Sinnbestände.

Wenn man sich die aktuellen kulturkämpferischen Frontlinien anschaut, wie sie zum Beispiel in den USA verlaufen – Stichwort MAGA, Wissenschaftsfeindschaft und Deliberalisierung –, kann man große Zweifel haben, ob diese Intervention, so verdienstvoll sie ist, in die richtige Richtung weist. Die Rückkehr zu wie immer gewandelten Traditionsbeständen – ganz im Sinne von Malrauxs angeblichem Diktum: „Das 21. Jahrhundert wird religiös sein oder es wird nicht sein“ – führt nicht selten zu politischen Ideologien, die einmal erreichte zivilisatorische Fortschritte und Freiheitsrechte fröhlich und rücksichtslos missachten. Zudem wäre, selbst wenn es gelänge, sich auf Weltebene auf einen allgemein akzeptierten Satz universeller moralischer Normen zu einigen, noch die ganz praktische Frage zu klären, wie man sie – modern und ironisch gesprochen – in ‚Humankapital‘ implementiert‚ ohne die Zwangszivilisierung der Vergangenheit zu wiederholen.

Mir scheint Joas daher eher das Symptom einer Art utopischen Schließung zu sein, die das Schicksal der Menschheit ungewollt dem Voluntarismus und der Technologie in die Hände legt. Wenn es daraus offenbar kein Entrinnen gibt, bleibt nur, sich mit den Abziehbildern der Vergangenheit zu trösten – wie ohnehin Joas’ ganze Geschichte unrettbar vergangenheitsfixiert ist und die Gegenwart des 21. Jahrhunderts auch zum Ende hin kaum in den Blick bekommt. Es gibt ja auch Universalismen des Geldes, der Technologie, der Wissenschaft etc., die auch ihre Fürsprecher und Agenten haben, aber verdeckter operieren und sich um die Ideengeschichte wenig bis gar nicht scheren. Möglicherweise ist das Zeitalter der Moral – das zudem an das im Rückgang befindliche Medium der Schrift gebunden sein könnte – sogar schon zu Ende, und das Zeitalter des Bildes, der Codes und der Automatisierung hat längst begonnen.

Eckhard Keßler – Über mich selbst

Eckhard Keßler (1938-2018) studierte von 1958-59 Klassische Philologie und Philosophie in Tübingen und bis 1963 an der LMU. Nach der Promotion habilitierte er dort 1975 in Philosophie und Geistesgeschichte des Humanismus. Er war 1977 Gastprofessor an der Columbia University New York und von 1979 bis 1982 Direktor des Deutschen Studienzentrums in Venedig. 1980 wurde er in München zum Professor für Philosophie und Geistesgeschichte des Humanismus berufen und im Jahre 2004 emeritiert. Seine Forschungsschwerpunkte waren die Naturphilosophie und Methodendiskussion im 16. Jahrhundert sowie die Tradition des Aristotelismus.

Der Aufforderung der Redaktion des „Widerspruch“ über mich selbst zu schreiben – woher ich komme, was ich mache, und warum ich mache, was ich mache – folge ich mit Zögern. Das persönliche Tun und Lassen, Wollen und Sollen scheint als das Individuelle mit der Sache der Philosophie wenig zu tun zu haben, und wenn es etwas gibt, das von allgemeinerem Interesse sein könnte, dann müsste es in den philosophischen Versuchen selbst deutlich geworden und dort jedem, der es kennen will, zugänglich sein.

Aber dann erinnerte ich mich, dass immer wieder in der Geschichte des westlichen Denkens in Zeiten der Krise und der Desorientierung, wenn die Normen fragwürdig wurden und das Allgemeine seine Verbindlichkeit verlor, das Besondere gesucht und dem Faktischen vertraut wurde. Das Biographische und Autobiographische, das tatsächlich Gelebte und Erlebte trat an die Stelle des nur Gedachten: in der Spätantike, in der Renaissance, in der frühen Neuzeit. Ich denke in der Philosophie an die Aufmerksamkeit, mit der die Selbstdarstellungen von Augustinus und Petrarca, Cardano und Rousseau studiert wurden, an die Unternehmungen von Hugo Grotius im 17. und dem Italiener Gian Artico di Porcia im 18. und an ähnliche Initiativen in den USA und Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die philosophierenden Zeitgenossen zu Selbstdarstellungen zu bewegen und wenn nicht Muster vorbildlicher, so doch Fallstudien möglicher philosophischer Lebenswege und ihrer Konsequenzen zu präsentieren. Warum sollten nicht auch in unserer Gegenwart, in der die Philosophie doppelt herausgefordert ist, sich in der ihr zunehmend feindlich gesinnten Umwelt zu behaupten und zugleich diese neue Realität zu reflektie­ren und zu erklären – warum also sollte nicht auch in unserer Gegenwart das, was andere erfahren haben, eine Orientierungsfunktion übernehmen können?

Nun denn, was mich angeht, so will ich es versuchen.

1. Ich bin weder als Philosoph geboren noch zum Philosophen erzogen worden. Der westfälische Vater war Ingenieur und während der ersten sieben Jahre eine überlebensgroße Gestalt am fernen Horizont des Krieges. Die schlesische Mutter machte in der Behandlung der beiden Töchter und des Sohnes keine großen Unterschiede. Ich erinnere mich an die gespannte Atmosphäre am Tag nach dem 20. Juli 1944 und an ein Hitlerlied, das mir noch in den ersten Schulmonaten beigebracht wurde. Daran schloss sich eine lange Flucht aus Schlesien, begleitet von goyaesken Gestalten, und ein noch längerer Abenteuersommer, -herbst und -winter in einer zerbombten westfälischen Stadt: wilde Spiele zwischen den Trümmern, den rätselhaften Zeugnissen vergangenen Lebens. Was keinen Sinn machte, wurde zerlegt, zerbrochen, zerschlagen. Wir waren keine Archäologen.

Die Schule öffnete wieder im Frühjahr 1946. Sie wurde von dem beinahe Achtjährigen freudig begrüßt. Angesichts der überwältigenden Vielfalt zumeist unzusammenhängender Eindrücke war das Verlangen nach Aufklärung, Ordnung, Verstehen drängend geworden. Ohne Radio und Bücher, mit einem vierseitigen Wochenblatt als Informationsquelle wurde die Schule zum Tor zu einer Welt jenseits des unmittelbar Gegebenen. Sie versprach, der fragmentarisierten Gegenwart einen Kontext zu geben: ein Vorher, als die Welt noch heil war, und ein Nachher, in dem die Welt wieder heil sein konnte. Die Schule war keine Störung kindlicher Spielseligkeit, aber auch keine Flucht in ein abgehobenes Reich reinen Wissens, sondern der Ort, wo die Mittel erworben werden konnten für die innere und äußere Lebensbewältigung.

Rückblickend halte ich es für möglich, dass diese Einschätzung der Welt des Geistes bei meiner ersten Begegnung mit ihr für die Schwierigkeiten verantwortlich ist, die ich bis heute mit der Selbstzweckhaftigkeit des bíos theoretikós bei Aristoteles und allen, die ihm folgen, habe und für die große Sympathie, die ich spontan für alle Positionen empfinde, die, wie etwa Cicero in De officiis, von der Philosophie verlangen, sich gegenüber den Anforderungen des menschlichen Lebens zu bewähren.

2. Der erste auf bewusster Wahl beruhende Schritt – wenn auch in anderer Absicht unternommen – war der Entschluss zum Besuch des humanistischen Gymnasiums. Er konnte meinem Vater, der mich in seine Fußstapfen treten sehen wollte, unter Berufung auf Heisenbergs Feststellung, dass Humanisten die erfolgreicheren Naturwissenschaftler zu sein pflegten, abgerungen werden. Damit öffnete sich mir die Weite der abendländischen Kultur, die mit Homer und Hesiod und den Vorsokratikern beginnt und ihr Zentrum im Mittelmeerraum besitzt, gestützt auf die drei Wurzeln Athen, Rom und Jerusalem. Sie wurde nach langen Jahren der Annäherung endlich zu meiner Welt: der natürliche Raum meines Denkens. Die Vorstellung, auf sie verzichten zu müssen, ist schwer erträglich; der Gedanke, dass jemand freiwillig das Angebot, sie zu erwerben, ausschlägt, unverständlich. Später, in den USA, habe ich gelernt, wie borniert eine solche eurozentrische Perspektive ist. Ich habe sie daraufhin in meinem Bewusstsein relativiert, aber nicht aufgegeben.

