von Pechmann – Klima. Geschichte des Begriffs (I)

Das Klima. Geschichte des Begriffs, 1. Teil

von Alexander von Pechmann

Einleitung

Auf den ersten Blick scheint das Klima eng mit unserem Wetter verbunden zu sein. Während wir mit dem Wetter den momentanen meteorologische Zustand an einem bestimmten Ort bezeichnen, wird unter dem Klima der meteorologische Zustand verstanden, der sich über einen langen Zeitraum erstreckt. Das Wetter, so heißt es, entscheidet, was wir heute anziehen, das Klima, was wir im Kleiderschrank haben.

Doch wegen dieser zeitlichen Differenz von Gegenwart und Dauer bezeichnet das Klima eigentlich keinen ‚Zustand’; es bildet vielmehr eine statistisch gewonnene Durchschnittsgröße, die aus einer Vielzahl von Wetterbeobachtungen errechnet worden ist. Das Wetter erfahren wir jederzeit; das Klima jedoch entzieht sich unserer Wahrnehmung; es ist ein allgemeiner Begriff, der von uns hinzugedacht werden muss.

Dieser Unterschied zwischen dem Wetter, mit dem wir täglich konfrontiert sind, und dem Klima, von dem wir uns erst einen Begriff bilden müssen, zeigt sich gegenwärtig daran, dass wohl niemand daran zweifelt, dass sich das Wetter jederzeit ändern kann – weshalb wir an dessen Vorhersage so interessiert sind –, dass es heute jedoch eine weltweite Kontroverse darüber gibt, ob das auch für das Klima gilt, ob also das Klima sich wandelt. So gilt den Befürwortern des Wandels der Schutz des Klimas als eine der größten Herausforderung dieses Jahrhunderts, die Skeptiker hingegen betrachten ihn oft als ein kostspieliges Luxusproblem. So klar und unstrittig unser Bild vom jeweiligen Wetter ist, so unscharf und umstritten ist offenbar unser Bild vom Klima als einer höchst abstrakten Vorstellung.

Im Folgenden soll in vier Kapiteln gezeigt werden, dass der Begriff des Klimas in der Tat eine wechselvolle Geschichte von unterschiedlichen Bedeutungen hatte, die in ihrer Zeit jeweils eng mit philosophischen und weltanschaulichen Kontroversen verbunden waren. Das erste Kapitel befasst sich mit der Kontroverse in der Antike, das zweite mit der erkenntnistheoretischen und weltanschaulichen Auseinandersetzung zwischen Johann Gottfried Herder und Immanuel Kant um den Begriff des Klimas, das folgende mit Alexander von Humboldt und der Entstehung der Klimatologie als Wissenschaft, das letzte Kapitel schließlich mit der gegenwärtigen wissenschaftlichen und politischen Debatte um den Klimawandel. Was das Klima ist und wie wir es erkennen können, so das Fazit, war bis in die Gegenwart Gegenstand wissenschaftlicher und philosophischer Kontroversen.

I. Antike: Das Klima als „Neigung“

Mit dieser mathematischen Erklärung der Erdzonen durch die „Neigung“ war jedoch noch nichts über das wirkliche bzw. physische Verhältnis von Erde und Sonne gesagt. Denn entweder gehen wir von unserer Alltagserfahrung aus, nach der die Erde das ruhende Zentrum des Universums bildet und die Sonne als Quelle der Wärme (und mit ihr die anderen Gestirne) die Erde umkreist. Oder wir setzen, kontrafaktisch, umgekehrt voraus, dass die Sonne das Zentrum bildet und die Erde sie als ein Planet in einer bestimmten Weise umkreist. Im ersten Fall, der Erde als Zentrum, liegt nun aus einer menschlichen bzw. anthropozentrischen Perspektive die Annahme nahe, dass sich hinter den Unterschieden des Klimas eine gewisse Absicht oder Vernunft verbirgt, durch die im Mittelpunkt des Universums eine bestimmte Zone der Erde gerade so beschaffen ist, dass sie für den Menschen zum bewohnbaren Lebensraum geworden ist. Im entgegengesetzten Fall wäre es aus kosmologischer Perspektive jedoch unmöglich, dem Universum eine solche Absicht oder Vernunft zu unterstellen. Die klimatischen Unterschiede wären schlicht physikalische Wirkungen der Sonneneinstrahlung. Hat also die Aufteilung der Erdkugel in jene fünf Klimazonen einen höheren Sinn, oder hat sie keinen? Diese Frage nach dem wirklichen Verhältnis von Erde und Sonne aber war bei der Erdvermessung der ‚alten Griechen’ von zentraler philosophischer und ideologischer Bedeutung.

Nun war und ist es bis heute unsere unmittelbare Erfahrung, dass die Erde im Zentrum ruht, während der „gestirnte Himmel“ sich um sie dreht. Doch prinzipiell spricht nichts dagegen, dass es sich in Wirklichkeit, wie wir heute – bis auf wenige Ausnahmen – annehmen, umgekehrt verhält, dass wir uns also durch die wissenschaftliche Erforschung vom Gegenteil unserer Erfahrungen überzeugen lassen. Dennoch ist der erste Fall, das sog. „geozentrische System“, in der Folge über eineinhalb Jahrtausend zum allgemein verbindlichen Standard geworden, der das Verhältnis von Erde und Sonne vermeintlich ‚richtig’ beschreibt. Da diese Verbindlichkeit jedoch weder auf die unmittelbare Erfahrung zurückgeführt werden kann, die uns ja des Öfteren täuscht, noch auf den damaligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse, wie sich zeigen wird, muss das Motiv für diesen Standard des geozentrischen Systems letztlich philosophisch-weltanschaulicher Natur gewesen sein. Zu deren Erklärung müssen wir uns der damaligen philosophischen Debatte zuwenden.

Der Streit ums Weltbild

Im damals geistig führenden Zentrum Athen war mit Sokrates, Platon und Aristoteles eine Denkströmung prägend geworden, die sich von der theoretischen Erforschung des Wahren, wie sie zuvor insbesondere von den ionischen Philosophen betrieben worden war, abgewandt und sich den praktischen Fragen nach dem Guten zugewandt hatte. Von ihnen wurde das Gute und Vollkommene als das Vernünftige zum höchsten Prinzip erhoben, das nicht nur das praktische Handeln, sondern auch die denkende Erkenntnis bestimmen sollte. Während Platon dieses Gute jedoch als ein jenseitiges Reich der ewigen Ideen konzipiert hatte, nach dem die menschliche Erkenntnis strebe, war die Philosophie des Aristoteles vom Gedanken getragen, das Gute auch in der sinnlich gegebenen Natur aufzufinden, die, wie er annahm, zu ihm als ihrem letzten und höchsten Zweck strebe. Diese teleologische Weltanschauung aber musste an dem Unterschied vom Himmel und der Erde in der Weise festhalten, dass die von den Menschen bewohnte Erde das selbst ruhende Zentrum des Universums ist, während am Himmel die Gestirne und mit ihnen die Sonne als „selige Götter“ ihre ewigen Kreisbahnen um die Erde ziehen.

Einer solchen, nach dem Prinzip des Guten und Vollkommenen organisierten Weltordnung musste nun aber die Annahme völlig widersprechen, die Erde – und auf ihr das Volk der Griechen – sei nicht das Zentrum des Universums, sondern sei ein kugelförmiger Körper, der ständig um sich und die Sonne kreist, und die Klimazonen seien nur die Folge dieser Bewegungen der Erde. Aus dieser Perspektive war eine solche Annahme vor allem in ethisch-praktischer Hinsicht verwerflich: sie leugnete das Gute und Vernünftige der Weltordnung.

Alexandria – Zentrum der Wissenschaften

  1. Die „verbrannte“ wie die „kalten“ Zonen fasste man später dann als „zonae inhabilitabiles“ (unbewohnbare Zonen) zusammen. ↩︎
  2. Eine wichtige Grundlage für die Erdkugellehre hatte bereits Anaximander mit seiner These von dem im kugelförmigen All freischwebenden Erdzylinder geliefert. So lag der Analogieschluss von der Kugelgestalt des Himmels auf die im Zentrum ruhende Erde zumindest nahe. Er wurde durch Aristoteles’ Beobachtung der runden Gestalt des Erdschattens bei der Mondfinsternis erhärtet sowie durch die theoretischen Erwägungen über die Kugel als vollkommenen Körper begünstigt. Wie die theoretische Genese jedoch im einzelnen verlief, entzieht sich unserer Kenntnis. ↩︎
  3. Stephan Heilen, Eudoxos von Knidos und Pytheas von Massalis, In: Wolfgang Hüber (Hg), Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften in der Antike, Bd. 2, Geographie und verwandte Wissenschaften, Stuttgart 2000, 60. ↩︎
  4. Aristoteles, Politik, VII, 7. – Eine ‚klimatologische Völkerlehre’, der sich schon sein Schüler Alexander der Große widersetzen sollte. ↩︎
  5. Zudem konnte Aristarchs heliozentrisches Modell die Unregelmäßigkeiten der Planetenbewegungen erklären. ↩︎
  6. In seinem Werk über die hellenistische Wissenschaft schreibt der Wissenschaftshistoriker Lucio Russo: „Wir haben Lukrez’ herrliches Gedicht über die Natur, nicht jedoch die Werke eines Straton von Lampsakos, bei dem einiges darauf hindeutet, dass er der wahre Begründer der Wissenschaften im eigentlichen Sinne des Wortes sein könnte“ (L. Rosso, Die vergessene Revolution oder die Wiedergeburt des Antiken Wissens, Berlin/Heidelberg/New York 2004, 11). ↩︎
  7. „Die hellenistischen Herrscher förderten die Kultur weniger aus innerem Großmut, sondern weil Wissen für sie eine wichtige Machtquelle war“ (ebd., 285). ↩︎
  8. „Die Beweiskraft der induktiven Methode“, schreibt der Philosophiehistoriker Friedrich Lange, „beruht aber auf der Voraussetzung eben jener Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit des Weltganges, welche Demokrit zuerst entscheidend zum Bewusstsein gebracht hatte.“ (F.A. Lange, Geschichte des Materialismus, Bd. 1, Frankfurt/Main 1974, 91). ↩︎
  9. Dies scheint anders bei seinem einzigen Nachfolger, dem Astronomen Seleukos von Seleukeia, gewesen zu sein, der den Heliozentrismus durch theoretische Überlegungen bewiesen haben soll. ↩︎
  10. Plutarch, de facie 6, 923 A = SVF I 500 (zit. nach: Eric R. Dodds, Mentalitätswandel von der griechischen Aufklärung zur Spätantike und zum Christentum. In: Jochen Schmidt, Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1089, 111) – „(D)ie Stoa hatte schon immer versucht, durch ihren Einfluss den heliozentrischen Ansatz des Aristarch zu Fall zu bringen, weil er, falls man ihn akzeptiert hätte, die Fundamente sowohl der Astrologie als auch der stoischen Religion umgestürzt hätte“ (ebd.). ↩︎
  11. ebd., 93-128. ↩︎

Nida-Rümelin – Die Tatenarmut der praktischen Philosophie

Julian Nida-Rümelin (geb. 1954) war von 2004 bis 2020 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie und politische Theorie an der LMU. Seit 2022 ist er Rektor der Humanistischen Hochschule Berlin. Seine Spezialgebiete sind Erkenntnis- und Rationalitätstheorie, Ethik und politische Philosophie. Nida-Rümelin war 1998-2001 Kulturreferent der Stadt München, 2001-2002 Kulturstaatsminister in Berlin, 2010-2014 Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD und 2020-2024 stellvertr. Vorsitzender des Deutschen Ethikrats.

Widerspruch: Zu Anfang möchten wir Sie bitten, uns ein paar Worte zu Ihrer Biografie zu sagen. Wie kamen Sie dazu, Philosophie zu studieren und in diesem Bereich eine akademische Karriere zu verfolgen.

Nida-Rümelin: Ich bin 1954 in München geboren und hier in einer Künstlerfamilie aufgewachsen, in einem Künstlerhaus – dem „Hildebrandhaus“. Das gibt es immer noch, unterdessen ist dort aber die „Buchsammlung Monacensia“ untergebracht, Literatur von Münchner Autoren und vor allem Literatur über München.

Eine Zeitlang wusste ich nicht recht, ob ich eher in Richtung Naturwissenschaften oder Philosophie tendiere und habe deshalb beides studiert: Physik und Philosophie. Es war dann aber sehr rasch klar, dass mich die Philosophie mehr interessiert als die Naturwissenschaft, und habe in Philosophie bei Stegmüller promoviert. Stegmüller war überwiegend Wissenschaftstheoretiker; er war aber auch offen für andere Themen der analytischen Philosophie. Mich hat immer die praktische Philosophie besonders interessiert, nicht nur die Wissenschaftstheorie. Als nach der Promotion bei Stegmüller keine Stelle frei war, bekam ich von Herrn Opitz das Angebot, bei ihm Assistent mit dem Schwerpunkt „politische Philosophie“ zu werden, und war dann von 1984 bis 1989 am Geschwister-Scholl-Institut. 1989 habe ich in Philosophie hier in München habilitiert. Ich hatte dann zunächst eine Gastprofessur in Minnesota und erhielt 1990 einen Ruf auf eine C4-Zeitprofessur im Angestelltenverhältnis – etwas recht Ungewöhnliches – am Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Interessanterweise war sie nicht in die philosophische, sondern in die biologische Fakultät integriert, obwohl ich kein Biologe bin. Die Widmung der Professur war „Ethik in den Biowissenschaften“. Für mich war allerdings wichtig, dass ich an der philosophischen Fakultät kooptiert war und dort Lehrveranstaltungen halten konnte. 1992 erhielt ich dann einen Ruf nach Göttingen und einen nach Konstanz. Nach einigem Überlegen habe ich mich entschieden, in Göttingen die Nachfolge von Günther Patzig anzutreten, der ja einer der Pioniere der analytischen Philosophie in Deutschland war, aber anders als Stegmüller den Akzent auf die Rekonstruktion antiker Texte, auf Ethik und praktische Philosophie setzte.

Widerspruch: Wann haben Sie begonnen, sich politisch zu engagieren, und was hat Sie bewogen, in eine politische Karriere als Kulturreferent der Stadt München überzuwechseln?

Nida-Rümelin: Also, politisch engagiert habe ich mich eigentlich seit meiner Jugendzeit, als Schulsprecher usw. Es waren die „Ausläufer“, die letzten Jahrgänge einer doch sehr stark politisierten Generation, während man 15 Jahre danach doch weitgehend politikabstinent war. Als ich mit dem Studium anfing, wollte ich mich weiter politisch engagieren, fand aber die Hochschulpolitik irgendwie langweilig und sehr stark nach innen gerichtet. Deshalb bin ich dann in die SPD eingetreten, und zwar vor allem mit Themen wie Friedenspolitik, Ökologie und Energiepolitik. Ich habe mich dort auch inhaltlich engagiert, etwa für das 1989 beschlossene neue Grundsatzprogramm, und natürlich auch für die Kultur- und Bildungspolitik. Seit meinem 19. Lebensjahr habe ich mich – innerhalb und außerhalb der SPD – politisch engagiert, aber zuvor nie ein politisches Mandat innegehabt.

Die Entscheidung, in München für eine Amtszeit Kulturreferent zu werden – ich bin von meiner Professur in Göttingen beurlaubt –, hat verschiedene Motive. Ein Motiv, warum ich dachte, diese Aufgabe könnte nicht nur für mich persönlich reizvoll sein, sondern auch für die Stadt Sinn machen, war, dass ich die Sprachlosigkeit zwischen Politik und Kunst doch sehr persönlich empfunden habe. Es gab in den 60er und 70er Jahren eine große Auseinandersetzung um den Erhalt dieses Künstlerhauses, die ich nicht vergessen konnte. Wie geht man von politischer Seite mit den Künstlern um? Wie sieht die Situation derer aus, denen die Existenzgrundlagen, ihr Atelier und ähnliches, entzogen werden? Wie also wird zwischen Politik und Kunst kommuniziert? Mein Eindruck war und ist nach wie vor, dass es dort viel Verständigungsprobleme und Interessenkonflikte gibt. Hier zu vermitteln, finde ich eine interessante Zielsetzung. Ob es mir gelingt, weiß ich nicht; aber ich bringe immerhin, einfach aufgrund meiner Biografie, Voraussetzungen mit, die mir das Verständnis leichter machen als anderen.