In diesem Zeit-Raum der europäischen Tradition erhalten die Erfahrungen der Gegenwart historische Tiefe: die Weisen der Erfahrung nicht anders als ihre Gegenstände verlieren die Absolutheit schlechthinniger Gegebenheit; sie sind nicht einfach hinzunehmen, sondern können nach ihrer Ursache befragt und in ihrer Genese verstanden werden. Das ist die alte Frage der Kinder, der Narren und der Philosophen.

Aber nicht nur rückwärts gewandt erstreckt sich diese historische Tiefe und fordert – der Flug der Eule der Minerva in der Dämmerung – zu nachträglicher Legitimation und Erklärung des Gewordenen und Getanen auf, sondern auch vorwärts gewandt lehrt sie, dass die Dinge im Prozess ständiger Veränderung stehen und dass der Mensch an dieser Veränderung beteiligt ist und für sie Verantwortung übernehmen muss.

3. Der zweite richtungsweisende Schritt, die Studienwahl, widersprach zwar den väterlichen Träumen, war aber vorhersehbar geworden: nicht die Natur-, sondern die Geisteswissenschaften und hier vor allem Klassische Philologie, mit Germanistik fürs Lehramt und Philosophie für die „Weltweisheit“.

Die ersten beiden Semester in Tübingen, drei atemberaubende Lehrer: der Gräzist Wolfgang Schadewaldt, der Latinist Ernst Zinn, der noch junge Literat und spätere Rhetorik-Professor Walter Jens; der erste würdevoll, der letzte intellektuell brillie­rend, der mittlere von größtem Einfluss: mit leiser Stimme stellte er die Frage: „Warum?“. Warum studieren wir die Antike? Warum wurde sie nach ihrem Ende in immer neuen Renaissancen immer wieder neu belebt?

Mit dieser Frage zog ich zum dritten Semester, 1959, für zwei Semester nach München zu den Klassischen Philologen Rudolf Pfeiffer, Friedrich Klingner, Kurt von Fritz. Obwohl ich mich immer als Latinist verstanden hatte und mich auch im Staatsexamen hatte prüfen lassen, wurde Kurt von Fritz mein philologischer Lehrer. Bei ihm lernte ich, Aristoteles zu lesen: nicht den Autor der aristotelischen Lehre, sondern den Autor der Fragen, die die aristotelische Lehre zu beantworten sucht.

Im Gepäck hatte ich auch die Empfehlung eines juristischen Freundes, den Philoso­phen Ernesto Grassi keinesfalls zu versäumen. Er las „Das Problem des Beginns des modernen Denkens und die Philosophie der Renaissance“, wobei er zu zeigen versuchte, dass das moderne Denken seinen Ursprung nicht bei Descartes, sondern in der Renaissance hatte. Das war keine direkte Antwort auf die von Ernst Zinn gestellte Frage; aber was ich hörte, reichte aus, um sie zur Frage nach dem Warum nicht nur der Klassischen Philologie, sondern des modernen Denkens überhaupt zu erweitern und die Antwort in jener Renaissance zu suchen, von der Grassi gesprochen hatte.

Statt nach Tübingen zurückzukehren, begann ich für und bei Ernesto Grassi zu arbeiten. Nach dem Staatsexamen in Klassischer Philologie und Germanistik promovierte ich bei ihm über ein Thema zur Philosophie des frühen Humanismus und habilitierte mich schließlich mit einer Arbeit, die ursprünglich das Geschichtsdenken des italienischen Humanismus als ganzen zum Gegenstand haben sollte, dann aber nicht über den ersten Humanisten, Petrarca, hinauskam. Die Jahre ihrer Entstehung – von 1968 bis 1974 – waren nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht für mein Leben und Denken prägend. Als Hilfskraft erst, dann als Assistent war ich am Aufbau des „Seminars für Philosophie und Geistesgeschichte des Humanismus“ beteiligt. Nach Grassis Emeritierung wurde daraus im Zuge der Universitätsreform von 1974 das „Institut für Geistesgeschichte und Philosophie“ erst „des Humanismus“, später dann „der Renaissance“. Nun wird es, im Zuge der Universitätsreform von 1998, wieder zu einem Seminar, diesmal „für Geistesgeschichte und Philosophie der Renaissance“ im Rahmen des „Instituts für Philosophie“.

4. Das Münchner Institut bzw. Seminar ist das einzige in Deutschland, das sich ausdrücklich mit der Renaissance-Philosophie beschäftigt. So war es nur natürlich, dass ich mich, mit ihm seit seiner Gründung verbunden, in meiner Forschung und Lehre beinahe ausschließlich auf deren Geschichte und Probleme konzentriert habe. Dies bedeutet eine gewisse Isolation an der eigenen Universität, motiviert aber gleichzeitig auch zu vermehrten internationalen Kontakten, um der Gefahr der Provinzialisierung zu begegnen. Mich haben sie zu längeren Aufenthalten in den USA und Italien und zu freundschaftlichen Kooperationen mit Kollegen aus fast allen europäischen und vielen außereuropäischen Ländern geführt, die für meine Arbeit von großer Bedeutung waren.

In der Lehre war ich vom Beginn meiner Vorlesungstätigkeit an darauf bedacht, meinen Hörern, gleichgültig ob aus der Philosophie oder aus anderen Fächern, das zu vermitteln, was ich selbst als Student immer vermisst hatte: eine dokumentierte Kenntnis der Strömungen und Probleme der Philosophie zwischen etwa 1350 und 1600 in ihrem philosophiehistorischen, kulturellen, politischen und sozialen Kontext. Entgegen meiner Herkunft aus der Klassischen Philologie habe ich dabei die unmittelbar vorhergehenden, spätmittelalterlichen Anstöße, vor allem Duns Scotus und Wilhelm von Ockham, betont, in deren Licht die neue Rezeption der Antike vorgenommen wurde und verständlich zu werden scheint.

In meiner Forschung, die nicht ohne den Dialog mit den Studenten in den Seminaren denkbar ist, stand zunächst die Frage nach den Wurzeln und der Entstehung der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft aus der „Selbstdestruktion des Mittelalters“ und der Vielfalt der in der Renaissance entwickelten Ansätze im Vordergrund: die anthropologischen und moralphilosophischen Versuche im Umkreis der Humanisten, die kosmologischen und naturphilosophischen Entwürfe in der Tradition der Aristoteliker und des Neuplatonismus, die umfangreiche erkenntnistheoretische Diskussion in der Auseinandersetzung mit der aristotelischen Psychologie und die vielgestaltige Methodendiskussion im Ausgang vom deduktiven Wissenschaftsideal des Aristoteles, auf der Suche nach einer empirisch begründeten „neuen Wissenschaft“. Dabei verschob sich im Laufe der Jahre die leitende Perspektive: an die Stelle der genetischen Begründung der modernen Philosophie und Wissenschaft, die man als Perspektive einer diachronen Wissenschaftstheorie bezeichnen könnte, trat die Analyse der Problemstellungen und Lösungsansätzen als Manifestationen des Denkens, unabhängig von ihrer historischen Relevanz, die man die Perspektive einer diachronen Phänomenologie des menschlichen Geistes nennen könnte.

5. Seit der Zeit, als ich mich in München ernsthaft auf die Philosophie einzulassen begonnen habe, hat die Philosophie selbst sich verändert. Diese Veränderungen haben ihre Gründe und müssen – man mag sie begrüßen oder nicht – in ihrer Faktizität akzeptiert werden. Wir können aber weder hoffen noch müssen wir befürchten, dass sie der Philosophie ihre endgültige Gestalt gegeben haben, und es steht uns frei, an ihrer Zukunft mitzuwirken. Ich möchte abschließend dazu zwei Anmerkungen machen:

[1] Ich halte in der gegenwärtigen innerphilosophischen Diskussion die Differenzierung nach historischen Problemen und Sachfragen nicht für besonders hilfreich. Denn einerseits sind alle unsere Fragen geschichtlich und das, was eine Sache ist, ist der Philosophie nicht vorgegeben, sondern von ihr selbst definiert; und andererseits ist so etwas wie eine reine, nicht von ihrem Erzähler gedeutete Geschichte in der Philosophie ebenso wenig möglich wie in anderen Bereichen.

[2] Ich halte in der gegenwärtigen universitätspolitischen Diskussion die Bestrebungen, die Philosophie auf ein berufsbildendes Fach zu reduzieren und ihre Effizienz nach der Zahl der Studienabschlüsse zu bemessen, für verfehlt. Zwar muss auch die Philosophie dem gewachsenen Bedürfnis der Studierenden nach klarer Strukturierung und größerer Regulierung der Studiengänge gerecht werden, aber sie darf nicht auf die Vermittlung eines abgeschlossenen und abprüfbaren Wissens reduziert werden. Die Philosophie sollte sich der ihr eigenen Kreativität, immer neue Perspektiven zu eröffnen und neue Horizonte zu entwerfen, nicht berauben lassen.

Nassehi – Kritik der großen Geste

Armin Nassehi

Kritik der großen Geste. Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken

br., 224 Seiten, 18.-€,

München 2024 (Beck-Verlag)

von Bernd M. Malunat

„Kunst ist das Gegenteil von gut gemeint“ – dieses Bonmont des großen Spötters Gottfried Benn lässt sich auch auf das vorliegende Büchlein anwenden; denn es darf ja keine Zweifel daran aufkommen, dass der durchaus renommierte Münchner Soziologe es ernst meint. Nassehi will allerdings keinen wissenschaftlichen Text, auch kein politisches Buch vorlegen. Er verzichtet deshalb auf jeglichen wissenschaftlichen Apparat, begnügt sich mit gelegentlichem name dropping, um durch eine barrierefreie Form das Lesen und auch sein Schreiben zu erleichtern. Damit lässt sich der holprige Schreibstil aber nicht erklären, der den Eindruck erweckt, der Autor habe seinen Text einer Maschine anvertraut, doch irgendwie übersehen, ihn nach dem Ausdruck zu korrigieren. Da wäre ein engagierter Lektor hilfreich gewesen, nicht nur ein paar interessierte Freunde (8). Es handelt sich also um einen Essay (26), einen Versuch eben, der aber den Anspruch erhebt, das politische Problem zu lösen, wie multiple Krisen durch die „Kritik der großen Geste“ in den Griff zu bekommen sind (100). Dies vorauszuschicken ist nötig, weil sonst vieles dieser Schrift ganz eigener Art kaum verstehbar wäre.

Systeme, so Nassehi, seien stabiler, träger als ihre Umwelt (11), und diese Trägheit bilde einen strukturellen Schutzmechanismus (12), der sich trotz gediegenen Wissens und bester Absicht kaum ändern lasse, weil die innere Dynamik, die Selbstlimitation der Gesellschaft dem entgegenstehe (17). Die soziale Welt sei nicht aus einem Guss, könne daher auch nicht kollektiv handeln (172). Diese angenommene Absage an die kollektive Veränderbarkeit von Bedingungen gerinnt zu der Aussage, dass „nur die Mittel und Formen zur Verfügung (stehen), die auch wirklich zur Verfügung stehen“ (21). Nassehi hält dies tatsächlich für einen vielleicht wirklich revolutionären Satz (21)!, der vielleicht wirklich falsch ist. Jedenfalls erscheint ihm die Gesellschaft als zur Einsicht unfähig.

Da wir multiplen Krisen ausgesetzt seien, stelle sich „ernsthaft die Frage, ob die liberale Demokratie überhaupt dafür gerüstet ist, existentielle Herausforderungen zu bewältigen“ (63); mehr noch könne man „dann ernsthaft fragen, ob die Demokratie überhaupt für kollektive Krisenbewältigung in der Lage sein kann, und man wird die Frage ebenso verneinen müssen, wie man die Alternativen in Rechnung stellen muss“ (85), als die er „Indoktrinierung, Abschottung, Gewalt“ (85) ausmacht. Damit wendet sich der Autor aber keineswegs von der Demokratie ab, postuliert vielmehr – wenn auch in einer kontradiktorischen Wendung –, „dass die Krise der Demokratie allein durch kompetentere Politik überwunden werden kann“ (179), die durch die operative Durchsetzung konkreter Entscheidungen für nachhaltige Lösungen, die angemessene Wirkungen erzeugen, sorgen müsse (180).

Das bürgerliche Gesetz, das in den bisherigen Überlegungen begrifflich nicht vorkommt (43), erhält durch die implizierte Politiker-Schelte seine Funktion zwar zurück, wird allerdings gleich wieder einkassiert, weil man sich Problemlösungskompetenz zwar wünschen, nicht aber dekretieren könne (182). Seine grundlegende Skepsis gegenüber der Wirksamkeit des rechtsstaatlichen Gesetzes gilt selbst dann, wenn es sachlich überzeugend begründet und gut kommuniziert wird; denn „man kann kaum Empirisches verstehen, wenn man keinen ausgearbeiteten Gesellschaftsbegriff hat“ (208). Gibt es demnach also keine Verpflichtung, staatliche Gesetze zu befolgen? Anders: muss das Gesetz hinter den durchaus berechtigten Interessen einer diversen Gesellschaft zurücktreten, selbst wenn erkennbar ist, dass durch Untätigkeit Kosten entstehen werden, welche die Gesellschaft zu tragen haben wird? Ist das unvermeidbar oder schon fahrlässig? Das wirft die Frage nach der demokratischen Verfasstheit der Gesellschaft auf.

Über einen ausgearbeiteten Gesellschaftsbegriff verfügt für den Soziologen natürlich die Soziologie. Ließe sich daraus herleiten, es mit einem gewissermaßen technokratischen Parlament samt Regierung aus Soziologen zu versuchen? In seiner Darstellung ist immer nur von der Gesellschaft die Rede, einer Art amorpher Masse, die zwar vielfältigen Perzeptionen huldigt, aber die Wirkung von Menschen, Personen, Persönlichkeiten, die teils herausragende Leistungen erbracht haben, wird einfach negiert. Dabei bedarf es keiner großen Belege dafür, dass die ‚großen Gesten‘ überwiegend von Einzelnen, von den inzwischen gescholtenen ‚alten, weißen Männern‘ ( manchmal auch Frauen) vollbracht wurden. Das gilt selbstverständlich für fast alle naturwissenschaftlichen, technologischen Leistungen, aber auch für wegweisende politische Transformationen; man denke etwa an die Westpolitik Adenauers, die Ostpolitik Brandts, auch an die sog. Agenda-Politik Schröders, allesamt Entscheidungen, die meist im kleinsten Kreis getroffen wurden.

Damit stellt sich die Frage, ob die Grundannahme des Autors, auf ‚große Gesten‘ zu verzichten, um die notwendigen Transformationen gesellschaftlich bewirken zu können, nicht diametral anders beantwortet werden müsste. Denn es bedarf auch keiner weiteren Belege, dass das gegenwärtige Weltgeschehen tatsächlich von den ‚wirklich großen Gesten‘ befeuert wird; man denke an die USA, China, Russland, Indien und viele weitere Staaten. Dieser Blick in die große Welt zeigt, dass die Soziologie ihres verengten Blicks wegen gänzlich ungeeignet wäre, die ohnehin hypothetisch angestellte Überlegung einer Experten-Herrschaft mit Aussicht auf Erfolg bewältigen zu können.