Das zweite Motiv war, dass ich in der reinen Wissenschaft immer ein Defizit empfunden habe. Speziell in den Bereichen der Philosophie, die sich mit praktischen Fragen befassen, also Ethik, politische Philosophie oder Rationalitätstheorie, sind die zentralen Fragestellungen ja eigentlich nur relevant, wenn auch die Praxisdimension irgendwann in den Blick kommt. Zwar nicht so direkt, dass man sagt, eine Gerechtigkeitstheorie macht nur dann Sinn, wenn ich genau weiß, wie das nächste Steuersystem aussehen muss. Aber solange Diskussionen über Gerechtigkeit oder politische Institutionen, über Legitimation in der Politik oder über die Ethik der Wissenschaft oder der Gentechnik nur die Kreise ansprechen, die als Fachphilosophen oder als Bioethiker ihrerseits ihre Artikel schreiben, – da fehlt doch was. Das Ganze macht doch keinen Sinn, wenn es nicht eine konkrete Auswirkung zeitigt. Also, die „Tatenarmut“ der Wissenschaft und gerade der praktischen Philosophie – in der theoretischen ist dieser Hiatus nicht ganz so dramatisch – hat mich oft gestört, und war sicher auch ein Motiv, in der politischen Praxis, speziell in der kulturpolitischen Praxis, Verantwortung zu übernehmen.

Im übrigen hänge ich ja sehr an der Stadt und wollte mich auch nie ganz ablösen. Hätte ich eine Professur in Berlin oder Hamburg gehabt, hätte ich meinen Lebensmittelpunkt vielleicht dorthin verlegt; aber Göttingen oder Tübingen sind keine Alternative, und so ist München eben mein Lebensmittelpunkt geblieben.

Widerspruch: Der in „praktischer Politik“ erfahrene Theoretiker Niccolò Machiavelli hält es für erforderlich, dass ein Fürst die Moral aus dem Handlungsbereich der Politik ausgrenzen muss, um Erfolg zu haben. Wie begreifen Sie als Spezialist für praktische Philosophie analytischer Provenienz das Verhältnis von Politik und Moral? Wie beurteilen Sie dieses Verhältnis nicht nur theoretisch, sondern auch vor dem Hintergrund Ihrer Erfahrungen mit der zeitgenössischen politischen Kultur der Bundesrepublik?

Nida-Rümelin: Eine Frage, die es in sich hat. Ob Machiavelli dies in letzter Konsequenz so vertreten hat, können wir dahingestellt sein lassen. Seine Theorie des Politischen hat eine starke moralische Komponente, die zwar im Gegensatz zu den üblichen Sittlichkeits- bzw. Moralvorstellungen der Menschen steht, die aber doch, wie ich glaube, den normativen Kern seiner Theorie bildet. Aber lassen wir das einmal ausgeklammert.

Würde die Politik sich selbst wirklich als moralfrei verstehen, dann wären die Formen, in denen der politische Diskurs abläuft und politische Entscheidungsprozesse zustande kommen, überhaupt nicht verständlich. Nehmen Sie ein banales Beispiel: wenn ein Gesetzesentwurf eingebracht wird, dann wird das intensiv diskutiert. Es werden Gründe angeführt, warum dieses Gesetz besser als ein alternativer Gesetzesentwurf ist. Jetzt kann man zwar sagen, dies alles sei Teil eines Machtspiels – nur: Warum bringen die Menschen dann überhaupt diesen Aufwand und diese Energie auf, immer wieder nach Argumenten zu suchen, wenn nicht doch unser Selbstverständnis von politischem Handeln, von politischer Kultur, vom Funktionieren einer Demokratie an die Vorstellung gebunden ist, dass es auch in der Politik ein richtiges und falsches Handeln gibt? Praktisch jede politische Rede dreht sich um die Frage: Ist das richtig, oder ist das falsch? Und zwar nicht richtig, um die eigene Machtsituation zu verbessern oder einer bestimmten Interessensgruppe zu nutzen, sondern richtig simpliciter: richtig gegenüber im Grunde jeder Person und jedem individuellem Standpunkt.

Wenn dies das Selbstverständnis ist, dann kann man zwar immer noch sagen, es beruhe auf einer gigantischen Selbsttäuschung. Ich glaube aber nicht, dass es wirklich so ist. Damit bestreite ich ja nicht, dass ökonomische Interessen vor allem, aber auch andere Interessen, kulturelle Vorurteile usw. eine prägende Rolle in der Politik spielen, und dass die Reichweite des rationalen Arguments durch persönliche Eitelkeiten und ähnliches beschränkt ist. Aber das ganze Projekt politischen Handelns – jedenfalls in der Demokratie mit ihren Begründungsansprüchen – macht nur Sinn, wenn es auch oder im Kern um die Fragen von richtig und falsch geht. Und diese Fragen sind letztlich ethische Fragen. Also steht auch politisches Handeln unter ethischen Kriterien.

Dass es Unterschiede zwischen Regeln gibt, die in der Privatmoral völlig selbstverständlich erscheinen, und Regeln, die die politische Interaktion anleiten, – dies betrifft die Diskussion um die „dirty hands“, wie sie manchmal genannt wird. Das sollte man aber nicht so interpretieren, als sei Politik ein „schmutziges Geschäft“, wie es einem Topos der deutschen Kultur entspricht, die mit ihren antidemokratischen Wurzeln aus der Weimarer Republik noch in die 50er und 60er Jahre hineingereicht haben, sondern die „dirty hands“ sind im Sinne eines vermeintlichen oder tatsächlichen Zwangs innerhalb der Politik zu verstehen, eine gewisse Distanz gegenüber den überkommenen Moralvorstellungen einzunehmen, die im Alltag wirksam sind. Ich glaube, dass der Übergang fließend ist. Es gibt nicht zwei getrennte Bereiche, das Politische mit eigenen Gesetzmäßigkeiten auch des Moralischen und das Private mit eigenen Regeln und Gesetzen des Moralischen, sondern es ist ein Kontinuum, wobei die Akzente jeweils anders liegen. Im privaten Bereich haben wir überwiegend Nahbeziehungen; im politischen Handeln sind Entscheidungen zu treffen, die Menschen betreffen, zu denen ich in der Regel keinen persönlichen Kontakt habe. D. h. ein Gutteil der moralischen Intentionen, die im Nahbereich wirksam werden, sind im Fernbereich nicht mehr vorhanden; die Forderung z.B. nach Gleichbehandlung, nach einem Standpunkt der Fairness, den man gegenüber unterschiedlichen Personen einnimmt, – diese Forderung ist in der Politik strenger als im Privaten. Im Privaten gibt es Bindungen; und das Problem der Korruption hängt zum Teil mit der Übertragung dieser privaten Bindungen in den politischen Bereich zusammen. Dabei denke ich zunächst eher an die Form des Nepotismus, die in Deutschland nicht das Hauptproblem darstellt, sondern eher in lateinischen Ländern. Aber bei uns gibt es vergleichbare Formen. Also: es gibt Unterschiede zwischen dem Politischen und dem Lebensweltlichen; aber die Unterschiede sind nicht so groß, dass es zwei getrennte Sphären wären.

Widerspruch: Seit einigen Jahren werden in der Öffentlichkeit zunehmend die ökonomischen und sozialen Folgen der Globalisierung diskutiert. Im Bereich der Kultur dagegen verbinden viele mit Globalisierung kaum mehr als die seit den 20er Jahren andauernde Überschwemmung des Planeten mit nordamerikanischen Film- und Musikproduktionen und den durch sie transportierten Werten. Was sind die wichtigsten aktuellsten Erscheinungen der zunehmenden Globalisierung der Kultur, und welche Auswirkungen haben sie für Deutschland und Europa?

Nida-Rümelin: Es ist ja interessant, dass die Globalisierung zumeist nicht unter dem Aspekt der Kultur, sondern fast ausschließlich unter wirtschaftlichen, insbesondere finanzwirtschaftlichen, Aspekten diskutiert wird, und die Dimension einer sich entwickelnden globalen Kultur auch mit ihren Problemen gar nicht in den Blick kommt. Gegenwärtig können wir zwei vermeintlich gegenläufige Tendenzen deutlich beobachten. Einmal die Tendenz der Angleichung von kulturellen Prägungen. Ich denke da z.B. an die internationale Rolle der Popmusik, eines zentralen Teils der weltweiten Jugendkultur. Diese verändert sich durch Adaption, wenn man so will. So gibt es im arabischen Kulturbereich eine Adaption an eine bestimmte Form der Musiktradition, die dort verbreitet ist, die aber dann immer noch Pop-Musik bleibt. Auch in Ostasien gibt es ähnliche Phänomene. Aber man kann doch sagen, dass sich eine Musiksprache entwickelt, die von Angehörigen ganz unterschiedlicher Kulturen, Religionen, Ethnien usw. verstanden wird. Das ist jedoch nicht nur ein harmloses und erfreuliches Phänomen; denn dahinter steckt mehr. Es erfasst ja nicht nur die Eingeweihten und Interessierten, wie das bei einem Teil der zeitgenössischen E-Musik der Fall ist, die noch viel internationaler und unabhängiger von regionalen und kulturellen Prägungen ist, sondern es umfasst ganze Bevölkerungsteile, praktisch vollständig, Generationen. Damit entsteht aber nicht automatisch die Basis einer internationalen, interkulturellen Verständigung, sondern auch eine zunächst gegenläufig erscheinende Tendenz: Völlig parallel dazu entsteht offenbar eine Sehnsucht nach dem Eigenen.

In der westlichen Philosophie ist dieses Phänomen, von den USA ausgehend, unter dem Stichwort „Kommunitarismus“ schon seit mehreren Jahren diskutiert worden. In bestimmten Kulturkreisen – im islamischen, aber nicht nur dort – gibt es heftige Abwehrbewegungen gegen diese sich globalisierende Kultur, die sich nicht nur gegen die Popkultur, sondern überhaupt gegen eine sich vereinheitlichende Kultur der Lebensform wendet. Man versucht, das Eigene dadurch zu retten, dass Abgrenzungen gegenüber den Einflüssen vorgenommen werden, die als schädlich empfunden werden, wie das in den antiwestlichen Einstellungen z.B. der islamischen Fundamentalisten geschieht. Diese beiden Tendenzen scheinen mir aber weniger gegenläufig als komplementär zu sein: sie gehören zusammen. Und die Kunst der weiteren – letztlich – Weltkulturpolitik wird darin bestehen, beiden Tendenzen Raum zu geben: der Vergewisserung des Eigenen und der Anerkennung von Differenz einerseits und der Entwicklung eines gemeinsamen Kerns einer Weltkultur oder – ich verwende lieber den Ausdruck von Rawls – eines overlapping consensus über normative Inhalte, über kulturelle Prägungen und die Akzeptanz bestimmter Regeln, mit denen wir Differenzen aushalten können, andererseits. Kulturelle Globalisierung und Vergewisserung des Eigenen sind gewissermaßen, so sehe ich das, zwei Seiten derselben Medaille.

Widerspruch: Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Bedeutung der Philosophie im kulturellen Raum?

Nida-Rümelin: Wir leben ganz zweifellos in einer Boom-Phase der Philosophie. Das äußert sich nicht so sehr darin, dass auch in der Universität das Interesse an Philosophie eher gestiegen als gesunken ist, und dass insbesondere der Bereich der praktischen Philosophie in den letzten Jahren, die „Bereichsethiken“, sich gewaltig ausgedehnt hat; stärker in den USA als in Europa, aber mit ähnlicher Tendenz. Ich beobachte auch ein deutlich gestiegenes Interesse außerhalb der akademischen Welt an philosophischen Fragen, zum Teil in Abwehr zur Universitätsphilosophie. Aber ich halte diese Attitüde für problematisch und mache deshalb eine philosophische Gesprächsreihe, bei der die Bedürfnisse an philosophischen Fragen auch derer, die nie Philosophie studiert haben, ernst genommen werden, aber zugleich Referenten gewonnen werden, die sich beruflich mit Philosophie beschäftigen, die also aus dem Hochschulbereich kommen, um das Gespräch auch mit den entsprechenden Informationen zu füttern, die einfach nötig sind, um einen Standpunkt zu vertreten, der wohlbegründet ist.

Der kulturelle Hintergrund dieses Phänomens lässt sich vielleicht folgendermaßen umschreiben. Philosophie tritt in der Geschichte des – jedenfalls westlich-abendländischen – Denkens immer dann besonders deutlich in Erscheinung, wenn die Gesellschaft sich im Umbruch befindet und Menschen auf rationalem Wege versuchen, neue Orientierung zu gewinnen. Natürlich gibt es andere Formen, Orientierung zu gewinnen, die mit der Philosophie konkurrieren, z.B. fundamentalistische Weltanschauungen, Religionen oder Religionspraktiken unterschiedlicher Art, die auch Gewissheit vermitteln und genau sagen, was richtig ist und was falsch. In einer pluralen Gesellschaft, einer Gesellschaft der kulturellen Differenz und der zunehmenden Globalisierung, sind dies aber in der Regel unzureichende Formen, Orientierung zu geben, weil es den Rückzug bedeutet, den Ausstieg aus der Kommunikation und der Verständigung. Darin glaube ich liegt die Faszination der Philosophie wie vor 2500 Jahren in der griechischen Klassik – auch einer Gesellschaft im rasanten Umbruch mit viel Immigration und Emigration. Philosophie entsteht ja vor allem in den Kolonien, den griechischen Siedlungsgebieten im östlichen Mittelmeerraum. Dann die interessante Umbruchphase beim Ausklingen des Mittelalters durch den Verfall der theologischen Ordnungsmacht und einer erneuten Blütephase der Philosophie. Die Renaissancephilosophie, die als nova scientia aufkommt und mit Konjunkturen bis in der Aufklärungsphilosophie anhält. Sie ebbt dann gerade im praktischen Bereich ab – typischerweise tritt die praktische Philosophie im Laufe des 19. Jahrhunderts zurück –; und jetzt, im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, entwickelt sich wieder eine Blütephase der Philosophie. Die Gesellschaft ist erneut im Umbruch, sie sucht nach Orientierung. Sie findet diese Orientierung überwiegend, jedenfalls in den westlichen Industriestaaten, nicht in traditionalistischen und fundamentalistischen Auffassungen. Die Esoterik hat, so glaube ich, ihren Höhepunkt längst hinter sich und damit auch der Ausstieg aus dem rationalen Diskurs, auch wenn das jetzt recht pauschal klingt. Dieser Diskurs aber macht die Philosophie so faszinierend und im kulturellen Leben gegenwärtig. Darauf sollte die Universitätsphilosophie reagieren, ohne sich anzubiedern: durch Öffnung und durch Gesprächsangebote, und sich nicht zurückziehen in die akademischen Schutzgebiete, in denen diese öffentlichen Ansprüche und Fragen selten gestellt werden.

Widerspruch: Herr Nida-Rümelin, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Manuel Knoll führte das Gespräch für den Widerspruch.