Der Blick des Soziologen ist aber auch dann als verengt anzusehen, wenn es nur um die Deutschland betreffenden Transformationen geht; dafür liefert er unbeabsichtigt ausreichende Hinweise. Am augenfälligsten wird das an seiner altväterlichen Kritik der Kapitalismus-Kritik (70ff). Nassehi hat offenbar nicht erkannt, dass es nicht um dessen Überwindung geht, sondern darum, seine Verteilungswirkungen zu korrigieren. Die Ungleichverteilung ist national wie global, zusammen mit dem existenzbedrohenden Klimawandel und dem Artenschwund, das wohl drängendste zukünftige Problem, weil es das geordnete Zusammenleben zerstört. Mit extremer Deutlichkeit zeigt sich diese finanzkapitalistische Entwicklung an der Westküste der USA, wo eine Anzahl sogenannter Tech-Multimilliardäre zu den ‚allergrößten großen Gesten‘ ausholt, welche die Weltgeschichte erlebt hat, die durch die rasanten Fortschritte der Künstlichen Intelligenz (KI) sogar möglich werden könnten. Deutschland, Europa aber übt sich im Klein-Klein! An der Unterstützung der von Russland überfallenen Ukraine lässt sich das deutlich zeigen.

Der verengte Blickwinkel wird aber etwa auch daran deutlich, dass der Autor sich zwar seitenlang, und mit durchaus guten Gründen, mit der Identitätspolitik beschäftigt, den Lobbyismus jedoch völlig unbeachtet lässt. Dabei ist offenkundig, dass es sich um den ‚großen Bruder‘ – ein Sprachbild, das er gern verwendet – der Identitätspolitik handelt, weil die verschiedenen sozialen und ökonomischen Großgruppen dadurch ihre Interessen einbringen, die allerdings mit bedeutend größeren Ressourcen, nicht zuletzt finanzieller Art, ausgestattet sind. Das verdeutlicht zugleich, dass er die Wirtschaft als sozialen Akteur nicht zum relevanten Teil der Gesellschaft zählt, und ihr deshalb kaum Beachtung zuwendet.

Sein Versuch, die Potentiale für notwendige Veränderungen in konkreten Gegenwarten zu finden (212 ff.), mutet ein wenig feuilletonistisch an, weil er zwar durchaus begrüßenswerte Beispiele nennt, sich aber nicht selbst befragt, weshalb gerade sie von der doch so disparaten Gesellschaft akzeptiert werden sollten: einfach nur weil sie ‚klein‘ sind? Davon abgesehen ist anzunehmen, dass diese wirklich gut gemeinten Ansätze, die überwiegend von Start-ups hervorgebracht werden, nicht nur langsam wirken, sondern, sobald sie skalierbar sind, ganz schnell von finanzstarken Investoren aufgekauft werden, wie es in der Vergangenheit beinahe regelmäßig geschah – um dann doch wieder als ‚große Geste‘ zu enden.

Die vom Autor präferierten ‚kleinen Gesten‘ bedeuten zugleich auch eine nicht bedachte Absage an die internationale Zusammenarbeit, etwa in der EU, der NATO, letztlich sogar im System der Vereinten Nationen, auf die zu verzichten aus vielfältigen Gründen kaum vorstellbar, sicher aber nicht wünschbar ist, angesichts der weltpolitischen Neuordnung. Die rückwärtsgewandte, vielleicht nur gedankenlose Haltung, die von einer randständigen Partei vertreten wird, ist nicht in der Gegenwart angekommen, hat die ‚Zeitenwende‘, die Welt im grundlegenden Wandel noch nicht integriert. Selbst angesichts der verteidigungspolitischen Herausforderungen hätte das zur Folge, den Kopf in den Sand zu stecken.

Versucht man den beredeten Text zusammenzufassen, gelangt man zu dem ernüchternden Ergebnis, dass der Autor zwar ‚anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken‘ will, aber allenfalls in eingestreuten Nebensätzen schreibt, wer für wen was transformieren soll; wichtig ist ihm nur, dass es nicht mit ‚großer Geste‘ erfolgt. Wenn man die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre verfolgt, lässt sich statistisch deutlich belegen, dass sein Votum schon gute Erfolge erzielt hat. Deutet man die Politik der amtierenden Bundesregierung richtig, so ist auch sie in diesem ‚Herbst der Reformen‘ auf einem guten Weg. Nur die riesige Schuldenaufnahme sollte man ausblenden, auch wenn sie auf weitgehende Zustimmung in Wirtschaft und Gesellschaft trifft, die nicht so unfähig zur Einsicht scheint, wie der Autor annimmt.

Daher eine kurze Zwischenbemerkung. Man kann all die vielleicht wirklich bestehenden negativen Konnotationen extrapolieren; man kann sich aber auch bemühen, die gegebenen Einstellungen in eine nicht-lineare, positivere, gemeinschaftsverträglichere und demokratiegerechte Richtung umzulenken, um dadurch zugleich die Meinungsführerschaft der nur so genannten sozialen Medien zu beschränken. Das ist übrigens ein gelungener Euphemismus der Empörungs-Unternehmer, die durch die Manipulation ihrer Algorithmen in der Lage sind, in vermehrtem Umfang ‚neue Unübersichtlichkeiten‘ zu schaffen. Das ist als Anregung gedacht, nicht als Auftrag an eine Soziologie in pädagogischer Absicht.

Der Soziologe, der als ruheloser Wissenschaftler bloß ‚große Worte‘ in die Arena der Auseinandersetzungen werfen will, kann sich zufrieden zurücklehnen. Man muss sich also keine Sorgen machen, weder um die dringend not-wendigen Transformationen noch um die Soziologie – oder vielleicht doch? Jedenfalls handelt es sich bei Nassehis Text um eine auf- und anregende Buchstabenfolge.

Zum Schluss ein Aperçu: Ich singe Dir `ne Welt / wie sie Mir gefällt.

Elisabeth Gössmann – Hindernislauf

Elisabeth Gössmann (1928-2019) war Theologin und eine der ersten Vertreterinnen der feministischen Theologie in der katholischen Kirche. 1963 scheiterte ihre Habilitation am Einspruch der Deutschen Bischofskonferenz. 1978 gelang ihr zweiter Versuch im Fach Philosophie bei Eugen Biser. Erst 1990 erhielt sie eine außerplanmäßige Professur in München. Seit 1968 lehrte sie in Tokyo, dann in München und erhielt die Ehrendoktorwürde von fünf Universitäten.

Statt des Titels „Hindernislauf“ hätte ich auch einen anderen wählen können, nämlich: „Geburtsfehler weiblich“. Das war der Kommentar meines Doktorvaters, jedesmal wenn eine der 37 (in Worten: sieben und dreißig) Ablehnungen meiner Bewerbungen auf eine Professur in Deutschland, ob für Philosophie oder Theologie, ob an einer Pädagogischen Hochschule oder Universität, eingetroffen war. Doch dieser Titel ist schon vergeben.

Aber alles der Reihe nach! Als Kind einer lutherisch-katholischen, also konfessionell gemischten Ehe, wurde ich bald auf religiöse Unterschiede im Verhalten der Eltern aufmerksam, wie z. B. die Zuständigkeit verschiedener Kirchen für sie oder das beim Vater fehlende Kreuzzeichen vor und nach dem Tischgebet. Getreu dem katholisch-kirchenrechtlich geforderten Versprechen meines Vaters wurde ich in der Konfession meiner Mutter getauft und erzogen. Bei gelegentlichen Besuchen in Kirchen des lutherischen oder gar reformierten Bekenntnisses festigte sich mein kindliches Urteil, daß es mir in „unserer“ Kirche viel besser gefiel. Eine von mir in „unsere“ Kirche mitgenommene reformierte Freundin neigte ebenfalls meiner Meinung zu, kommentierte aber zu meinem Erstaunen gegenüber ihren Eltern den Gastbesuch bei der anderen Konfession folgendermaßen: „Es war so schön wie im Zirkus.“

Am meisten liebte ich die Fronleichnamsprozession, die sich über die beiden Plätze am Osnabrücker Dom bewegte. Von Blasinstrumenten begleitet, erscholl das Lied: „Kommt her, ihr Kreaturen all, die ihr vor Liebe brennt“. Zwar hatte ich an unserm Küchenherd mit dem Brennen andere als Liebeserfahrungen gemacht, aber das Unverstandene hatte seinen Reiz. Ebenso ging es mir bei den Cherubim und Seraphim, die in diesem Lied vorkamen. Ich hütete mich zu fragen, wer das denn sei. Als ich später im Studium Rudolf Ottos „tremendum et fascinosum“ kennenlernte, waren gleich die Cherubim und Seraphim meiner Kindheit wieder präsent, also wohl bei richtiger Gelegenheit. Als ich dagegen die Engellehre des Dionysius Pseudo-Areopagita studierte, blieb ich ganz kalt; offensichtlich war das eine Ernüchterung.