Wagner – Abenteuer der Moderne

Thomas Wagner

Abenteuer der Moderne

Die großen Jahre der Soziologie 1949–1969

geb., 330 Seiten, 28,- €
Stuttgart 2025, Klett-Cotta Verlag

von Konrad Lotter

Thomas Wagner erzählt die Geschichte der deutschen Nachkriegs-Soziologie als einen Prozess, der von Gegensätzen ausgeht, die sich innerhalb von 20 Jahren über verschiedene Stufen hinweg zunächst auflösen, wobei es zu gewissen Annäherungen, zu allen möglichen Formen der Zusammenarbeit und sogar zu persönlichen Freundschaften kommt. Am Ende der „großen Jahre“ allerdings brechen, wie er weitererzählt, die alten Gegensätze unter veränderten Verhältnissen und in veränderter Form wieder auf. Im Zentrum des Buches steht dabei die Beziehung von Th. W. Adorno als Repräsentant der 1949 aus der Emigration zurückgekehrten Antifaschisten und Arnold Gehlen, der 1933 das „Bekenntnis deutscher Professoren zu Adolf Hitler“ unterschrieben und während des „Dritten Reiches“ eine „Traumkarriere“ gemacht hatte.

Eine erste „Begegnung“ der beiden fand bereits am Ende der Weimarer Republik statt. Adorno hatte sich bei dem religiösen Sozialisten Paul Tillich mit seiner Arbeit über Kierkegaard habilitiert. Tillich, der sich mit einer Kritik am aufkommenden Nationalsozialismus hervorgetan hatte, wurde sofort nach der „Machtergreifung“ aus dem Staatsdienst entlassen. Seine Professur erhielt vertretungsweise Gehlen. Wie seinem Lehrer war auch Adorno die Universitätskarriere versperrt, er emigrierte zuerst nach England, dann in die USA. Gehlen wurde dagegen auf den Lehrstuhl seines ebenfalls entlassenen jüdischen Doktorvaters Hans Driesch in Leipzig berufen, später auf den Kant-Lehrstuhl in Königsberg und zuletzt an die Universität in Wien.

Von den acht Lehrstühlen für Soziologie, die 1949 nach dem Ende der Diktatur ihre Arbeit aufnahmen, waren drei von zurückgekehrten Emigranten oder ausgewiesenen Gegnern des Nationalsozialismus (Max Horkheimer, der zunächst von Adorno nur vertreten wurde, René König, Otto Stammer), drei von ehemaligen Nazis (Arnold Gehlen, Helmut Schelsky, Gerhard Mackenroth) besetzt, die nach kurzer „Entnazifizierung“ wieder eingestellt wurden und weiterlehren durften. Das gegenseitige Misstrauen war, wie Thomas Wagner berichtet, groß; beide Seiten fühlten sich voneinander ausspioniert. Schon Anfang der 50er Jahre allerdings, im Zuge der Adenauerschen Politik des Kalten Krieges, der Aufrüstung und der Frontstellung gegen Stalin und die Sowjetunion, die beide Seiten unterstützten, war der Boden ihrer Annäherung bereitet.

Noch überwog freilich die Feindschaft. Durch „vernichtende Gutachten“ verhinderten Horkheimer und Adorno die Berufung Gehlens nach Heidelberg. Adorno stützte sich dabei vor allem auf die Zuarbeit und das Urteil seines damaligen Assistenten Jürgen Habermas. Habermas hatte bei dem Faschisten Erich Rothacker, dem Organisator der „Bücherverbrennungen“ 1933, promoviert, hatte versucht, (in Fortführung der „Kritischen Theorie“) die Marxsche Theorie weiterzuentwickeln, stieß dabei aber auf die Ablehnung von Horkheimer, der sich von diesen Anfängen inzwischen entfernt hatte. In dessen Person zeigt Thomas Wagner die langsame Durchlässigkeit der Grenzen zwischen ehemaligen Faschisten und Antifaschisten. Horkheimer pflegte Kontakte nicht nur zu Adenauer, sondern auch zu dem Bankier Hermann Joseph Abs, der Himmler nahegestanden war, unterstützte (durch Gutachten) den „Parteigenossen“ Bruno Liebrucks und den Rasseforscher Karl Valentin Müller. Er versuchte sogar, die Nazi-Propagandistin Elisabeth Noelle-Neumann, die in der Nachkriegszeit als Demoskopin große Anerkennung fand, zur Mitarbeit im „Institut für Sozialforschung“ zu gewinnen. Habermasʼ marxistisch-orientierte Ablehnung von Gehlen (in dessen Soziologie seiner Ansicht nach „das gesamte Instrumentarium des Faschismus … beisammen“ ist) erscheint umso bemerkenswerter, als sie der ebenfalls marxistisch-orientierten Begeisterung für Gehlen von Seiten des philosophischen Jung-Stars aus der DDR, Wolfgang Harich, gerade entgegengesetzt ausfiel. Harich hielt Gehlens 1940 erschienenes Werk Der Mensch (in zweiter Auflage von Anpassungen an NS-Jargon und -Ideologie gereinigt) für eine Leistung, die für die systematische Ausarbeitung einer marxistischen Anthropologie unverzichtbar sei. Er suchte die Freundschaft Gehlens und setzte sich (vergebens) sogar dafür ein, ihn an die Ostberliner Humboldt-Universität zu berufen.

Eine Zäsur in der Beziehung zwischen Adorno und Gehlen bildete das Jahr 1960, in dem Gehlens Zeit-Bilder erschienen. Mit seinem Untertitel Zur Soziologie und Ästhetik der Moderne beinhaltete es ein Plädoyer für die abstrakte Malerei und überhaupt die Kunst der Avantgarde, in dem Adorno Übereinstimmungen mit seiner eigenen Kunstanschauung entdeckte. Es kam darüber gewissermaßen zu einem Bündnis nicht nur gegen den verbreiteten Publikumsgeschmack (der zu dieser Zeit der Ablehnung der „entarteten Kunst“ durch die Nazis noch ähnlich war), sondern auch gegen die reaktionäre Ablehnung der Avantgarde durch Hans Sedlmayr, der die Abkehr der Kunst von der Religion als Verlust der Mitte beklagte. Einig waren sich beide auch in der Ablehnung von Heidegger, dem „Yogi von Freiburg“ (Gehlen) und Schwadroneur des „Eigentlichkeit“ (Adorno). Dissens bestand dagegen in Bezug auf Hegel, von dem sich (nach Gehlens Ansicht) nichts mehr lernen ließ. Im Gegensatz zu Günter Anders oder René König, die mit dem ehemaligen Nazi nichts zu schaffen haben wollten, entwickelte sich zwischen Adorno und Gehlen eine gewisse Freundschaft mit privaten Essenseinladungen (samt Ehefrauen) und Ausflügen (in Gehlens VW).

Auf dieser Grundlage kam es zu den denkwürdigen „Streitgesprächen“, die 1964 /65 im Südwestfunk, späterhin auch im WDR-Fernsehen übertragen wurden. Unter Wahrung kollegialer Achtung stritt man zum einen über die Frage, ob sich im Deutschland der Nachkriegszeit eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ breitgemacht habe, für die die Marx‘sche Klassenanalyse nicht mehr greift (so Gehlen im Anschluss an Schelsky), oder die Gesellschaft weiterhin nur als Klassengesellschaft angemessen begriffen werden kann. Zum anderen stritt man über die Bedeutung gesellschaftlicher Institutionen, die von Menschen geschaffen, sich den Menschen gegenüber aber verselbständigt und Macht über sie gewonnen haben. Gehlen, der die Menschen als (biologische) „Mängelwesen“ dargestellt hatte, begriff die Institutionen als „Entlastung“, ohne die die Menschen innerhalb der Industriegesellschaft nicht überleben und sich entwickeln könnten. Freiheit sei nur innerhalb und unter der Voraussetzung und Akzeptanz der bestehenden Entfremdung möglich. Adorno betonte dagegen den repressiven Charakter der Institutionen, die den Menschen im Zustand der Unmündigkeit halte und forderte, die verselbständigten Institutionen wieder unter die Kontrolle der Menschen zu bringen.

Wagners Buch besticht durch seine weite Perspektive und seinen ungeheuren Detailreichtum. Es erzählt die Geschichte der Soziologie in ihrem Bezug auf die Kehrtwendungen und auch auf die Skandale der Politik (Spiegel-Affäre u.a.), auf die wachsende Bedeutung der Massenmedien für den wissenschaftlichen Diskurs und berücksichtigt nicht zuletzt die Biografien und Karrieren einzelner Soziologen. Eine eminente Rolle spielt darin selbstverständlich auch der wirtschaftliche Aufschwung des „Wirtschaftswunders“ und seine Auswirkungen auf die rasanten Veränderungen der Lebenswelt, was die Bedeutung der Soziologie steil ansteigen ließ. 1960 gab es nicht mehr nur 8, sondern bereits 25 Lehrstühle für Soziologie, die Zahl der Studenten an der Frankfurter Universität stieg von 60 (1955) auf 626 (1968). Bundesweit verdreifachte sich ihre Zahl von 1897 (WS 1963/64) auf 5593 (WS 1970/71). Soziologische Bücher wurden zu Bestsellern, zunächst noch mehr von Gehlen und Schelsky als von Adorno und Habermas. Von der Soziologie erwartete man Antworten auf die drängenden Fragen der Industriegesellschaft.

Hatten sich Adorno und Gehlen zunächst einander angenähert, miteinander diskutiert und partiell zusammengearbeitet, so brach im Zuge der Studentenrevolte die alte Feindschaft wieder auf. Dem 16. Kongress der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ im April 1968 zum Thema Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft, der mit 1300 Teilnehmern in der Frankfurter Messehalle abgehalten wurde, blieb Gehlen fern. Während die Studenten neben den Klassikern des Marxismus zunehmend auch die Anarchisten (Bakunin, Kropotkin, Mühsam u.a.) lasen und praktisch-politische Konsequenzen daraus zogen, geriet der Konservative Gehlen, der sich zusammen mit anderen konservativen Professoren im „Marburger Manifest“ den Mitbestimmungs-Ansprüchen der Studenten widersetzte, zunehmend in die Isolation. Er warf dem „liberalen Halbmarxisten“ Adorno vor, die bis dahin überwiegend braven Studenten mit seinen utopischen Idealen zur Revolte angestachelt zu haben. Die Revolte richtete sich zuletzt allerdings auch gegen Adorno selbst, der, als das soziologische Institut von Studenten besetzt wurde, die Polizei zur Hilfe rief und seine Vorlesung abbrach, als er dafür zur „Rechenschaft“ gezogen und zur Entschuldigung aufgefordert wurde. Von den Krawallen gesundheitlich stark angeschlagen, verstarb Adorno im Sommer 1969.

Die „großen Jahre der Soziologie“ hatten, wie Thomas Wagner ergänzt, ein erfreuliches politisches Nachspiel. Bei der Bundestagswahl 1969 scheiterte die NPD, die bereits in verschiedenen Landesparlamenten gesessen hatte, an der 5%-Hürde. Der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, wie Gehlen ehemaliges Parteimitglied der NSDAP, verlor die Wahl. An seiner Stelle wurde Willy Brandt, der wie Adorno 1933 vor dem Nationalsozialismus geflohen und ins Exil gegangen war, zum Bundeskanzler gewählt.

Von großem Interesse sind zuletzt auch noch Wagners Schlussbemerkungen über die Rezeption Gehlens nach dem Ende der „großen Jahre“. Auf der einen Seite wurde Gehlen von den rechtsgerichteten Zeitschaften Criticon und Sezession als ein „unabgegoltener Denker“ entdeckt und dem Studium empfohlen. Mit seiner Propagierung staatlicher Ordnung und autoritärer Strukturen (wobei er zuletzt noch in der Sowjetunion ein Vorbild gesehen hatte) stieg Gehlen auf diesem Wege zum Vordenker der Neuen Rechten auf. Auf der anderen Seite wandte sich Wolfgang Harich, der langjährige Freund und Bewunderer Gehlens (der dessen Werke Georg Lukács und Bert Brecht dringend zum Studium empfohlen hatte) enttäuscht von ihm ab. Ab 1986 sieht er in ihm nur noch den Plagiator des jüdischen Mediziners und Anthropologen Paul Alsberg und dessen Buch Das Menschheitsrätsel (1922): einen Ganoven, der einem Verfolgten des Nazi-Regimes „den rationalen Kern seines Hauptwerkes gestohlen“ hat.

Joas – Universalismus

Hans Joas

Universalismus

Weltherrschaft und Menschheitsethos

geb., 975 Seiten, 48,- €

Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025

von Robert Lembke

Will, wer „Menschheit“ sagt, betrügen, wie einst der Anarchist Proudhon insinuierte? Nicht, wenn es nach Hans Joas geht: Ganze 900 Seiten widmet der Soziologe mit dem theologischen Profil einer Analyse dessen, was er „moralischen Universalismus“ nennt: Das Bewusstsein dafür, dass allen Menschen ein unhintergehbarer Wert zukommt, auch jenseits der eigenen Gruppe und unabhängig von Interessen und Situationen.

Nicht unbedingt erleichtert wird das Verständnis dadurch, dass das gewichtige Buch den Abschluss einer Trilogie bildet: Hatte Joas im ersten Band nach der „Macht des Heiligen“ gefragt und – der gängigen These einer unumkehrbaren Säkularisierung entgegentretend – ihre vielfältigen Transformationen in der Moderne aufgesucht, bezog er sich im zweiten Band, „Im Bannkreis der Freiheit“, kritisch sowohl auf Hegel als auch auf Nietzsche und versuchte, ein alternatives Religionsverständnis zu entwickeln, das um den Begriff der „Selbsttranszendenz“ und seine ethischen Implikationen kreist.

Im dritten Band nun sind für Joas die Quellen des moralischen Universalismus untrennbar mit der „Achsenzeit“ (800 v. Chr. bis 200 n. Chr.) verbunden. Mit Karl Jaspers, Robert Bellah und anderen sieht er in diesem langen geschichtlichen Zeitraum erstmals ein Menschheitsethos aufscheinen, dessen vielfältige Ausdrucksformen und Wandlungen die weitere Geschichte mitbestimmt haben. Die moralischen Universalismen in Indien, China, dem antiken Griechenland und im Judentum seien eine „kontingente schöpferische Reaktion“ (81) auf den Eroberungs- und Anpassungsdruck antiker Imperien gewesen – wobei sich hier relativ zu Beginn die interessante Pointe ergibt, dass sich drei davon, nämlich der indische, jüdische und griechische moralische Universalismus, der Expansion des antiken persischen Weltreichs „verdanken“. Damit ist zugleich auch der weltgeschichtliche Gegenspieler des Menschheitsethos benannt – der „politische Universalismus“ machthungriger Staaten, die stets bestrebt sind, ihren Herrschaftsbereich zu vergrößern und der eigenen Weltanschauung notfalls mit Gewalt Geltung zu verschaffen.

Die Quellen des moralischen Universalismus werden zunächst aufgesucht in der jüdischen Prophetie, im antiken Griechenland – weniger in Demokratie (nicht konsequent implementiert) und Philosophie (Platon und, etwas überraschend, Aristoteles kommen sehr schlecht weg) als vielmehr in der Tragödie, die Joas allerdings an einem einzigen Werk, Aischylos’ „Die Perser“, exemplifiziert – sowie in Indien (Buddhismus) und China (Konfuzianismus). Schon hier ist Joas’ Bemühen um eine Abkehr vom Eurozentrismus zu verspüren, die ebenso wie seine immer wiederkehrende Auseinandersetzung mit postkolonialen Argumenten sicherlich positiv zu bewerten ist.

Charakteristisch für seine Arbeit ist außerdem der methodische Ansatz, seine eigenen Gedanken über weite Strecken in Abgrenzung und Vergleich mit den Soziologen Max Weber und Ernst Troeltsch zu entwickeln – ein m.E. nicht immer nur produktives Vorgehen, das das Buch teilweise unnötig verlängert, gerade wenn man sich die teils harsche Kritik an den Autoren (mehr an Weber als an Troeltsch) vor Augen führt. Hier wie fast durchgehend zeigt sich Joas jedoch vor allem als stark vom akademischen Umfeld geprägter, skrupulös-relativistischer Denker, der neben stupender Gelehrsamkeit auch mit immensem philologischen Eifer aufwartet – da werden ein ums andere Mal handschriftliche Anmerkungen in abseitigen Werken beigebracht, und es wäre ohne Weiteres möglich, eine Liste von 20 Autoren anzuführen, deren Namen auch Diskursteilnehmern kaum bekannt sein dürften, denen Joas jedoch entscheidende Impulse zuspricht.