Mit meinen beiden Spielkameraden Friedel und Günter – sie wohnten in unserm Vorderhaus und waren von lutherischer Konfession – gab es viele religiöse Diskussionen. Daß wir nicht etwa „die Maria anbeten“, wie sie mir vorwarfen, davon konnte ich sie im 2. Schuljahr mit Hilfe des kleinen Schulkatechismus überzeugen. Es gab aber auch „ökumenische“ Übereinkunft: „Wie groß ist der liebe Gott?“ – „Größer als unser Vatter“, darin waren sich beide Jungen, ein paar Jahre älter als ich, einig. „Unser Mutter“ war von solchen Vergleichen ausgeklammert, obwohl gerade diese mir wegen ihrer (von mir noch unverstandenen) Schwangerschaft viel Anlaß zum Grübeln gab. In Gedanken stellten Friedel und Günter viele Schränke und Tische übereinander, um Gottes Größe zu ermessen, und ich bemühte mich, den großen Birnbaum auf unserm Hof oder den alten Kastanienbaum auf dem Hegertor gelegentlich dazwischen zu schieben, da mir Bäume „göttlicher“ erschienen als das tote Holz. Aber wir spürten alle drei, was wir nicht ausdrücken konnten, dass wir aus der Immanenz nicht herauskamen. Das ließ uns viele Male unwillig abbrechen, aber wir versuchten es immer wieder. – Als Friedel dann im II. Weltkrieg als HJ-Meldefahrer bei einem Bombenangriff ums Leben kam, war mir der Gedanke, dass er jetzt „alles weiß“, ein kleiner Trost.

Um diese Zeit quälte mich das erste Wahrnehmen von Subjektivität oder ähnlichem. Ich fragte mich, ob ich wohl in meine Mutter reinkriechen, aus ihren Augen schauen und mit ihrem Kopf denken, aber dann wieder in meine beschränkte Größe und Denkkraft zurückkehren könne. Als ich mich wohl von der Unmöglichkeit dieses Identitätswechsels und der Unwiderruflichkeit von Individualität überzeugt hatte, sagte ich zu ihr: „Ich gucke aus meinem Kopf, und Du guckst aus Deinem Kopf.“ Sie darauf, nicht für meine Ohren bestimmt, am Abend zum Vater: „Das Kind ist manchmal etwas überspannt.“

Ein Jahr vor Kriegsbeginn, im Frühjahr 1938, zogen wir nach Dortmund, weil meinem Vater wegen seiner „katholischen Familie“ – auch mein jüngerer Bruder wurde katholisch getauft und erzogen – eine lange verweigerte Beförderung als Zollbeamter endlich doch noch gewährt worden war. Er war im Herbst 1937, nachdem er schon viel früher ohne sein Zutun vom „Stahlhelm“ in die „SA“ überführt worden war, in die Partei eingetreten, aus Karrieregründen. 1943 wurde er noch zur Wehrmacht eingezogen.

Anfang 1943, als der Bombenkrieg gegen das Industriegebiet sich verschärfte, kamen wir in der 4. Klasse der damaligen „Oberschule für Mädchen“, mit unserer Parallelklasse und den Klassen darunter, nach Oberammergau in die Kinderlandverschickung. Unsere Klasse wohnte in der Pension einer überzeugt christlichen Familie, und wir wurden von unseren mitverschickten Lehrerinnen (mit einer Ausnahme) nicht etwa nationalsozialistisch indoktriniert, eigentlich auch nicht von den BDM-Führerinnen, die, nur wenige Jahre älter als wir, am Nachmittag für uns verantwortlich waren. Aber „von oben“ wurde uns der vorher versprochene sonntägliche Kirchenbesuch vereitelt, indem befohlen wurde, dass wir an einer zentralen HJ-Morgenfeier teilzunehmen hätten. Wir gingen zum Pfarrer von Oberammergau, und der legte noch eine Messe ein zu einer uns möglichen Zeit, die dann im Ort „KLV-Messe“ hieß.

Nach Aufenthalten an verschiedenen ländlichen Evakuierungsorten und Tieffliegerbeschuss auf dem weiten Schulweg per Rad und per Bahn im Jahr 1944 kam es am Kriegsende, nachdem unsere Dortmunder Wohnung längst ausgebombt war, in Rhede an der Ems noch zu direkten Fronterfahrungen. Als die Front näherrückte, mussten wir 15-16-jährigen Mädchen die Schützengräben auswerfen und für die Soldaten kochen. Dann wurde die Brücke gesprengt, und die Bewohner wurden in die moorige Gegend von Rhederfeld evakuiert. Die schwere Artillerie beider Seiten schoss über uns hinweg. Der Ort Rhede wurde bei seiner Einnahme durch die Alliierten fast völlig zerstört, auch unsere letzte Habe in der provisorischen Unterkunft.

Die Bauern errichteten Nissenhütten auf der Deele ihrer abgebrannten Höfe. Wir Mädchen mussten die Gräben wieder zuschütten und waren voller Sorge, ob wir wohl demnächst irgendwohin verschleppt würden. Ich praktizierte mein erstes Englisch, um zwischen den Bauern und der Besatzung zu vermitteln.

Im Herbst 1945 kam unser Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurück, völlig abgemagert. Wenige Wochen später traf der Bescheid ein, er sei wegen der Mitgliedschaft bei nationalsozialistischen Organisationen aus dem Beamtendienst entlassen. Unser Konto wurde gesperrt, 300 Mark pro Monat durften abgehoben werden. Es war berechenbar, wie lange das reicht. Mein Vater eröffnete mir, wenn ich bis Frühjahr 1947 das Abitur schaffen würde, könne er mir noch helfen, sonst nicht. Ich hatte Unterricht in den drei Fremdsprachen bei einer Studentin aus dem Dorf, in der Nissenhütte auf der Deele ihres abgebrannten elterlichen Hofes, und nachdem wir ein Lehrbuch aufgetrieben hatten, gelang es meinem Vater auch, meine mathematischen Lücken zu füllen, obwohl er zur landwirtschaftlichen Arbeit „dienstverpflichtet“ war. Ich ging im Frühjahr 1946 frech in die oberste Klasse der Mädchen-Oberschule in Leer/Ostfriesland, wo ich auch vor dem Kriegsende schon war, und kam in der neuen Klasse ganz gut mit. Nur ein Lehrer merkte etwas und wollte mich zurückstufen. Meine Mutter tauschte eine goldene Brosche, ein Andenken von ihrer Mutter, gegen Speck und fuhr am nächsten Morgen nach Leer, um den Lehrer „herumzukriegen“, aber der war inzwischen vom gleichen Schicksal ereilt wie mein Vater. Die Hürde Abitur wurde planmäßig im Frühjahr 1947, nach einem kalten Winter ohne Kohlen, genommen.

Mein Vater war bis dahin sogar schon „entnazifiziert“ und wieder im Beruf, und ich durfte studieren. Nach dem, was ich erlebt hatte – die Ängste im Luftschutzkeller vor dem Verschüttetwerden, der Anblick der gefallenen Soldaten in Rhede, die Zerstörung der alten Straßen mit den schönen Ackerbürgerhäusern in Osnabrück, die ich als Kind so geliebt hatte –, was sollte ich anderes studieren als Theologie und Philosophie? Ich fühlte mich veranlasst, nur noch „sub specie aeternitatis“ zu leben und mich an nichts Vergängliches mehr zu hängen. Also beschloss ich das Studium dieser beiden Fächer, und als gesichertes „Schulfach“ (Konzession an den Vater) noch Germanistik dazu. Ich besuchte alle Vorlesungen und Seminare mit metaphysischen Themen – in der Nachkriegszeit waren es gar nicht wenige – und legte in der Theologie den Schwerpunkt auf die Dogmatik. Im Mai 1952 bestand ich in Münster das Staatsexamen und ging nach München, wo ich zuvor schon ein Semester studiert hatte.