Zurück zur Argumentation: Von Anfang an steht der moralische Universalismus unter dem Druck politischer Mächte; in Indien kann der Buddhismus niemals wirklich Fuß fassen und wandert aus, der Konfuzianismus ist der Sonderfall einer „konfessionslosen“, d.h. nicht institutionalisierten und mit anderen Einflüssen teilweise bis zur Unkenntlichkeit sich vermischenden, Religion ohne Kirche, und das geschichtliche Schicksal des Judentums ist weithin bekannt. Umso interessanter muss in der Rückschau der Sonderfall des Christentums erscheinen, das – vermittelt über Paulus als zentrale Figur – eine „Fusion seines religiös-moralischen Universalismus mit dem politischen Universalismus des Imperiums“ (271) zustande brachte und dieses Imperium, das römische, bekanntlich sogar überlebte.

Die wechselvolle Geschichte des Verhältnisses von christlicher (Staats)Religion und den Nachfolgeregimen Roms, wie sie Joas rekonstruiert, kann hier nicht nachgezeichnet werden. Ausdrücklich seien jedoch die diffizilen Kapitel zu Augustinus, zum Dualismus von weltlicher und geistlicher Macht oder zur sogenannten organischen Sozialethik, gipfelnd in Dantes utopischer Vision einer christlichen Universalmonarchie, dem geschichtlich und philosophisch interessierten Leser zur Lektüre empfohlen – Joas befindet sich hier offenbar auf ureigenstem Terrain und kann mit einer Fülle interessanter Befunde und Einsichten aufwarten, immer akribisch situiert und eingeordnet in den diskursiven Strom aktueller Forschung und Diskussion. Ein Beispiel sei trotzdem angeführt, nämlich die Beschreibung der Art und Weise, wie das Christentum in der Eucharistiefeier die archaische Praxis des Opfers (von Menschen, Tieren oder Dingen) in einer Weise transformiert, die an Hegels dialektische „Aufhebung“ erinnert: ein Prozess, in dem eine Sache zugleich beendet, erhöht und bewahrt wird.

Mit dem Ende des Mittelalters entsteht ein zweiter Strang des moralischen Universalismus, der aus den Naturrechtsdebatten des Mittelalters hervorgehende Menschenrechtsdiskurs. Als zentrale Figur macht Joas den Dominikaner Bartolomé de Las Casas aus, der, selber anfänglich spanischer Kolonialist im neu „entdeckten“ Amerika, sich mehr und mehr gegen die Gewalt an und Ausbeutung der indigenen Bevölkerung wendet: „In den folgenden Jahren verstärkte sich bei ihm die Identifikation der Indios mit dem gequälten und gekreuzigten Christus gemäß dessen Lehre, ihn jederzeit in den Geringsten unter den Mitmenschen zu sehen“ (460). Freilich bleibt Las Casas’ lebenslanges Engagement weitgehend folgenlos, wie sowohl er selbst als auch Joas keineswegs leugnen – wohl aber nicht vollkommen wirkungslos: Denn von hier führt eine Linie über Zwischenstationen zu den Menschenrechtserklärungen der Amerikanischen und Französischen Revolution, die in ihrer Interdependenz sowie im Zusammenhang mit den Weltgeschehnissen genauestens analysiert werden. Dabei setzt sich Joas immer wieder in bewundernswerter Weise mit der postkolonialistischen Frage auseinander, ob denn nicht diese angeblich universalen Menschenrechte angesichts ihrer unauflöslichen Verstrickung mit dem Kolonialismus – dem nach Dauer und Opferzahl wohl größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte – nicht wertlos seien; oder schlimmer noch, ob sie als ‚Feigenblatt‘ des politischen Universalismus (Joas vermeidet den Begriff „Imperialismus“ wegen dessen Engführung bei Lenin) nicht sogar gegenteiligen Zielen dienten. Joas arbeitet sich an dieser Frage sehr intensiv ab, verneint sie jedoch letztlich.

Weniger überzeugen kann Joas‘ Auseinandersetzung mit der Moderne. Die Aufklärung und die mit ihr verbundene Zurückdrängung religiöser Prägungen und Vorstellungswelten zeichnet er als europäischen Sonderweg, der „in hohem Maße kontingent“ (525) gewesen sei. Über die wesentlichen Treiber dieser Entwicklung, nämlich (Natur)Wissenschaft und Technik, redet Joas freilich nicht. Stattdessen betont er, dass sich jede moralische und rechtliche Hochschätzung des einzelnen Menschen als Individuum religiösen Quellen verdankt („Sakralität der Person“) – jedoch sozusagen mit dem Geburtsfehler, dass Angehörige bestimmter subalterner Gruppen in so gut wie allen Kulturen gar nicht erst als Individuen in den Blick kommen: „Wir müssen deshalb dem Sachverhalt ins Auge sehen, daß der menschheitsgeschichtliche Fortschritt hin zu einer rechtlichen Kodifikation moralisch-universalistischer Forderungen selbst im Akt dieser Positivierung mit neuen Formen der Einschränkung dieses Universalismus verbunden war“ (549). Hatte Proudhon – „wer Menschheit sagt, will betrügen“ – also doch recht?

Damit sind wir im Prinzip in der Gegenwart angekommen. In relativ geschlossenen Einzelkapiteln widmet sich Joas gewohnt detail- und kenntnisreich dem Faschismus (als direkter Negation jedes moralischen Universalismus), der Bürgerrechtsbewegung in den USA, dem indischen Unabhängigkeitskampf und dabei insbesondere Gandhi, Mao Zedong (und dem Maoismus als radikalster Form eines antireligiösen Universalismus) sowie dem Islam.

Das alles kann hier nicht nachgezeichnet werden, sei aber zur Lektüre wiederum ausdrücklich empfohlen. Drei Aspekte möchte ich hier herausheben: Erstens die lehrreiche Pointe, dass die „Allgemeine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ von 1948 als direkte Reaktion auf die Erfahrung des Faschismus zu verstehen ist; und dass sie keineswegs „ein westliches Oktroi“ (606) darstellt, wie Joas brillant herausarbeitet. Im Gegenteil geht der Wortlaut im Wesentlichen zurück auf den libanesischen Politiker und Intellektuellen Charles Malik (1906-1987) und den chinesischen Philosophen und Kosmopoliten Peng-chun Chang (1897-1957). Zweitens die Rolle von Mahatma Gandhi, der mit seiner Lehre der „ahimsa“ (Gewaltlosigkeit) und den damit verbundenen Formen des Widerstands sozusagen zum prototypischen Helden von Joas’ moralischem Universalismus wird – und übrigens als Vorbild und Ideengeber die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und Martin Luther King stark beeinflusste. Und drittens die staunenswerte Perspektivierung und Rehabilitierung des Islam, der – mit Unterstützung des amerikanischen (!) Religionshistorikers Marshall Hodgson (1922-1968) – von Joas sozusagen in den weltgeschichtlichen Strom des moralischen Universalismus, nun auch „interreligiöser Universalismus“ genannt, eingemeindet wird.

Bei aller Bemühung um die Verdienste des moralischen Universalismus, etwa die Hochschätzung von Augustinus, Dante oder Martin Luther King, kann man nicht übersehen, welch beschränktes Potenzial moralische Ideale für Joas letztlich haben. Ihr geschichtlicher Aufschwung ist zeitlich und räumlich begrenzt und verdankt sich einmaligen Konstellationen sowie besonderen Individuen, die ihre schöpferische Leistung auffällig oft mit dem gewaltsamen Tod bezahlen. (Man kann daher kritisch fragen, woher die heutigen bedrängten Individuen die Inspiration und Kraft zu solch hochfliegenden und persönlich riskanten Aufschwüngen überhaupt nehmen sollen.) Zudem hat die Geschichte in Joas’ Sicht, jedenfalls in Europa, eine falsche Abzweigung, die des Säkularismus, genommen, an dessen diskursiver Korrektur er als Autor nun tatkräftig mitwirkt – stellenweise liest sich sein Text denn auch wie die Einlösung von Habermas’ Anfang der 2000er Jahre ausgerufener „postsäkularer Wende“ mit ihrem Aufruf zur Revitalisierung religiöser Sinnbestände.

Wenn man sich die aktuellen kulturkämpferischen Frontlinien anschaut, wie sie zum Beispiel in den USA verlaufen – Stichwort MAGA, Wissenschaftsfeindschaft und Deliberalisierung –, kann man große Zweifel haben, ob diese Intervention, so verdienstvoll sie ist, in die richtige Richtung weist. Die Rückkehr zu wie immer gewandelten Traditionsbeständen – ganz im Sinne von Malrauxs angeblichem Diktum: „Das 21. Jahrhundert wird religiös sein oder es wird nicht sein“ – führt nicht selten zu politischen Ideologien, die einmal erreichte zivilisatorische Fortschritte und Freiheitsrechte fröhlich und rücksichtslos missachten. Zudem wäre, selbst wenn es gelänge, sich auf Weltebene auf einen allgemein akzeptierten Satz universeller moralischer Normen zu einigen, noch die ganz praktische Frage zu klären, wie man sie – modern und ironisch gesprochen – in ‚Humankapital‘ implementiert‚ ohne die Zwangszivilisierung der Vergangenheit zu wiederholen.

Mir scheint Joas daher eher das Symptom einer Art utopischen Schließung zu sein, die das Schicksal der Menschheit ungewollt dem Voluntarismus und der Technologie in die Hände legt. Wenn es daraus offenbar kein Entrinnen gibt, bleibt nur, sich mit den Abziehbildern der Vergangenheit zu trösten – wie ohnehin Joas’ ganze Geschichte unrettbar vergangenheitsfixiert ist und die Gegenwart des 21. Jahrhunderts auch zum Ende hin kaum in den Blick bekommt. Es gibt ja auch Universalismen des Geldes, der Technologie, der Wissenschaft etc., die auch ihre Fürsprecher und Agenten haben, aber verdeckter operieren und sich um die Ideengeschichte wenig bis gar nicht scheren. Möglicherweise ist das Zeitalter der Moral – das zudem an das im Rückgang befindliche Medium der Schrift gebunden sein könnte – sogar schon zu Ende, und das Zeitalter des Bildes, der Codes und der Automatisierung hat längst begonnen.

Eckhard Keßler – Über mich selbst

Eckhard Keßler (1938-2018) studierte von 1958-59 Klassische Philologie und Philosophie in Tübingen und bis 1963 an der LMU. Nach der Promotion habilitierte er dort 1975 in Philosophie und Geistesgeschichte des Humanismus. Er war 1977 Gastprofessor an der Columbia University New York und von 1979 bis 1982 Direktor des Deutschen Studienzentrums in Venedig. 1980 wurde er in München zum Professor für Philosophie und Geistesgeschichte des Humanismus berufen und im Jahre 2004 emeritiert. Seine Forschungsschwerpunkte waren die Naturphilosophie und Methodendiskussion im 16. Jahrhundert sowie die Tradition des Aristotelismus.

Der Aufforderung der Redaktion des „Widerspruch“ über mich selbst zu schreiben – woher ich komme, was ich mache, und warum ich mache, was ich mache – folge ich mit Zögern. Das persönliche Tun und Lassen, Wollen und Sollen scheint als das Individuelle mit der Sache der Philosophie wenig zu tun zu haben, und wenn es etwas gibt, das von allgemeinerem Interesse sein könnte, dann müsste es in den philosophischen Versuchen selbst deutlich geworden und dort jedem, der es kennen will, zugänglich sein.

Aber dann erinnerte ich mich, dass immer wieder in der Geschichte des westlichen Denkens in Zeiten der Krise und der Desorientierung, wenn die Normen fragwürdig wurden und das Allgemeine seine Verbindlichkeit verlor, das Besondere gesucht und dem Faktischen vertraut wurde. Das Biographische und Autobiographische, das tatsächlich Gelebte und Erlebte trat an die Stelle des nur Gedachten: in der Spätantike, in der Renaissance, in der frühen Neuzeit. Ich denke in der Philosophie an die Aufmerksamkeit, mit der die Selbstdarstellungen von Augustinus und Petrarca, Cardano und Rousseau studiert wurden, an die Unternehmungen von Hugo Grotius im 17. und dem Italiener Gian Artico di Porcia im 18. und an ähnliche Initiativen in den USA und Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die philosophierenden Zeitgenossen zu Selbstdarstellungen zu bewegen und wenn nicht Muster vorbildlicher, so doch Fallstudien möglicher philosophischer Lebenswege und ihrer Konsequenzen zu präsentieren. Warum sollten nicht auch in unserer Gegenwart, in der die Philosophie doppelt herausgefordert ist, sich in der ihr zunehmend feindlich gesinnten Umwelt zu behaupten und zugleich diese neue Realität zu reflektie­ren und zu erklären – warum also sollte nicht auch in unserer Gegenwart das, was andere erfahren haben, eine Orientierungsfunktion übernehmen können?

Nun denn, was mich angeht, so will ich es versuchen.

1. Ich bin weder als Philosoph geboren noch zum Philosophen erzogen worden. Der westfälische Vater war Ingenieur und während der ersten sieben Jahre eine überlebensgroße Gestalt am fernen Horizont des Krieges. Die schlesische Mutter machte in der Behandlung der beiden Töchter und des Sohnes keine großen Unterschiede. Ich erinnere mich an die gespannte Atmosphäre am Tag nach dem 20. Juli 1944 und an ein Hitlerlied, das mir noch in den ersten Schulmonaten beigebracht wurde. Daran schloss sich eine lange Flucht aus Schlesien, begleitet von goyaesken Gestalten, und ein noch längerer Abenteuersommer, -herbst und -winter in einer zerbombten westfälischen Stadt: wilde Spiele zwischen den Trümmern, den rätselhaften Zeugnissen vergangenen Lebens. Was keinen Sinn machte, wurde zerlegt, zerbrochen, zerschlagen. Wir waren keine Archäologen.

Die Schule öffnete wieder im Frühjahr 1946. Sie wurde von dem beinahe Achtjährigen freudig begrüßt. Angesichts der überwältigenden Vielfalt zumeist unzusammenhängender Eindrücke war das Verlangen nach Aufklärung, Ordnung, Verstehen drängend geworden. Ohne Radio und Bücher, mit einem vierseitigen Wochenblatt als Informationsquelle wurde die Schule zum Tor zu einer Welt jenseits des unmittelbar Gegebenen. Sie versprach, der fragmentarisierten Gegenwart einen Kontext zu geben: ein Vorher, als die Welt noch heil war, und ein Nachher, in dem die Welt wieder heil sein konnte. Die Schule war keine Störung kindlicher Spielseligkeit, aber auch keine Flucht in ein abgehobenes Reich reinen Wissens, sondern der Ort, wo die Mittel erworben werden konnten für die innere und äußere Lebensbewältigung.

Rückblickend halte ich es für möglich, dass diese Einschätzung der Welt des Geistes bei meiner ersten Begegnung mit ihr für die Schwierigkeiten verantwortlich ist, die ich bis heute mit der Selbstzweckhaftigkeit des bíos theoretikós bei Aristoteles und allen, die ihm folgen, habe und für die große Sympathie, die ich spontan für alle Positionen empfinde, die, wie etwa Cicero in De officiis, von der Philosophie verlangen, sich gegenüber den Anforderungen des menschlichen Lebens zu bewähren.