Es war mir nämlich die neue theologische Promotionsordnung der LMU unter die Augen gekommen, in der gegenüber der alten ein Satz fehlte: Es stand nicht mehr darin, der Kandidat müsse bereits die Diakonatsweihe empfangen haben. Mit einer Freundin war ich schon in den Pfingstferien 1951 nach München getrampt, um an meinen späteren Doktorvater, Prof. Michael Schmaus, die Frage zu richten: „Bedeutet das, dass wir auch?“ – „Ja, aber nur, wenn Ihr nicht mit einer durchschnittlichen Arbeit kommt, sonst gibt es sicher Schwierigkeiten.“ Er ließ mich gar nicht ausreden, denn er kannte mich noch aus seinem Seminar im Jahr zuvor, als ich mich schon einmal nach einer solchen Möglichkeit erkundigt und er daraufhin nur gelächelt hatte. Im November 1954 wurden wir zu zweit als Frauen in Theologie promoviert, 10 Jahre früher, als dies an anderen westdeutschen Universitäten möglich war.

Das Promotionsstudium war für mich eine Bekehrung zur Geschichtlichkeit; nicht dass ich das metaphysische Denken, das mir ja im Mittelalter noch reichlich begegnen sollte, beiseite warf, aber ich lernte, besonders durch unsere Lektüren im „Grabmann-Institut zur Erforschung der Philosophie und Theologie des Mittelalters“, die der Frühscholastik, der Mystiktheorie (Richard von St. Viktor) und der Franziskanertheologie gewidmet waren, in Spannung dazu auch das heilsgeschichtliche Denken kennen sowie die allmähliche Entwicklung, die zu christlichen Dogmen geführt hatte, über deren Vorformen zu reflektieren, ich bis heute als sehr sinnvoll empfinde. Mit seinem großen theologiegeschichtlichen Wissen brachte Schmaus uns bei, Begriffe in ihrer Gewordenheit und Wandelbarkeit zu rezipieren, auch in ihrem verschiedenen Gebrauch bei unterschiedlichen Schulen. Er sprach von der Notwendigkeit des Übersetzens von einem veralteten Weltbild in ein neues. Ich entdeckte aber auch bei der Vorbereitung meiner Doktorarbeit, wie viele mittelalterliche Schriftstellerinnen, die entweder als Mystikerinnen oder als Dichterinnen klassifiziert wurden, sich theologisch kompetent geäußert hatten, und bezog sie in meine Dissertation ein.

Genau ein Jahr nach meiner Promotion saßen wir, nun als junge Familie, im Flugzeug nach Tokyo, wo zur ersten noch eine zweite Tochter hinzukam. Helfende Hände, so dass ich beruflich tätig sein konnte, gab es damals noch genug. Beide arbeiteten wir an der Sophia-Universität in der Deutschen Abteilung, und ich zusätzlich an einer Frauenuniversität, wo ich, neben dem obligaten Sprachunterricht, in englischer Sprache Vorlesungen über „Mediaeval Philosophy“ und „Modern Christian Philosophy“ halten konnte. Hier lag mein Schwerpunkt. Dass ich dafür nur mit meinem deutschen Schulenglisch ausgerüstet war, möchte ich nicht als Hürde bezeichnen. Zwar brauchte ich viel Vorbereitungszeit, um englischsprachige Sekundärliteratur zu lesen, die mir das notwendige Vokabular verschaffte, aber es ging mir einigermaßen leicht von der Zunge. Viele Studentinnen im damaligen International College verstanden mich sogar besser als ihre amerikanischen Dozentinnen, kein Wunder, da ich als non-native speaker sehr langsam sprach.

In dieser Zeit begann ich, mich mit dem Buddhismus zu befassen und die figürliche Kunst dieser Religion in den japanischen Tempeln wertzuschätzen. Ich fand auch noch Zeit, meine Habilitationsschrift über eine franziskanische Summa Theologica weiterzubringen, mit der ich in dem Jahr nach der Promotion in München schon angefangen hatte. Im Sommer 1960 kehrten wir nach München zurück; denn ich brauchte zur Vollendung der Arbeit die hiesigen Bibliotheken. In dieser Zeit war ich wissenschaftliche Mitarbeiterin am Grabmann-Institut und nahm auch weiterhin an den Seminarübungen teil. Mein Wissen über die Vielfältigkeit und das divergierende Denken in den verschiedenen Schulen vertiefte sich und bewahrte mich zeitlebens davor, „die Scholastik“ – etwa in ihrem Frauenbild – über einen Kamm zu scheren.

Im Herbst 1962 gab ich bei Professor Schmaus meine Habilitationsschrift ab, und das Verfahren wurde eröffnet. Aber bald schon erhob sich Einspruch von bischöflicher Seite und wohl auch innerhalb der Fakultät; und das, obwohl Schmaus in Rom, im Aufwind der ersten Sitzungsperiode des II. Vatikanums, versucht hatte, allerwärts „gut’ Wetter“ für die „Laienhabilitation“ (Habilitation von Nichtpriestern) zu machen. Ich wurde zu Kardinal Döpfner gerufen, der mir erklärte, dass der Abbruch meines Habilitationsverfahrens keineswegs an meiner Leistung liege, sondern daran, dass „wir Bischöfe ja noch nicht wissen, was wir mit habilitierten Laien in der Theologie anfangen sollen“. Er dachte dabei an die damals noch ganz in den Händen von Geistlichen als Theologieprofessoren liegende Priesterausbildung. Nun, für männliche Laientheologen löste sich dieses Problem viel früher als für weibliche. Die theologische Habilitationshürde konnte ich nicht nehmen.

Ich ging mit den Kindern zurück nach Tokyo und übernahm 1967 an meiner Frauenuniversität die Leitung der Sektion „Humanities in English“. 1968 wurde ich zur Kyôju (full professor) befördert. Nach US-amerikanischem Vorbild waren die „Humanities“ eine kleine Abteilung, in der ein Überblick der Geisteswissenschaften, mit einem „Spritzer“ von Sozialwissenschaften, angeboten wurde. Dazu gehörte auch ein zweijähriger Kurs „Great Books of World Literature“, den zu organisieren mir viel Spaß machte. Die deutsche Philosophie- und Literaturgeschichte überblickshaft zu vermitteln, übernahm ich selbst, eine Kollegin aus der Abteilung für Englische Literatur das entsprechende Englische, ein Jesuit der Sophia-Universität, der Romanist war, gab eine Einführung in die spanische, italienische und französische Literatur, und eine russische Literaturwissenschaftlerin, die mir die damalige Sowjet-Botschaft vermittelt hatte, deckte ihren Bereich ab. Ich selbst lernte viel bei diesen Vorlesungen und dachte mehr als einmal, daß uns ein solcher Überblick in Form eines Studium generale in Deutschland doch eigentlich auch sehr nützlich wäre.

Das waren sieben relativ glücklich verlaufende und Berufsfreude erweckende Jahre, die auch durch die bunt gemischte Studentinnenschaft viel Anregung gaben. Neben den Japanerinnen studierten damals dort auch Koreanerinnen, Hongkong-Chinesinnen, Philippinerinnen, Thailänderinnen, einige wenige Amerikanerinnen aus Nord und Süd. Eine Wochenstunde gab ich aber damals schon auf Japanisch, weil ich eine solche Zukunft auf mich zukommen sah.

1974 war es dann so weit. Die Zahl der ausländischen Studentinnen nahm ab, und die Sektion „Humanities in English“ wurde aufgelöst. Ich hatte nur die Frühjahrsferien, um mich auf eine Lehrtätigkeit nur noch in japanischer Sprache umzustellen; ohne systematisches Sprachstudium eine ganz gewaltige Hürde. Nächtelang saß ich an der Vorbereitung, wobei ich die Hilfe einer bei uns wohnenden Studentin in Anspruch nehmen musste. Es war eine harte Zeit.