2. Der erste auf bewusster Wahl beruhende Schritt – wenn auch in anderer Absicht unternommen – war der Entschluss zum Besuch des humanistischen Gymnasiums. Er konnte meinem Vater, der mich in seine Fußstapfen treten sehen wollte, unter Berufung auf Heisenbergs Feststellung, dass Humanisten die erfolgreicheren Naturwissenschaftler zu sein pflegten, abgerungen werden. Damit öffnete sich mir die Weite der abendländischen Kultur, die mit Homer und Hesiod und den Vorsokratikern beginnt und ihr Zentrum im Mittelmeerraum besitzt, gestützt auf die drei Wurzeln Athen, Rom und Jerusalem. Sie wurde nach langen Jahren der Annäherung endlich zu meiner Welt: der natürliche Raum meines Denkens. Die Vorstellung, auf sie verzichten zu müssen, ist schwer erträglich; der Gedanke, dass jemand freiwillig das Angebot, sie zu erwerben, ausschlägt, unverständlich. Später, in den USA, habe ich gelernt, wie borniert eine solche eurozentrische Perspektive ist. Ich habe sie daraufhin in meinem Bewusstsein relativiert, aber nicht aufgegeben.

In diesem Zeit-Raum der europäischen Tradition erhalten die Erfahrungen der Gegenwart historische Tiefe: die Weisen der Erfahrung nicht anders als ihre Gegenstände verlieren die Absolutheit schlechthinniger Gegebenheit; sie sind nicht einfach hinzunehmen, sondern können nach ihrer Ursache befragt und in ihrer Genese verstanden werden. Das ist die alte Frage der Kinder, der Narren und der Philosophen.

Aber nicht nur rückwärts gewandt erstreckt sich diese historische Tiefe und fordert – der Flug der Eule der Minerva in der Dämmerung – zu nachträglicher Legitimation und Erklärung des Gewordenen und Getanen auf, sondern auch vorwärts gewandt lehrt sie, dass die Dinge im Prozess ständiger Veränderung stehen und dass der Mensch an dieser Veränderung beteiligt ist und für sie Verantwortung übernehmen muss.

3. Der zweite richtungsweisende Schritt, die Studienwahl, widersprach zwar den väterlichen Träumen, war aber vorhersehbar geworden: nicht die Natur-, sondern die Geisteswissenschaften und hier vor allem Klassische Philologie, mit Germanistik fürs Lehramt und Philosophie für die „Weltweisheit“.

Die ersten beiden Semester in Tübingen, drei atemberaubende Lehrer: der Gräzist Wolfgang Schadewaldt, der Latinist Ernst Zinn, der noch junge Literat und spätere Rhetorik-Professor Walter Jens; der erste würdevoll, der letzte intellektuell brillie­rend, der mittlere von größtem Einfluss: mit leiser Stimme stellte er die Frage: „Warum?“. Warum studieren wir die Antike? Warum wurde sie nach ihrem Ende in immer neuen Renaissancen immer wieder neu belebt?

Mit dieser Frage zog ich zum dritten Semester, 1959, für zwei Semester nach München zu den Klassischen Philologen Rudolf Pfeiffer, Friedrich Klingner, Kurt von Fritz. Obwohl ich mich immer als Latinist verstanden hatte und mich auch im Staatsexamen hatte prüfen lassen, wurde Kurt von Fritz mein philologischer Lehrer. Bei ihm lernte ich, Aristoteles zu lesen: nicht den Autor der aristotelischen Lehre, sondern den Autor der Fragen, die die aristotelische Lehre zu beantworten sucht.

Im Gepäck hatte ich auch die Empfehlung eines juristischen Freundes, den Philoso­phen Ernesto Grassi keinesfalls zu versäumen. Er las „Das Problem des Beginns des modernen Denkens und die Philosophie der Renaissance“, wobei er zu zeigen versuchte, dass das moderne Denken seinen Ursprung nicht bei Descartes, sondern in der Renaissance hatte. Das war keine direkte Antwort auf die von Ernst Zinn gestellte Frage; aber was ich hörte, reichte aus, um sie zur Frage nach dem Warum nicht nur der Klassischen Philologie, sondern des modernen Denkens überhaupt zu erweitern und die Antwort in jener Renaissance zu suchen, von der Grassi gesprochen hatte.

Statt nach Tübingen zurückzukehren, begann ich für und bei Ernesto Grassi zu arbeiten. Nach dem Staatsexamen in Klassischer Philologie und Germanistik promovierte ich bei ihm über ein Thema zur Philosophie des frühen Humanismus und habilitierte mich schließlich mit einer Arbeit, die ursprünglich das Geschichtsdenken des italienischen Humanismus als ganzen zum Gegenstand haben sollte, dann aber nicht über den ersten Humanisten, Petrarca, hinauskam. Die Jahre ihrer Entstehung – von 1968 bis 1974 – waren nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht für mein Leben und Denken prägend. Als Hilfskraft erst, dann als Assistent war ich am Aufbau des „Seminars für Philosophie und Geistesgeschichte des Humanismus“ beteiligt. Nach Grassis Emeritierung wurde daraus im Zuge der Universitätsreform von 1974 das „Institut für Geistesgeschichte und Philosophie“ erst „des Humanismus“, später dann „der Renaissance“. Nun wird es, im Zuge der Universitätsreform von 1998, wieder zu einem Seminar, diesmal „für Geistesgeschichte und Philosophie der Renaissance“ im Rahmen des „Instituts für Philosophie“.

4. Das Münchner Institut bzw. Seminar ist das einzige in Deutschland, das sich ausdrücklich mit der Renaissance-Philosophie beschäftigt. So war es nur natürlich, dass ich mich, mit ihm seit seiner Gründung verbunden, in meiner Forschung und Lehre beinahe ausschließlich auf deren Geschichte und Probleme konzentriert habe. Dies bedeutet eine gewisse Isolation an der eigenen Universität, motiviert aber gleichzeitig auch zu vermehrten internationalen Kontakten, um der Gefahr der Provinzialisierung zu begegnen. Mich haben sie zu längeren Aufenthalten in den USA und Italien und zu freundschaftlichen Kooperationen mit Kollegen aus fast allen europäischen und vielen außereuropäischen Ländern geführt, die für meine Arbeit von großer Bedeutung waren.

In der Lehre war ich vom Beginn meiner Vorlesungstätigkeit an darauf bedacht, meinen Hörern, gleichgültig ob aus der Philosophie oder aus anderen Fächern, das zu vermitteln, was ich selbst als Student immer vermisst hatte: eine dokumentierte Kenntnis der Strömungen und Probleme der Philosophie zwischen etwa 1350 und 1600 in ihrem philosophiehistorischen, kulturellen, politischen und sozialen Kontext. Entgegen meiner Herkunft aus der Klassischen Philologie habe ich dabei die unmittelbar vorhergehenden, spätmittelalterlichen Anstöße, vor allem Duns Scotus und Wilhelm von Ockham, betont, in deren Licht die neue Rezeption der Antike vorgenommen wurde und verständlich zu werden scheint.

In meiner Forschung, die nicht ohne den Dialog mit den Studenten in den Seminaren denkbar ist, stand zunächst die Frage nach den Wurzeln und der Entstehung der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft aus der „Selbstdestruktion des Mittelalters“ und der Vielfalt der in der Renaissance entwickelten Ansätze im Vordergrund: die anthropologischen und moralphilosophischen Versuche im Umkreis der Humanisten, die kosmologischen und naturphilosophischen Entwürfe in der Tradition der Aristoteliker und des Neuplatonismus, die umfangreiche erkenntnistheoretische Diskussion in der Auseinandersetzung mit der aristotelischen Psychologie und die vielgestaltige Methodendiskussion im Ausgang vom deduktiven Wissenschaftsideal des Aristoteles, auf der Suche nach einer empirisch begründeten „neuen Wissenschaft“. Dabei verschob sich im Laufe der Jahre die leitende Perspektive: an die Stelle der genetischen Begründung der modernen Philosophie und Wissenschaft, die man als Perspektive einer diachronen Wissenschaftstheorie bezeichnen könnte, trat die Analyse der Problemstellungen und Lösungsansätzen als Manifestationen des Denkens, unabhängig von ihrer historischen Relevanz, die man die Perspektive einer diachronen Phänomenologie des menschlichen Geistes nennen könnte.

5. Seit der Zeit, als ich mich in München ernsthaft auf die Philosophie einzulassen begonnen habe, hat die Philosophie selbst sich verändert. Diese Veränderungen haben ihre Gründe und müssen – man mag sie begrüßen oder nicht – in ihrer Faktizität akzeptiert werden. Wir können aber weder hoffen noch müssen wir befürchten, dass sie der Philosophie ihre endgültige Gestalt gegeben haben, und es steht uns frei, an ihrer Zukunft mitzuwirken. Ich möchte abschließend dazu zwei Anmerkungen machen:

[1] Ich halte in der gegenwärtigen innerphilosophischen Diskussion die Differenzierung nach historischen Problemen und Sachfragen nicht für besonders hilfreich. Denn einerseits sind alle unsere Fragen geschichtlich und das, was eine Sache ist, ist der Philosophie nicht vorgegeben, sondern von ihr selbst definiert; und andererseits ist so etwas wie eine reine, nicht von ihrem Erzähler gedeutete Geschichte in der Philosophie ebenso wenig möglich wie in anderen Bereichen.

[2] Ich halte in der gegenwärtigen universitätspolitischen Diskussion die Bestrebungen, die Philosophie auf ein berufsbildendes Fach zu reduzieren und ihre Effizienz nach der Zahl der Studienabschlüsse zu bemessen, für verfehlt. Zwar muss auch die Philosophie dem gewachsenen Bedürfnis der Studierenden nach klarer Strukturierung und größerer Regulierung der Studiengänge gerecht werden, aber sie darf nicht auf die Vermittlung eines abgeschlossenen und abprüfbaren Wissens reduziert werden. Die Philosophie sollte sich der ihr eigenen Kreativität, immer neue Perspektiven zu eröffnen und neue Horizonte zu entwerfen, nicht berauben lassen.

Nassehi – Kritik der großen Geste

Armin Nassehi

Kritik der großen Geste. Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken

br., 224 Seiten, 18.-€,

München 2024 (Beck-Verlag)

von Bernd M. Malunat

„Kunst ist das Gegenteil von gut gemeint“ – dieses Bonmont des großen Spötters Gottfried Benn lässt sich auch auf das vorliegende Büchlein anwenden; denn es darf ja keine Zweifel daran aufkommen, dass der durchaus renommierte Münchner Soziologe es ernst meint. Nassehi will allerdings keinen wissenschaftlichen Text, auch kein politisches Buch vorlegen. Er verzichtet deshalb auf jeglichen wissenschaftlichen Apparat, begnügt sich mit gelegentlichem name dropping, um durch eine barrierefreie Form das Lesen und auch sein Schreiben zu erleichtern. Damit lässt sich der holprige Schreibstil aber nicht erklären, der den Eindruck erweckt, der Autor habe seinen Text einer Maschine anvertraut, doch irgendwie übersehen, ihn nach dem Ausdruck zu korrigieren. Da wäre ein engagierter Lektor hilfreich gewesen, nicht nur ein paar interessierte Freunde (8). Es handelt sich also um einen Essay (26), einen Versuch eben, der aber den Anspruch erhebt, das politische Problem zu lösen, wie multiple Krisen durch die „Kritik der großen Geste“ in den Griff zu bekommen sind (100). Dies vorauszuschicken ist nötig, weil sonst vieles dieser Schrift ganz eigener Art kaum verstehbar wäre.

Systeme, so Nassehi, seien stabiler, träger als ihre Umwelt (11), und diese Trägheit bilde einen strukturellen Schutzmechanismus (12), der sich trotz gediegenen Wissens und bester Absicht kaum ändern lasse, weil die innere Dynamik, die Selbstlimitation der Gesellschaft dem entgegenstehe (17). Die soziale Welt sei nicht aus einem Guss, könne daher auch nicht kollektiv handeln (172). Diese angenommene Absage an die kollektive Veränderbarkeit von Bedingungen gerinnt zu der Aussage, dass „nur die Mittel und Formen zur Verfügung (stehen), die auch wirklich zur Verfügung stehen“ (21). Nassehi hält dies tatsächlich für einen vielleicht wirklich revolutionären Satz (21)!, der vielleicht wirklich falsch ist. Jedenfalls erscheint ihm die Gesellschaft als zur Einsicht unfähig.

Da wir multiplen Krisen ausgesetzt seien, stelle sich „ernsthaft die Frage, ob die liberale Demokratie überhaupt dafür gerüstet ist, existentielle Herausforderungen zu bewältigen“ (63); mehr noch könne man „dann ernsthaft fragen, ob die Demokratie überhaupt für kollektive Krisenbewältigung in der Lage sein kann, und man wird die Frage ebenso verneinen müssen, wie man die Alternativen in Rechnung stellen muss“ (85), als die er „Indoktrinierung, Abschottung, Gewalt“ (85) ausmacht. Damit wendet sich der Autor aber keineswegs von der Demokratie ab, postuliert vielmehr – wenn auch in einer kontradiktorischen Wendung –, „dass die Krise der Demokratie allein durch kompetentere Politik überwunden werden kann“ (179), die durch die operative Durchsetzung konkreter Entscheidungen für nachhaltige Lösungen, die angemessene Wirkungen erzeugen, sorgen müsse (180).

Das bürgerliche Gesetz, das in den bisherigen Überlegungen begrifflich nicht vorkommt (43), erhält durch die implizierte Politiker-Schelte seine Funktion zwar zurück, wird allerdings gleich wieder einkassiert, weil man sich Problemlösungskompetenz zwar wünschen, nicht aber dekretieren könne (182). Seine grundlegende Skepsis gegenüber der Wirksamkeit des rechtsstaatlichen Gesetzes gilt selbst dann, wenn es sachlich überzeugend begründet und gut kommuniziert wird; denn „man kann kaum Empirisches verstehen, wenn man keinen ausgearbeiteten Gesellschaftsbegriff hat“ (208). Gibt es demnach also keine Verpflichtung, staatliche Gesetze zu befolgen? Anders: muss das Gesetz hinter den durchaus berechtigten Interessen einer diversen Gesellschaft zurücktreten, selbst wenn erkennbar ist, dass durch Untätigkeit Kosten entstehen werden, welche die Gesellschaft zu tragen haben wird? Ist das unvermeidbar oder schon fahrlässig? Das wirft die Frage nach der demokratischen Verfasstheit der Gesellschaft auf.

Über einen ausgearbeiteten Gesellschaftsbegriff verfügt für den Soziologen natürlich die Soziologie. Ließe sich daraus herleiten, es mit einem gewissermaßen technokratischen Parlament samt Regierung aus Soziologen zu versuchen? In seiner Darstellung ist immer nur von der Gesellschaft die Rede, einer Art amorpher Masse, die zwar vielfältigen Perzeptionen huldigt, aber die Wirkung von Menschen, Personen, Persönlichkeiten, die teils herausragende Leistungen erbracht haben, wird einfach negiert. Dabei bedarf es keiner großen Belege dafür, dass die ‚großen Gesten‘ überwiegend von Einzelnen, von den inzwischen gescholtenen ‚alten, weißen Männern‘ ( manchmal auch Frauen) vollbracht wurden. Das gilt selbstverständlich für fast alle naturwissenschaftlichen, technologischen Leistungen, aber auch für wegweisende politische Transformationen; man denke etwa an die Westpolitik Adenauers, die Ostpolitik Brandts, auch an die sog. Agenda-Politik Schröders, allesamt Entscheidungen, die meist im kleinsten Kreis getroffen wurden.

Damit stellt sich die Frage, ob die Grundannahme des Autors, auf ‚große Gesten‘ zu verzichten, um die notwendigen Transformationen gesellschaftlich bewirken zu können, nicht diametral anders beantwortet werden müsste. Denn es bedarf auch keiner weiteren Belege, dass das gegenwärtige Weltgeschehen tatsächlich von den ‚wirklich großen Gesten‘ befeuert wird; man denke an die USA, China, Russland, Indien und viele weitere Staaten. Dieser Blick in die große Welt zeigt, dass die Soziologie ihres verengten Blicks wegen gänzlich ungeeignet wäre, die ohnehin hypothetisch angestellte Überlegung einer Experten-Herrschaft mit Aussicht auf Erfolg bewältigen zu können.