Aber hätte ich es nicht geschafft, wäre meine Professur nicht zu halten gewesen. Ich wurde in die Abteilung für „Westliche Philosophie“ übernommen, wo es auch eine Sektion für Christliche Studien gab, die ich später leitete. Hier konnte ich sogar Griechisch und Theologie des Neuen Testamentes lehren, daneben fiel mir aber auch die Philosophie der europäischen Antike zu. Glücklicherweise hatten wir einen japanischen Spezialisten für Kant, so dass es mir erspart blieb, mir das dafür notwendige (und z. T. im 19. Jahrhundert für die Rezeption des Deutschen Idealismus erst geschaffene) japanische Begriffswerkzeug anzueignen. Die Zusammenarbeit unter den Philosophiedozierenden gestaltete sich sehr hilfreich. Ich konnte und kann ihnen bei ihren zahlreichen Übersetzungsprojekten helfen und sie mir bei meinen Schwierigkeiten mit dem Japanischen.

1977 war freundlicherweise Prof. Eugen Biser bereit, meine bis dahin veröffentlichten mediävistischen Monographien (darunter auch die einstige „verhinderte“ Habilitationsschrift) zu begutachten, um mir eine kumulative Habilitation zu ermöglichen. Das Colloquium, das mir in der Theologischen Fakultät erspart geblieben wäre, musste ich aber ablegen und zu diesem Zweck drei Themen einreichen, bevor ich nach den Frühjahrsferien wieder nach Tokyo flog. In Moskau – die Aeroflot war die einzige für mich erschwingliche Luftlinie – musste man damals noch auf einen Fragebogen die Titel aller Bücher und Zeitschriften eintragen, die man mit sich führte. Ich hatte aber nichts als Bücher und Kopien zur Vorbereitung meiner drei Themen im Gepäck und hätte viele Fragebogen gebraucht, ganz abgesehen davon, dass die Zeit nicht reichte. Ich wagte es, ein leeres Blatt abzugeben. Ich hatte Glück, bei mir gab es keine Stichprobe. Auf dem Rückweg ging es ebenso, allerdings mit viel Herzklopfen, aus Furcht, dass mir etwas Notwendiges abgenommen werden könnte. 1978 hatte ich auf dem Weg nach Tokyo wieder das Material für drei Themen dabei, diesmal für die Habil-Vorlesung; aber ich erfuhr noch vor dem Abflug nach München, welches dieser Themen genommen wurde, und konnte mein Gepäck reduzieren. Die Habilitationshürde war also endlich genommen, wenngleich nicht im ursprünglich angestrebten Fach, aber doch zur großen Freude, auch von Professor Schmaus.

Zwar hat mir die Habilitation keinen Erfolg bei meinen Bewerbungen beschert, aber gelohnt hat sie sich doch noch. Zunächst einmal war ich recht enttäuscht und verzweifelt, wenn der japanische Postbote mir immer wieder die aus Deutschland zurückgesandten Bewerbungspapiere brachte. Denn das hebt nicht gerade das Selbstbewusstsein. Da aber in Japan schon viel früher als in Deutschland aus den USA die „Women Studies“ bekannt und an japanischen Universitäten eingeführt wurden, hatte ich Gelegenheit, meine bereits zu meiner Promotionszeit begonnenen Studien der Frauentexte aus Mittelalter und Früher Neuzeit wieder aufzugreifen und für die Vorlesung zu verwenden. In meiner Situation des beständigen Abgelehntwerdens gaben mir die alten Texte sogar Trost und Mut. Die in der Mitte des 17. Jahrhunderts für wissenschaftliche Bildung von Frauen streitende Anna Maria van Schurman etwa stellte traurig fest, dass alles weibliche Wirken, kaum hervorgebracht, schon wieder im Dunkel des Vergessens verschwinde und „von den Spuren unseres Namens nicht mehr erscheint als von den Spuren eines Schiffes im Meer“. Aber ich lernte auch, dass diese „Vorschwestern“ ihre Resignation überwinden konnten und im Rahmen des ihnen Möglichen weitermachten. Sie unterwanderten gängige Lehren und korrigierten, schon im Mittelalter und erst recht in der Renaissance, als sie männlichen Beistand erhielten, was ihnen an den androzentrischen Konzepten missfiel. Ab 1984 erschienen in München die Bände meiner Reihe „Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung“.

1986 wurden mir zum ersten Mal, nach vier Jahrzehnten akademischen Lehrens in fremden Sprachen, an den Universitäten Münster und München Lehraufträge angeboten, die ich wegen der verschiedenen Semesterzeiten japanischer und deutscher Universitäten auch annehmen konnte. In der Muttersprache zu unterrichten, so lernte ich schnell, kostet nur die Hälfte der Vorbereitungszeit. Gastprofessuren in Österreich und in der Schweiz kamen hinzu. Dass die Lehraufträge in München in Gang kamen und zur Dauereinrichtung wurden, verdanke ich der Fachschaftsvertretung Philosophie der LMU und nicht weniger Professor Beierwaltes. 1990 wurde eine außerplanmäßige Professur daraus, was ohne die späte Habilitation nicht möglich gewesen wäre. Das bedeutete allerdings, daß ich die volle Professur in Tokyo vorzeitig aufgeben musste. Aber man ernannte mich dort zur Ehrenprofessorin, so dass mir einige Funktionen geblieben sind, ebenso wie meine Vortrags- und Veröffentlichungstätigkeit in Japan. Mein jetziges Leben mit viermaligem Kontinentwechsel pro Jahr gefällt mir sehr gut. Nach soviel Pflichtveranstaltungen in meinem Leben nehme ich mir jetzt die Freiheit, nur das anzubieten, was mich im Hinblick auf meine eigene Forschung weiterbringt.

Daß wir in unseren Seminaren vorwiegend Frauen sind, liegt nicht an mir. Ich freue mich über jeden Studenten, der sich für die Denkgeschichte von Frauen und ihre Auseinandersetzung mit den philosophischen Themen ihrer Zeit oder auch der Vergangenheit interessiert. Nur bei den Seminaren über Hannah Arendt und Rosa Luxemburg gab es bisher eine größere männliche Beteiligung von etwa einem Drittel. In den ersten Jahren meiner Tätigkeit in München verhielten sich die wenigen Studenten in unseren Seminaren ähnlich wie wir Studentinnen um 1950 in philosophischen oder theologischen Seminaren, nämlich nahezu schweigend. Das hat sich inzwischen geändert, auch wenn es nur einer ist, der bis zum Semesterende durchhält.

Weibliche Stimmen aus dem Seminar äußern sich dahingehend, daß es für sie wichtig ist zu wissen, dass – quer durch Geschichte und Geographie – Frauen sich durch die veröffentlichte männliche Meinung über ihr Geschlecht diskriminiert fühlten, aber nicht geschwiegen haben. Den in der Überzahl befindlichen Seminarteilnehmerinnen fällt es leichter, ihre Gedanken auszutauschen und die Übereinstimmungen im Denken und Fühlen festzustellen, wenn sie sich nicht gegen eine „männliche Übermacht“ durchzusetzen gezwungen sind. Dennoch wäre mir ein gesundes Gleichgewicht am liebsten; besteht doch gerade auf männlicher Seite noch ein großer Aufholbedarf.

Schlemm – Fortschritt als Fehlschritt?

Annette Schlemm

Fortschritt als Fehlschritt?

Pb., 203 Seiten, 15.- €

Stuttgart 2025 (Schmetterling-Verlag)

von Konrad Lotter

Wer gegenwärtig von „Fortschritt“ redet, assoziiert damit oftmals eine Bewegung hin zum Schlechteren: die beängstigende Auflösung demokratischer Prinzipien zugunsten autokratischer Willkür, die zunehmende Unverbindlichkeit des (Völker)-Rechts, die wachsende Überschuldung der Staaten bei massiver Aufrüstung und Militarisierung des Lebens, die ungebremste Veränderung des Klimas etc. „Fortschritt“ wird als als Gefahr empfunden, als Niedergang und Auflösung, der man sich mit aller Kraft entgegenstellen sollte.