Der Blick des Soziologen ist aber auch dann als verengt anzusehen, wenn es nur um die Deutschland betreffenden Transformationen geht; dafür liefert er unbeabsichtigt ausreichende Hinweise. Am augenfälligsten wird das an seiner altväterlichen Kritik der Kapitalismus-Kritik (70ff). Nassehi hat offenbar nicht erkannt, dass es nicht um dessen Überwindung geht, sondern darum, seine Verteilungswirkungen zu korrigieren. Die Ungleichverteilung ist national wie global, zusammen mit dem existenzbedrohenden Klimawandel und dem Artenschwund, das wohl drängendste zukünftige Problem, weil es das geordnete Zusammenleben zerstört. Mit extremer Deutlichkeit zeigt sich diese finanzkapitalistische Entwicklung an der Westküste der USA, wo eine Anzahl sogenannter Tech-Multimilliardäre zu den ‚allergrößten großen Gesten‘ ausholt, welche die Weltgeschichte erlebt hat, die durch die rasanten Fortschritte der Künstlichen Intelligenz (KI) sogar möglich werden könnten. Deutschland, Europa aber übt sich im Klein-Klein! An der Unterstützung der von Russland überfallenen Ukraine lässt sich das deutlich zeigen.

Der verengte Blickwinkel wird aber etwa auch daran deutlich, dass der Autor sich zwar seitenlang, und mit durchaus guten Gründen, mit der Identitätspolitik beschäftigt, den Lobbyismus jedoch völlig unbeachtet lässt. Dabei ist offenkundig, dass es sich um den ‚großen Bruder‘ – ein Sprachbild, das er gern verwendet – der Identitätspolitik handelt, weil die verschiedenen sozialen und ökonomischen Großgruppen dadurch ihre Interessen einbringen, die allerdings mit bedeutend größeren Ressourcen, nicht zuletzt finanzieller Art, ausgestattet sind. Das verdeutlicht zugleich, dass er die Wirtschaft als sozialen Akteur nicht zum relevanten Teil der Gesellschaft zählt, und ihr deshalb kaum Beachtung zuwendet.

Sein Versuch, die Potentiale für notwendige Veränderungen in konkreten Gegenwarten zu finden (212 ff.), mutet ein wenig feuilletonistisch an, weil er zwar durchaus begrüßenswerte Beispiele nennt, sich aber nicht selbst befragt, weshalb gerade sie von der doch so disparaten Gesellschaft akzeptiert werden sollten: einfach nur weil sie ‚klein‘ sind? Davon abgesehen ist anzunehmen, dass diese wirklich gut gemeinten Ansätze, die überwiegend von Start-ups hervorgebracht werden, nicht nur langsam wirken, sondern, sobald sie skalierbar sind, ganz schnell von finanzstarken Investoren aufgekauft werden, wie es in der Vergangenheit beinahe regelmäßig geschah – um dann doch wieder als ‚große Geste‘ zu enden.

Die vom Autor präferierten ‚kleinen Gesten‘ bedeuten zugleich auch eine nicht bedachte Absage an die internationale Zusammenarbeit, etwa in der EU, der NATO, letztlich sogar im System der Vereinten Nationen, auf die zu verzichten aus vielfältigen Gründen kaum vorstellbar, sicher aber nicht wünschbar ist, angesichts der weltpolitischen Neuordnung. Die rückwärtsgewandte, vielleicht nur gedankenlose Haltung, die von einer randständigen Partei vertreten wird, ist nicht in der Gegenwart angekommen, hat die ‚Zeitenwende‘, die Welt im grundlegenden Wandel noch nicht integriert. Selbst angesichts der verteidigungspolitischen Herausforderungen hätte das zur Folge, den Kopf in den Sand zu stecken.

Versucht man den beredeten Text zusammenzufassen, gelangt man zu dem ernüchternden Ergebnis, dass der Autor zwar ‚anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken‘ will, aber allenfalls in eingestreuten Nebensätzen schreibt, wer für wen was transformieren soll; wichtig ist ihm nur, dass es nicht mit ‚großer Geste‘ erfolgt. Wenn man die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre verfolgt, lässt sich statistisch deutlich belegen, dass sein Votum schon gute Erfolge erzielt hat. Deutet man die Politik der amtierenden Bundesregierung richtig, so ist auch sie in diesem ‚Herbst der Reformen‘ auf einem guten Weg. Nur die riesige Schuldenaufnahme sollte man ausblenden, auch wenn sie auf weitgehende Zustimmung in Wirtschaft und Gesellschaft trifft, die nicht so unfähig zur Einsicht scheint, wie der Autor annimmt.

Daher eine kurze Zwischenbemerkung. Man kann all die vielleicht wirklich bestehenden negativen Konnotationen extrapolieren; man kann sich aber auch bemühen, die gegebenen Einstellungen in eine nicht-lineare, positivere, gemeinschaftsverträglichere und demokratiegerechte Richtung umzulenken, um dadurch zugleich die Meinungsführerschaft der nur so genannten sozialen Medien zu beschränken. Das ist übrigens ein gelungener Euphemismus der Empörungs-Unternehmer, die durch die Manipulation ihrer Algorithmen in der Lage sind, in vermehrtem Umfang ‚neue Unübersichtlichkeiten‘ zu schaffen. Das ist als Anregung gedacht, nicht als Auftrag an eine Soziologie in pädagogischer Absicht.

Der Soziologe, der als ruheloser Wissenschaftler bloß ‚große Worte‘ in die Arena der Auseinandersetzungen werfen will, kann sich zufrieden zurücklehnen. Man muss sich also keine Sorgen machen, weder um die dringend not-wendigen Transformationen noch um die Soziologie – oder vielleicht doch? Jedenfalls handelt es sich bei Nassehis Text um eine auf- und anregende Buchstabenfolge.

Zum Schluss ein Aperçu: Ich singe Dir `ne Welt / wie sie Mir gefällt.

Elisabeth Gössmann – Hindernislauf

Elisabeth Gössmann (1928-2019) war Theologin und eine der ersten Vertreterinnen der feministischen Theologie in der katholischen Kirche. 1963 scheiterte ihre Habilitation am Einspruch der Deutschen Bischofskonferenz. 1978 gelang ihr zweiter Versuch im Fach Philosophie bei Eugen Biser. Erst 1990 erhielt sie eine außerplanmäßige Professur in München. Seit 1968 lehrte sie in Tokyo, dann in München und erhielt die Ehrendoktorwürde von fünf Universitäten.

Statt des Titels „Hindernislauf“ hätte ich auch einen anderen wählen können, nämlich: „Geburtsfehler weiblich“. Das war der Kommentar meines Doktorvaters, jedesmal wenn eine der 37 (in Worten: sieben und dreißig) Ablehnungen meiner Bewerbungen auf eine Professur in Deutschland, ob für Philosophie oder Theologie, ob an einer Pädagogischen Hochschule oder Universität, eingetroffen war. Doch dieser Titel ist schon vergeben.

Aber alles der Reihe nach! Als Kind einer lutherisch-katholischen, also konfessionell gemischten Ehe, wurde ich bald auf religiöse Unterschiede im Verhalten der Eltern aufmerksam, wie z. B. die Zuständigkeit verschiedener Kirchen für sie oder das beim Vater fehlende Kreuzzeichen vor und nach dem Tischgebet. Getreu dem katholisch-kirchenrechtlich geforderten Versprechen meines Vaters wurde ich in der Konfession meiner Mutter getauft und erzogen. Bei gelegentlichen Besuchen in Kirchen des lutherischen oder gar reformierten Bekenntnisses festigte sich mein kindliches Urteil, daß es mir in „unserer“ Kirche viel besser gefiel. Eine von mir in „unsere“ Kirche mitgenommene reformierte Freundin neigte ebenfalls meiner Meinung zu, kommentierte aber zu meinem Erstaunen gegenüber ihren Eltern den Gastbesuch bei der anderen Konfession folgendermaßen: „Es war so schön wie im Zirkus.“

Am meisten liebte ich die Fronleichnamsprozession, die sich über die beiden Plätze am Osnabrücker Dom bewegte. Von Blasinstrumenten begleitet, erscholl das Lied: „Kommt her, ihr Kreaturen all, die ihr vor Liebe brennt“. Zwar hatte ich an unserm Küchenherd mit dem Brennen andere als Liebeserfahrungen gemacht, aber das Unverstandene hatte seinen Reiz. Ebenso ging es mir bei den Cherubim und Seraphim, die in diesem Lied vorkamen. Ich hütete mich zu fragen, wer das denn sei. Als ich später im Studium Rudolf Ottos „tremendum et fascinosum“ kennenlernte, waren gleich die Cherubim und Seraphim meiner Kindheit wieder präsent, also wohl bei richtiger Gelegenheit. Als ich dagegen die Engellehre des Dionysius Pseudo-Areopagita studierte, blieb ich ganz kalt; offensichtlich war das eine Ernüchterung.

Mit meinen beiden Spielkameraden Friedel und Günter – sie wohnten in unserm Vorderhaus und waren von lutherischer Konfession – gab es viele religiöse Diskussionen. Daß wir nicht etwa „die Maria anbeten“, wie sie mir vorwarfen, davon konnte ich sie im 2. Schuljahr mit Hilfe des kleinen Schulkatechismus überzeugen. Es gab aber auch „ökumenische“ Übereinkunft: „Wie groß ist der liebe Gott?“ – „Größer als unser Vatter“, darin waren sich beide Jungen, ein paar Jahre älter als ich, einig. „Unser Mutter“ war von solchen Vergleichen ausgeklammert, obwohl gerade diese mir wegen ihrer (von mir noch unverstandenen) Schwangerschaft viel Anlaß zum Grübeln gab. In Gedanken stellten Friedel und Günter viele Schränke und Tische übereinander, um Gottes Größe zu ermessen, und ich bemühte mich, den großen Birnbaum auf unserm Hof oder den alten Kastanienbaum auf dem Hegertor gelegentlich dazwischen zu schieben, da mir Bäume „göttlicher“ erschienen als das tote Holz. Aber wir spürten alle drei, was wir nicht ausdrücken konnten, dass wir aus der Immanenz nicht herauskamen. Das ließ uns viele Male unwillig abbrechen, aber wir versuchten es immer wieder. – Als Friedel dann im II. Weltkrieg als HJ-Meldefahrer bei einem Bombenangriff ums Leben kam, war mir der Gedanke, dass er jetzt „alles weiß“, ein kleiner Trost.

Um diese Zeit quälte mich das erste Wahrnehmen von Subjektivität oder ähnlichem. Ich fragte mich, ob ich wohl in meine Mutter reinkriechen, aus ihren Augen schauen und mit ihrem Kopf denken, aber dann wieder in meine beschränkte Größe und Denkkraft zurückkehren könne. Als ich mich wohl von der Unmöglichkeit dieses Identitätswechsels und der Unwiderruflichkeit von Individualität überzeugt hatte, sagte ich zu ihr: „Ich gucke aus meinem Kopf, und Du guckst aus Deinem Kopf.“ Sie darauf, nicht für meine Ohren bestimmt, am Abend zum Vater: „Das Kind ist manchmal etwas überspannt.“

Ein Jahr vor Kriegsbeginn, im Frühjahr 1938, zogen wir nach Dortmund, weil meinem Vater wegen seiner „katholischen Familie“ – auch mein jüngerer Bruder wurde katholisch getauft und erzogen – eine lange verweigerte Beförderung als Zollbeamter endlich doch noch gewährt worden war. Er war im Herbst 1937, nachdem er schon viel früher ohne sein Zutun vom „Stahlhelm“ in die „SA“ überführt worden war, in die Partei eingetreten, aus Karrieregründen. 1943 wurde er noch zur Wehrmacht eingezogen.

Anfang 1943, als der Bombenkrieg gegen das Industriegebiet sich verschärfte, kamen wir in der 4. Klasse der damaligen „Oberschule für Mädchen“, mit unserer Parallelklasse und den Klassen darunter, nach Oberammergau in die Kinderlandverschickung. Unsere Klasse wohnte in der Pension einer überzeugt christlichen Familie, und wir wurden von unseren mitverschickten Lehrerinnen (mit einer Ausnahme) nicht etwa nationalsozialistisch indoktriniert, eigentlich auch nicht von den BDM-Führerinnen, die, nur wenige Jahre älter als wir, am Nachmittag für uns verantwortlich waren. Aber „von oben“ wurde uns der vorher versprochene sonntägliche Kirchenbesuch vereitelt, indem befohlen wurde, dass wir an einer zentralen HJ-Morgenfeier teilzunehmen hätten. Wir gingen zum Pfarrer von Oberammergau, und der legte noch eine Messe ein zu einer uns möglichen Zeit, die dann im Ort „KLV-Messe“ hieß.

Nach Aufenthalten an verschiedenen ländlichen Evakuierungsorten und Tieffliegerbeschuss auf dem weiten Schulweg per Rad und per Bahn im Jahr 1944 kam es am Kriegsende, nachdem unsere Dortmunder Wohnung längst ausgebombt war, in Rhede an der Ems noch zu direkten Fronterfahrungen. Als die Front näherrückte, mussten wir 15-16-jährigen Mädchen die Schützengräben auswerfen und für die Soldaten kochen. Dann wurde die Brücke gesprengt, und die Bewohner wurden in die moorige Gegend von Rhederfeld evakuiert. Die schwere Artillerie beider Seiten schoss über uns hinweg. Der Ort Rhede wurde bei seiner Einnahme durch die Alliierten fast völlig zerstört, auch unsere letzte Habe in der provisorischen Unterkunft.

Die Bauern errichteten Nissenhütten auf der Deele ihrer abgebrannten Höfe. Wir Mädchen mussten die Gräben wieder zuschütten und waren voller Sorge, ob wir wohl demnächst irgendwohin verschleppt würden. Ich praktizierte mein erstes Englisch, um zwischen den Bauern und der Besatzung zu vermitteln.

Im Herbst 1945 kam unser Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurück, völlig abgemagert. Wenige Wochen später traf der Bescheid ein, er sei wegen der Mitgliedschaft bei nationalsozialistischen Organisationen aus dem Beamtendienst entlassen. Unser Konto wurde gesperrt, 300 Mark pro Monat durften abgehoben werden. Es war berechenbar, wie lange das reicht. Mein Vater eröffnete mir, wenn ich bis Frühjahr 1947 das Abitur schaffen würde, könne er mir noch helfen, sonst nicht. Ich hatte Unterricht in den drei Fremdsprachen bei einer Studentin aus dem Dorf, in der Nissenhütte auf der Deele ihres abgebrannten elterlichen Hofes, und nachdem wir ein Lehrbuch aufgetrieben hatten, gelang es meinem Vater auch, meine mathematischen Lücken zu füllen, obwohl er zur landwirtschaftlichen Arbeit „dienstverpflichtet“ war. Ich ging im Frühjahr 1946 frech in die oberste Klasse der Mädchen-Oberschule in Leer/Ostfriesland, wo ich auch vor dem Kriegsende schon war, und kam in der neuen Klasse ganz gut mit. Nur ein Lehrer merkte etwas und wollte mich zurückstufen. Meine Mutter tauschte eine goldene Brosche, ein Andenken von ihrer Mutter, gegen Speck und fuhr am nächsten Morgen nach Leer, um den Lehrer „herumzukriegen“, aber der war inzwischen vom gleichen Schicksal ereilt wie mein Vater. Die Hürde Abitur wurde planmäßig im Frühjahr 1947, nach einem kalten Winter ohne Kohlen, genommen.

Mein Vater war bis dahin sogar schon „entnazifiziert“ und wieder im Beruf, und ich durfte studieren. Nach dem, was ich erlebt hatte – die Ängste im Luftschutzkeller vor dem Verschüttetwerden, der Anblick der gefallenen Soldaten in Rhede, die Zerstörung der alten Straßen mit den schönen Ackerbürgerhäusern in Osnabrück, die ich als Kind so geliebt hatte –, was sollte ich anderes studieren als Theologie und Philosophie? Ich fühlte mich veranlasst, nur noch „sub specie aeternitatis“ zu leben und mich an nichts Vergängliches mehr zu hängen. Also beschloss ich das Studium dieser beiden Fächer, und als gesichertes „Schulfach“ (Konzession an den Vater) noch Germanistik dazu. Ich besuchte alle Vorlesungen und Seminare mit metaphysischen Themen – in der Nachkriegszeit waren es gar nicht wenige – und legte in der Theologie den Schwerpunkt auf die Dogmatik. Im Mai 1952 bestand ich in Münster das Staatsexamen und ging nach München, wo ich zuvor schon ein Semester studiert hatte.

Es war mir nämlich die neue theologische Promotionsordnung der LMU unter die Augen gekommen, in der gegenüber der alten ein Satz fehlte: Es stand nicht mehr darin, der Kandidat müsse bereits die Diakonatsweihe empfangen haben. Mit einer Freundin war ich schon in den Pfingstferien 1951 nach München getrampt, um an meinen späteren Doktorvater, Prof. Michael Schmaus, die Frage zu richten: „Bedeutet das, dass wir auch?“ – „Ja, aber nur, wenn Ihr nicht mit einer durchschnittlichen Arbeit kommt, sonst gibt es sicher Schwierigkeiten.“ Er ließ mich gar nicht ausreden, denn er kannte mich noch aus seinem Seminar im Jahr zuvor, als ich mich schon einmal nach einer solchen Möglichkeit erkundigt und er daraufhin nur gelächelt hatte. Im November 1954 wurden wir zu zweit als Frauen in Theologie promoviert, 10 Jahre früher, als dies an anderen westdeutschen Universitäten möglich war.

Das Promotionsstudium war für mich eine Bekehrung zur Geschichtlichkeit; nicht dass ich das metaphysische Denken, das mir ja im Mittelalter noch reichlich begegnen sollte, beiseite warf, aber ich lernte, besonders durch unsere Lektüren im „Grabmann-Institut zur Erforschung der Philosophie und Theologie des Mittelalters“, die der Frühscholastik, der Mystiktheorie (Richard von St. Viktor) und der Franziskanertheologie gewidmet waren, in Spannung dazu auch das heilsgeschichtliche Denken kennen sowie die allmähliche Entwicklung, die zu christlichen Dogmen geführt hatte, über deren Vorformen zu reflektieren, ich bis heute als sehr sinnvoll empfinde. Mit seinem großen theologiegeschichtlichen Wissen brachte Schmaus uns bei, Begriffe in ihrer Gewordenheit und Wandelbarkeit zu rezipieren, auch in ihrem verschiedenen Gebrauch bei unterschiedlichen Schulen. Er sprach von der Notwendigkeit des Übersetzens von einem veralteten Weltbild in ein neues. Ich entdeckte aber auch bei der Vorbereitung meiner Doktorarbeit, wie viele mittelalterliche Schriftstellerinnen, die entweder als Mystikerinnen oder als Dichterinnen klassifiziert wurden, sich theologisch kompetent geäußert hatten, und bezog sie in meine Dissertation ein.

Genau ein Jahr nach meiner Promotion saßen wir, nun als junge Familie, im Flugzeug nach Tokyo, wo zur ersten noch eine zweite Tochter hinzukam. Helfende Hände, so dass ich beruflich tätig sein konnte, gab es damals noch genug. Beide arbeiteten wir an der Sophia-Universität in der Deutschen Abteilung, und ich zusätzlich an einer Frauenuniversität, wo ich, neben dem obligaten Sprachunterricht, in englischer Sprache Vorlesungen über „Mediaeval Philosophy“ und „Modern Christian Philosophy“ halten konnte. Hier lag mein Schwerpunkt. Dass ich dafür nur mit meinem deutschen Schulenglisch ausgerüstet war, möchte ich nicht als Hürde bezeichnen. Zwar brauchte ich viel Vorbereitungszeit, um englischsprachige Sekundärliteratur zu lesen, die mir das notwendige Vokabular verschaffte, aber es ging mir einigermaßen leicht von der Zunge. Viele Studentinnen im damaligen International College verstanden mich sogar besser als ihre amerikanischen Dozentinnen, kein Wunder, da ich als non-native speaker sehr langsam sprach.

In dieser Zeit begann ich, mich mit dem Buddhismus zu befassen und die figürliche Kunst dieser Religion in den japanischen Tempeln wertzuschätzen. Ich fand auch noch Zeit, meine Habilitationsschrift über eine franziskanische Summa Theologica weiterzubringen, mit der ich in dem Jahr nach der Promotion in München schon angefangen hatte. Im Sommer 1960 kehrten wir nach München zurück; denn ich brauchte zur Vollendung der Arbeit die hiesigen Bibliotheken. In dieser Zeit war ich wissenschaftliche Mitarbeiterin am Grabmann-Institut und nahm auch weiterhin an den Seminarübungen teil. Mein Wissen über die Vielfältigkeit und das divergierende Denken in den verschiedenen Schulen vertiefte sich und bewahrte mich zeitlebens davor, „die Scholastik“ – etwa in ihrem Frauenbild – über einen Kamm zu scheren.

Im Herbst 1962 gab ich bei Professor Schmaus meine Habilitationsschrift ab, und das Verfahren wurde eröffnet. Aber bald schon erhob sich Einspruch von bischöflicher Seite und wohl auch innerhalb der Fakultät; und das, obwohl Schmaus in Rom, im Aufwind der ersten Sitzungsperiode des II. Vatikanums, versucht hatte, allerwärts „gut’ Wetter“ für die „Laienhabilitation“ (Habilitation von Nichtpriestern) zu machen. Ich wurde zu Kardinal Döpfner gerufen, der mir erklärte, dass der Abbruch meines Habilitationsverfahrens keineswegs an meiner Leistung liege, sondern daran, dass „wir Bischöfe ja noch nicht wissen, was wir mit habilitierten Laien in der Theologie anfangen sollen“. Er dachte dabei an die damals noch ganz in den Händen von Geistlichen als Theologieprofessoren liegende Priesterausbildung. Nun, für männliche Laientheologen löste sich dieses Problem viel früher als für weibliche. Die theologische Habilitationshürde konnte ich nicht nehmen.

Ich ging mit den Kindern zurück nach Tokyo und übernahm 1967 an meiner Frauenuniversität die Leitung der Sektion „Humanities in English“. 1968 wurde ich zur Kyôju (full professor) befördert. Nach US-amerikanischem Vorbild waren die „Humanities“ eine kleine Abteilung, in der ein Überblick der Geisteswissenschaften, mit einem „Spritzer“ von Sozialwissenschaften, angeboten wurde. Dazu gehörte auch ein zweijähriger Kurs „Great Books of World Literature“, den zu organisieren mir viel Spaß machte. Die deutsche Philosophie- und Literaturgeschichte überblickshaft zu vermitteln, übernahm ich selbst, eine Kollegin aus der Abteilung für Englische Literatur das entsprechende Englische, ein Jesuit der Sophia-Universität, der Romanist war, gab eine Einführung in die spanische, italienische und französische Literatur, und eine russische Literaturwissenschaftlerin, die mir die damalige Sowjet-Botschaft vermittelt hatte, deckte ihren Bereich ab. Ich selbst lernte viel bei diesen Vorlesungen und dachte mehr als einmal, daß uns ein solcher Überblick in Form eines Studium generale in Deutschland doch eigentlich auch sehr nützlich wäre.

Das waren sieben relativ glücklich verlaufende und Berufsfreude erweckende Jahre, die auch durch die bunt gemischte Studentinnenschaft viel Anregung gaben. Neben den Japanerinnen studierten damals dort auch Koreanerinnen, Hongkong-Chinesinnen, Philippinerinnen, Thailänderinnen, einige wenige Amerikanerinnen aus Nord und Süd. Eine Wochenstunde gab ich aber damals schon auf Japanisch, weil ich eine solche Zukunft auf mich zukommen sah.

1974 war es dann so weit. Die Zahl der ausländischen Studentinnen nahm ab, und die Sektion „Humanities in English“ wurde aufgelöst. Ich hatte nur die Frühjahrsferien, um mich auf eine Lehrtätigkeit nur noch in japanischer Sprache umzustellen; ohne systematisches Sprachstudium eine ganz gewaltige Hürde. Nächtelang saß ich an der Vorbereitung, wobei ich die Hilfe einer bei uns wohnenden Studentin in Anspruch nehmen musste. Es war eine harte Zeit.

Aber hätte ich es nicht geschafft, wäre meine Professur nicht zu halten gewesen. Ich wurde in die Abteilung für „Westliche Philosophie“ übernommen, wo es auch eine Sektion für Christliche Studien gab, die ich später leitete. Hier konnte ich sogar Griechisch und Theologie des Neuen Testamentes lehren, daneben fiel mir aber auch die Philosophie der europäischen Antike zu. Glücklicherweise hatten wir einen japanischen Spezialisten für Kant, so dass es mir erspart blieb, mir das dafür notwendige (und z. T. im 19. Jahrhundert für die Rezeption des Deutschen Idealismus erst geschaffene) japanische Begriffswerkzeug anzueignen. Die Zusammenarbeit unter den Philosophiedozierenden gestaltete sich sehr hilfreich. Ich konnte und kann ihnen bei ihren zahlreichen Übersetzungsprojekten helfen und sie mir bei meinen Schwierigkeiten mit dem Japanischen.

1977 war freundlicherweise Prof. Eugen Biser bereit, meine bis dahin veröffentlichten mediävistischen Monographien (darunter auch die einstige „verhinderte“ Habilitationsschrift) zu begutachten, um mir eine kumulative Habilitation zu ermöglichen. Das Colloquium, das mir in der Theologischen Fakultät erspart geblieben wäre, musste ich aber ablegen und zu diesem Zweck drei Themen einreichen, bevor ich nach den Frühjahrsferien wieder nach Tokyo flog. In Moskau – die Aeroflot war die einzige für mich erschwingliche Luftlinie – musste man damals noch auf einen Fragebogen die Titel aller Bücher und Zeitschriften eintragen, die man mit sich führte. Ich hatte aber nichts als Bücher und Kopien zur Vorbereitung meiner drei Themen im Gepäck und hätte viele Fragebogen gebraucht, ganz abgesehen davon, dass die Zeit nicht reichte. Ich wagte es, ein leeres Blatt abzugeben. Ich hatte Glück, bei mir gab es keine Stichprobe. Auf dem Rückweg ging es ebenso, allerdings mit viel Herzklopfen, aus Furcht, dass mir etwas Notwendiges abgenommen werden könnte. 1978 hatte ich auf dem Weg nach Tokyo wieder das Material für drei Themen dabei, diesmal für die Habil-Vorlesung; aber ich erfuhr noch vor dem Abflug nach München, welches dieser Themen genommen wurde, und konnte mein Gepäck reduzieren. Die Habilitationshürde war also endlich genommen, wenngleich nicht im ursprünglich angestrebten Fach, aber doch zur großen Freude, auch von Professor Schmaus.

Zwar hat mir die Habilitation keinen Erfolg bei meinen Bewerbungen beschert, aber gelohnt hat sie sich doch noch. Zunächst einmal war ich recht enttäuscht und verzweifelt, wenn der japanische Postbote mir immer wieder die aus Deutschland zurückgesandten Bewerbungspapiere brachte. Denn das hebt nicht gerade das Selbstbewusstsein. Da aber in Japan schon viel früher als in Deutschland aus den USA die „Women Studies“ bekannt und an japanischen Universitäten eingeführt wurden, hatte ich Gelegenheit, meine bereits zu meiner Promotionszeit begonnenen Studien der Frauentexte aus Mittelalter und Früher Neuzeit wieder aufzugreifen und für die Vorlesung zu verwenden. In meiner Situation des beständigen Abgelehntwerdens gaben mir die alten Texte sogar Trost und Mut. Die in der Mitte des 17. Jahrhunderts für wissenschaftliche Bildung von Frauen streitende Anna Maria van Schurman etwa stellte traurig fest, dass alles weibliche Wirken, kaum hervorgebracht, schon wieder im Dunkel des Vergessens verschwinde und „von den Spuren unseres Namens nicht mehr erscheint als von den Spuren eines Schiffes im Meer“. Aber ich lernte auch, dass diese „Vorschwestern“ ihre Resignation überwinden konnten und im Rahmen des ihnen Möglichen weitermachten. Sie unterwanderten gängige Lehren und korrigierten, schon im Mittelalter und erst recht in der Renaissance, als sie männlichen Beistand erhielten, was ihnen an den androzentrischen Konzepten missfiel. Ab 1984 erschienen in München die Bände meiner Reihe „Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung“.

1986 wurden mir zum ersten Mal, nach vier Jahrzehnten akademischen Lehrens in fremden Sprachen, an den Universitäten Münster und München Lehraufträge angeboten, die ich wegen der verschiedenen Semesterzeiten japanischer und deutscher Universitäten auch annehmen konnte. In der Muttersprache zu unterrichten, so lernte ich schnell, kostet nur die Hälfte der Vorbereitungszeit. Gastprofessuren in Österreich und in der Schweiz kamen hinzu. Dass die Lehraufträge in München in Gang kamen und zur Dauereinrichtung wurden, verdanke ich der Fachschaftsvertretung Philosophie der LMU und nicht weniger Professor Beierwaltes. 1990 wurde eine außerplanmäßige Professur daraus, was ohne die späte Habilitation nicht möglich gewesen wäre. Das bedeutete allerdings, daß ich die volle Professur in Tokyo vorzeitig aufgeben musste. Aber man ernannte mich dort zur Ehrenprofessorin, so dass mir einige Funktionen geblieben sind, ebenso wie meine Vortrags- und Veröffentlichungstätigkeit in Japan. Mein jetziges Leben mit viermaligem Kontinentwechsel pro Jahr gefällt mir sehr gut. Nach soviel Pflichtveranstaltungen in meinem Leben nehme ich mir jetzt die Freiheit, nur das anzubieten, was mich im Hinblick auf meine eigene Forschung weiterbringt.

Daß wir in unseren Seminaren vorwiegend Frauen sind, liegt nicht an mir. Ich freue mich über jeden Studenten, der sich für die Denkgeschichte von Frauen und ihre Auseinandersetzung mit den philosophischen Themen ihrer Zeit oder auch der Vergangenheit interessiert. Nur bei den Seminaren über Hannah Arendt und Rosa Luxemburg gab es bisher eine größere männliche Beteiligung von etwa einem Drittel. In den ersten Jahren meiner Tätigkeit in München verhielten sich die wenigen Studenten in unseren Seminaren ähnlich wie wir Studentinnen um 1950 in philosophischen oder theologischen Seminaren, nämlich nahezu schweigend. Das hat sich inzwischen geändert, auch wenn es nur einer ist, der bis zum Semesterende durchhält.

Weibliche Stimmen aus dem Seminar äußern sich dahingehend, daß es für sie wichtig ist zu wissen, dass – quer durch Geschichte und Geographie – Frauen sich durch die veröffentlichte männliche Meinung über ihr Geschlecht diskriminiert fühlten, aber nicht geschwiegen haben. Den in der Überzahl befindlichen Seminarteilnehmerinnen fällt es leichter, ihre Gedanken auszutauschen und die Übereinstimmungen im Denken und Fühlen festzustellen, wenn sie sich nicht gegen eine „männliche Übermacht“ durchzusetzen gezwungen sind. Dennoch wäre mir ein gesundes Gleichgewicht am liebsten; besteht doch gerade auf männlicher Seite noch ein großer Aufholbedarf.

Schlemm – Fortschritt als Fehlschritt?

Annette Schlemm

Fortschritt als Fehlschritt?