Ganz anders der Blickwinkel von Annette Schlemm, Physikerin und Philosophin, die noch in der DDR aufgewachsen ist und, ihrer real-sozialistischen Erziehung entsprechend, „Fortschritt“ mit Hoffnung und der Vision einer besseren Welt verbunden hat. Von dieser Erziehung hat sie sich allerdings längst emanzipiert und, wie sie schreibt, ihr „früheres Weltbild dekonstruiert“. Was bei aller Dekonstruktion dieses (staatlich vereinnahmten) Konzepts allerdings überlebt hat, ist die Faszination, die von den verschiedenen Idealvorstellungen ausgeht, auf die sich der Fortschritt zubewegen soll: die Vorstellungen einer Welt ohne Knechtschaft und Elend, ohne Krieg, Unrecht und Entfremdung. Zugleich mit diesen Hoffnungen behält Annette Schlemm aber auch die Schranken dieser Idealvorstellungen im Auge. Auf der einen Seite analysiert und vergleicht sie die Strukturelemente, die den verschiedenen Fortschrittsbegriffen zugrundeliegen, auf der anderen Seite referiert sie die Diskussionen und Kritiken, die sich an diese Begriffe angeschlossen haben. Aufgrund ihrer großen Belesenheit (die neben philosophischen Texten auch literarische Texte umfasst) und der damit verbundenen weiten Perspektive gelangt Annette Schlemm dabei zu sehr differenzierten Aussagen. Am Ende ihres Buches versucht sie sich an einer „rettenden Kritik“, die den Begriff des Fortschritts bei aller „Kontaminierung“ doch aufheben und als Orientierung für soziale und politische Ereignisse beibehalten möchte.

Grundvoraussetzung dafür, dass überhaupt von Fortschritt gesprochen werden kann, ist ein entsprechendes „Zeitregime“, das von ökonomischen und kulturellen Bedingungen abhängt. Solange Zeit als stehendes Jetzt, als Wiederkehr des Gleichen oder als ein dem Wechsel der Jahreszeiten entsprechender Kreislauf erfahren wird, kann sich keine Vorstellung von Fortschritt ausbilden. Dazu bedarf es eines Zieles, wie etwa die Wiederkehr Christi und der Beginn des Tausendjährigen Reiches, auf das sich nach christlicher Auffassung die Geschichte in linearer Bewegung zubewegt. Während der Aufklärung verbreiteten sich dagegen säkulare Zielvorstellungen: die Überwindung des Naturzustandes durch den Gesellschaftsvertrag (Hobbes), der „ewige Frieden“ (Kant), das allgemeine „Bewusstsein der Freiheit“ (Hegel), die Aufhebung des bürgerlichen Privateigentums (Marx), die Emanzipation der Frau (Göttner-Abendroth) oder der Frieden mit der Natur. Ein wesentlicher Unterschied ist dabei, ob das Ziel positiv, als Annäherung an das angestrebte Ziel, formuliert wird, oder negativ, als fortschreitende Entfernung von einem bedrückenden Zustand, so wie Marx und Engels etwa den Kommunismus als „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen [schlechten] Zustand aufhebt“ definierten.

Grundlegende Differenzen zwischen den verschiedenen Fortschrittskonzeptionen bestehen auch hinsichtlich der Frage, auf welche Weise der Fortschritt zustandekommt: als bewusster Akt handelnder Menschen (wie etwa bei der Verkündigung der Menschenrechte), als „Naturgesetz“ bzw. die Vorsehung eines weisen Schöpfers (wodurch das „ungesellige Wesen“ des Menschen die Vervollkommnung der Menschheit vorantreibt), als „List der Vernunft“ (die sich als Resultante widersprechender Handlungen und Zielsetzungen hinter dem Rücken der Menschen durchsetzt) oder als Zwang (wie beim Fortschritt der Technik, der sich aus der Konkurrenz der Kapitalisten bei Strafe des Untergangs ergibt). Einen wichtigen Autor mit seinem unter heutigen Verhältnissen skurril anmutenen Gottvertrauen hat sich Annette Schlemm bei der Diskussion dieses Themas allerdings entgehen lassen. Für Alexis de Tocequille ist der unausweichliche Fortschritt zur Demokratie durch göttlichen Willen gewährleistet, der sich der Menschen als „blinder Werkzeuge“ bedient. Zu diesen Werkzeugen gehören, wie er schreibt, nicht nur diejenigen, die sich für die Demokratie einsetzen, sondern (und ganz besonders) auch diejenigen, die sie bekämpfen. Donald Trump wäre, so gesehen, das blinde Werkzeug Gottes für den Fortschritt der Demokratie in Amerika, in der die Politiker dann nicht mehr käuflich sind und ihre Politik nach den Interessen derjenigen ausrichten, die ihren Wahlkampf durch großzügige Spenden finanzieren.

In eigenen Abschnitten behandelt Annette Schlemm die Fortschrittsbegriffe von Marx und Darwin, die bei aller Verschiedenheit das Gemeinsame haben, dass sie den Fortschritt post festum darstellen. Erst nachdem das Ziel (die kapitalistische Produktionsweise bzw. der homo sapiens) erreicht war, wird rückblickend nach den Bedingungen und den Etappen gefragt, über die dieses Ziel fortschreitend tatsächlich erreicht wurde. „In der Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen“, erst vom fortgeschrittenen Stadium einer Entwicklung können die Stadien begriffen werden, die ihm geschichtlich vorausliegen. Der zitierte Satz stammt nicht von Darwin, sondern von Marx.

Ein grundlegendes Problem des „Fortschritts“, das ausführlich zur Sprache gebracht wird, ist die Ungleichzeitigkeit, mit der sich verschiedene Bereiche der Gesellschaft entwickeln (wie etwa die Kunst, die unter zurückgebliebenen ökonomischen Verhältnissen ein Höchstmaß an Vollkommenheit erreicht hat) und, mehr noch, die gegenläufige Entwicklung verschiedener Bereiche, für die sich viele Beispiele anführen lassen. Mit dem Anwachsen des gesellschaftlichen Reichtums etwa wächst auch die Spaltung der Gesellschaft und die Verbreitung relativer Armut; die wachsende Herrschaft über die Natur geht mit der Ohnmacht gegenüber dem fortschreitenden Klimawandel einher. An diese Überlegungen schließt sich reibungslos die Kritik an den verschiedenen Konzepten des „Fortschritts“ an: wenn etwa die ungewollten „Nebenwirkungen“ die gewollten Ziele übersteigen und konterkarieren. Ausführlich referiert Annette Schlemm die Kritik am Fortschritt, die schon von Oswald Spengler oder Ludwig Klages (in reaktionärer Weise mit Richtung auf die Erhaltung des status quo), in reflektierterer Form dagegen von Walter Benjamin (der die unter der Sozialdemokratie verbreitete Annahme, man schwimme „in Strom“ des automatischen Fortschritts, anprangert) oder den Autoren der Dialektik der Aufklärung (die der Entzauberung der Welt das „triumphale Unheil“ der vollends aufgeklärten Welt entgegensetzen) vorgetragen wurde. Schon Ernst Bloch kritisierte den verbreiteten Eurozentrismus der meisten Fortschrittstheorien, als wäre die europäische Zivilisation das Maß und Ziel, auf das sich alle anderen Erdteile und Kulturen zubewegen sollten.

Am Ende ihres lesenswerten Buches widmet sich Annette Schlemm einer „rettenden Kritk“ des Fortschrittsbegriffes, die sie in einer Reihe von Thesen vorträgt. Wer sich grundsätzlich gegen Fortschritt ausspricht, meint offenbar, dass alles so bleiben soll, wie es ist. Manche, wie der Fürst von Salina, meinen allerdings auch, dass sich vieles ändern muss, damit alles beim Alten bleibt. Worauf es beim „Fortschritt“ ankommt, sind die Ziele und die darin zum Ausdruck kommenden Interessen. Ohne solche Zielvorstellungen exitiert keine Orientierung, weder für die Beurteilung von politischen oder sozialen Ereignissen, noch für das eigene Handeln. Auch wenn sich der Begriff des Fortschritts nicht mehr auf die Gesellschaft als ganzer, sondern nur noch auf Teilbereiche bezieht, ist er doch letztlich auf Emanzipation, das heißt auf die Freiheit und deren Verwirklichung gerichtet: auf die Befreiung von Not und Unwissenheit, von Knechtschaft, Krieg, Ausbeutung und Angst.