Pb., 203 Seiten, 15.- €

Stuttgart 2025 (Schmetterling-Verlag)

von Konrad Lotter

Wer gegenwärtig von „Fortschritt“ redet, assoziiert damit oftmals eine Bewegung hin zum Schlechteren: die beängstigende Auflösung demokratischer Prinzipien zugunsten autokratischer Willkür, die zunehmende Unverbindlichkeit des (Völker)-Rechts, die wachsende Überschuldung der Staaten bei massiver Aufrüstung und Militarisierung des Lebens, die ungebremste Veränderung des Klimas etc. „Fortschritt“ wird als als Gefahr empfunden, als Niedergang und Auflösung, der man sich mit aller Kraft entgegenstellen sollte.

Ganz anders der Blickwinkel von Annette Schlemm, Physikerin und Philosophin, die noch in der DDR aufgewachsen ist und, ihrer real-sozialistischen Erziehung entsprechend, „Fortschritt“ mit Hoffnung und der Vision einer besseren Welt verbunden hat. Von dieser Erziehung hat sie sich allerdings längst emanzipiert und, wie sie schreibt, ihr „früheres Weltbild dekonstruiert“. Was bei aller Dekonstruktion dieses (staatlich vereinnahmten) Konzepts allerdings überlebt hat, ist die Faszination, die von den verschiedenen Idealvorstellungen ausgeht, auf die sich der Fortschritt zubewegen soll: die Vorstellungen einer Welt ohne Knechtschaft und Elend, ohne Krieg, Unrecht und Entfremdung. Zugleich mit diesen Hoffnungen behält Annette Schlemm aber auch die Schranken dieser Idealvorstellungen im Auge. Auf der einen Seite analysiert und vergleicht sie die Strukturelemente, die den verschiedenen Fortschrittsbegriffen zugrundeliegen, auf der anderen Seite referiert sie die Diskussionen und Kritiken, die sich an diese Begriffe angeschlossen haben. Aufgrund ihrer großen Belesenheit (die neben philosophischen Texten auch literarische Texte umfasst) und der damit verbundenen weiten Perspektive gelangt Annette Schlemm dabei zu sehr differenzierten Aussagen. Am Ende ihres Buches versucht sie sich an einer „rettenden Kritik“, die den Begriff des Fortschritts bei aller „Kontaminierung“ doch aufheben und als Orientierung für soziale und politische Ereignisse beibehalten möchte.

Grundvoraussetzung dafür, dass überhaupt von Fortschritt gesprochen werden kann, ist ein entsprechendes „Zeitregime“, das von ökonomischen und kulturellen Bedingungen abhängt. Solange Zeit als stehendes Jetzt, als Wiederkehr des Gleichen oder als ein dem Wechsel der Jahreszeiten entsprechender Kreislauf erfahren wird, kann sich keine Vorstellung von Fortschritt ausbilden. Dazu bedarf es eines Zieles, wie etwa die Wiederkehr Christi und der Beginn des Tausendjährigen Reiches, auf das sich nach christlicher Auffassung die Geschichte in linearer Bewegung zubewegt. Während der Aufklärung verbreiteten sich dagegen säkulare Zielvorstellungen: die Überwindung des Naturzustandes durch den Gesellschaftsvertrag (Hobbes), der „ewige Frieden“ (Kant), das allgemeine „Bewusstsein der Freiheit“ (Hegel), die Aufhebung des bürgerlichen Privateigentums (Marx), die Emanzipation der Frau (Göttner-Abendroth) oder der Frieden mit der Natur. Ein wesentlicher Unterschied ist dabei, ob das Ziel positiv, als Annäherung an das angestrebte Ziel, formuliert wird, oder negativ, als fortschreitende Entfernung von einem bedrückenden Zustand, so wie Marx und Engels etwa den Kommunismus als „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen [schlechten] Zustand aufhebt“ definierten.

Grundlegende Differenzen zwischen den verschiedenen Fortschrittskonzeptionen bestehen auch hinsichtlich der Frage, auf welche Weise der Fortschritt zustandekommt: als bewusster Akt handelnder Menschen (wie etwa bei der Verkündigung der Menschenrechte), als „Naturgesetz“ bzw. die Vorsehung eines weisen Schöpfers (wodurch das „ungesellige Wesen“ des Menschen die Vervollkommnung der Menschheit vorantreibt), als „List der Vernunft“ (die sich als Resultante widersprechender Handlungen und Zielsetzungen hinter dem Rücken der Menschen durchsetzt) oder als Zwang (wie beim Fortschritt der Technik, der sich aus der Konkurrenz der Kapitalisten bei Strafe des Untergangs ergibt). Einen wichtigen Autor mit seinem unter heutigen Verhältnissen skurril anmutenen Gottvertrauen hat sich Annette Schlemm bei der Diskussion dieses Themas allerdings entgehen lassen. Für Alexis de Tocequille ist der unausweichliche Fortschritt zur Demokratie durch göttlichen Willen gewährleistet, der sich der Menschen als „blinder Werkzeuge“ bedient. Zu diesen Werkzeugen gehören, wie er schreibt, nicht nur diejenigen, die sich für die Demokratie einsetzen, sondern (und ganz besonders) auch diejenigen, die sie bekämpfen. Donald Trump wäre, so gesehen, das blinde Werkzeug Gottes für den Fortschritt der Demokratie in Amerika, in der die Politiker dann nicht mehr käuflich sind und ihre Politik nach den Interessen derjenigen ausrichten, die ihren Wahlkampf durch großzügige Spenden finanzieren.

In eigenen Abschnitten behandelt Annette Schlemm die Fortschrittsbegriffe von Marx und Darwin, die bei aller Verschiedenheit das Gemeinsame haben, dass sie den Fortschritt post festum darstellen. Erst nachdem das Ziel (die kapitalistische Produktionsweise bzw. der homo sapiens) erreicht war, wird rückblickend nach den Bedingungen und den Etappen gefragt, über die dieses Ziel fortschreitend tatsächlich erreicht wurde. „In der Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen“, erst vom fortgeschrittenen Stadium einer Entwicklung können die Stadien begriffen werden, die ihm geschichtlich vorausliegen. Der zitierte Satz stammt nicht von Darwin, sondern von Marx.

Ein grundlegendes Problem des „Fortschritts“, das ausführlich zur Sprache gebracht wird, ist die Ungleichzeitigkeit, mit der sich verschiedene Bereiche der Gesellschaft entwickeln (wie etwa die Kunst, die unter zurückgebliebenen ökonomischen Verhältnissen ein Höchstmaß an Vollkommenheit erreicht hat) und, mehr noch, die gegenläufige Entwicklung verschiedener Bereiche, für die sich viele Beispiele anführen lassen. Mit dem Anwachsen des gesellschaftlichen Reichtums etwa wächst auch die Spaltung der Gesellschaft und die Verbreitung relativer Armut; die wachsende Herrschaft über die Natur geht mit der Ohnmacht gegenüber dem fortschreitenden Klimawandel einher. An diese Überlegungen schließt sich reibungslos die Kritik an den verschiedenen Konzepten des „Fortschritts“ an: wenn etwa die ungewollten „Nebenwirkungen“ die gewollten Ziele übersteigen und konterkarieren. Ausführlich referiert Annette Schlemm die Kritik am Fortschritt, die schon von Oswald Spengler oder Ludwig Klages (in reaktionärer Weise mit Richtung auf die Erhaltung des status quo), in reflektierterer Form dagegen von Walter Benjamin (der die unter der Sozialdemokratie verbreitete Annahme, man schwimme „in Strom“ des automatischen Fortschritts, anprangert) oder den Autoren der Dialektik der Aufklärung (die der Entzauberung der Welt das „triumphale Unheil“ der vollends aufgeklärten Welt entgegensetzen) vorgetragen wurde. Schon Ernst Bloch kritisierte den verbreiteten Eurozentrismus der meisten Fortschrittstheorien, als wäre die europäische Zivilisation das Maß und Ziel, auf das sich alle anderen Erdteile und Kulturen zubewegen sollten.

Am Ende ihres lesenswerten Buches widmet sich Annette Schlemm einer „rettenden Kritk“ des Fortschrittsbegriffes, die sie in einer Reihe von Thesen vorträgt. Wer sich grundsätzlich gegen Fortschritt ausspricht, meint offenbar, dass alles so bleiben soll, wie es ist. Manche, wie der Fürst von Salina, meinen allerdings auch, dass sich vieles ändern muss, damit alles beim Alten bleibt. Worauf es beim „Fortschritt“ ankommt, sind die Ziele und die darin zum Ausdruck kommenden Interessen. Ohne solche Zielvorstellungen exitiert keine Orientierung, weder für die Beurteilung von politischen oder sozialen Ereignissen, noch für das eigene Handeln. Auch wenn sich der Begriff des Fortschritts nicht mehr auf die Gesellschaft als ganzer, sondern nur noch auf Teilbereiche bezieht, ist er doch letztlich auf Emanzipation, das heißt auf die Freiheit und deren Verwirklichung gerichtet: auf die Befreiung von Not und Unwissenheit, von Knechtschaft, Krieg, Ausbeutung und Angst.

Dausner – Migration und Hospitalität

René W. Dausner (Hg)

Migration und Hospitalität. Im interdisziplinären Gespräch mit Donatella Di Cesare

br., 224 Seiten, 29,00 Euro

Baden-Baden 2025 (Nomos-Verlag)

von Bernhard Schindlbeck

Es geht hier um ein eminent wichtiges und interessantes Buch, das den Leser, der sich ernsthaft darauf einlässt, wirklich ins Nachdenken bringt. Wichtig ist es schon deshalb, weil es dankenswerterweise deutlich macht, inwiefern seit 2015 die politische, aber auch die akademische Diskussion über Migration von einem extrem verengten und bornierten Standpunkt aus, vorwiegend dem einer allfällig behaupteten „territorialen Souveränität“ einer vermeintlich „autochthonen Bevölkerung“ geführt wird. Ziel des Buches ist, wie Herausgeber René Dausner schreibt, den „innovativen Ansatz der italienischen Philosophin Donatella Di Cesare aufzugreifen und in einem ausführlicheren Kontext zur Geltung zu bringen“ (9). Die Beiträge beziehen sich in unterschiedlicher – zustimmender, kritischer, ergänzender und weiterführender – Weise auf Donatella Di Cesares Buch Philosophie der Migration (deutsch 2024), dessen aussagekräftiger Originaltitel Stranieri residenti. Una filosofia della migrazioni im Deutschen nicht hinreichend zur Geltung kommt; denn, so Dausner, die „zentrale Figur des Buches ist der ansässige Fremde“ (10). Es geht also um den Umgang mit Fremden, Fremdheit und Alterität, um Grenzen bzw. Ausgrenzung, Territorien, Wanderung, Gastfreundschaft, gemeinsames Wohnen, Recht und Rechtlosigkeit.

Nach der Einleitung des Herausgebers folgt zunächst Di Cesares eigener Beitrag Wer sind die Migranten? Versuch einer Phänomenologie, bevor in zehn Aufsätzen aus mehreren Perspektiven verschiedene Interpretationen, Einwände, Bezüge zu anderen philosophischen Ansätzen (vor allem zu Derrida und Levinas) und zu historischen Vorgängen und Entwicklungen entfaltet und diskutiert werden. Den Schluss bildet eine Replik Di Cesares auf die kritischen Anmerkungen und auf Darstellungen, in denen sie sich nicht richtig verstanden sieht.

Johann Szews (Magdeburg) nimmt im Ausgang von Carl Schmitts Demokratie-Verständnis („Zur Demokratie gehört also erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“) das in den meisten politischen Migrationskonzepten heute vorherrschende Phantasma der Homogenität der in den staatlichen Grenzen lebenden Bevölkerung in den Blick und zeigt, inwiefern die Vorstellung der Homogenität der Bevölkerung eine von (nicht nur rechtsextremen) Politikern gern und gezielt bediente Vorstellung ist, um die „Identität eines Volkes“ zu konstruieren, „bevor soziale Unterschiede ins Spiel kommen können“ (93). Die behauptete Homogenität einer angeblichen autochthonen Bevölkerung hat selbstredend einen ideologisch-integrierenden Zweck, der zu der Exklusionsdynamik führt, die gegenwärtig zu beobachten ist. „Weil die Volksgemeinschaft auf Bestätigung gegenüber der Realität angewiesen ist, sich immer wieder neu gegen die letztendliche Unbestimmtheit der Grenzen des Volkes bestimmen muss, werden ständig ‚Gemeinschaftsfremde‘ markiert und ausgegrenzt“ (94). Dagegen formuliert Di Cesare „eine migrationsphilosophische Intervention, die jedem Phantasma der Homogenität widerspricht und stattdessen die Position irreduzibler Heterogenität und Fremdheit einnimmt. Es geht ihr um eine Umkehrung der Perspektive: Die Philosophie sollte aus der Perspektive der Migrant:innen denken, und nicht den Blick der Volksgemeinschaft oder der staatlichen Souveränität übernehmen“ (98 f.).

Eine wichtige Klarheit schaffen Andreas Hetzel und Amanda Malerba (Hildesheim) mit der Feststellung: „Di Cesare sucht nicht [wie so viele andere Publikationen, kann man als Leser gedanklich ergänzen], einfach nach Antworten auf das vermeintliche ‚Problem‘ der Migration oder auf eine vermeintliche ‚Migrationskrise‘. Dieser Begriff, der seit 2015 auch in der akademischen Philosophie verwendet wird, zeichnet die Sesshaftigkeit und das Privileg, über ein Territorium als exklusiven Besitz zu verfügen, von vornherein als Normalform aus. Dafür steht exemplarisch die von der GAP (Gesellschaft für analytische Philosophie) im Jahr 2015 ohne jede Ironie ausgeschriebene Preisfrage ‚Welche und wieviele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?‘ In dieser Frage manifestiert sich ein im Sinne Michel Foucaults ‚gouvernementales‘ oder im Sinne Jacques Rancières ‚polizeiliches‘ Verständnis des Philosophierens als Instanz einer sozialtechnischen Problemlösung bzw. einer Abarbeitung von Kollateralschäden des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses“ (48). In ihrem Beitrag Migration und Kohabitation referieren sie (ausführlicher als einige andere Autoren) Di Cesares Vergleich des Umgangs und Zusammenwohnens mit den Fremden in den antiken Städten Athen, Rom und Jerusalem. Athen war die „erdverbundene“ souveränistische Stadt der Autochthonie, die anderen die Zugehörigkeit strikt verweigerte, während Rom mit seiner Expansionspolitik und dem „Versuch, die Eroberten an das Imperium zu binden“ (52), in seinem offeneren Konzept die Bürgerschaft „ausschließlich juristisch“ definierte und von Geburt, Herkunft und Wohnort löste. Schon Aeneas war ja ein Flüchtling. „Das biblische Jerusalem“ jedoch, „das uns aus der Tora und dem Talmud bekannt ist, erlaubt uns aus Di Cesares Sicht, die Dichotomie von Staatsbürgern und Fremden vollends zu dekonstruieren. Diese Dekonstruktion wird möglich, weil sich Fremdsein und Wohnen in der ‚hebräischen Landschaft‘ nicht trennen lassen. Jerusalem ist vor allem die Stadt des [hebr.] ger, des ansässigen Fremden: Alle, die ‚hier‘ sind, sind ‚nicht von hier‘, so dass die Rede von Fremden ihren Sinn verliert.“ Die Fremdheit bilde damit, wird Di Cesare zitiert, „den Grund und das Fundament von Gemeinschaft“ (53).

Judith Kohlenberger (Wien) fragt ganz direkt: Wem gehört das Land?, um das „Spannungsverhältnis zwischen Universalität und Souveränismus“, in dem der „ansässige Fremde“ sich befindet, auszuloten. „Der universelle Anspruch von Menschenrechten stand von Beginn an den speziellen Rechten, die der Staatsbürgerin zuteilwerden, diametral gegenüber“ (153). Sie verweist auch auf das von Chantal Mouffe konstatierte „demokratische Paradox“, dass die von den politischen Prozessen Ausgeschlossenen als ansässige Fremde dennoch den von den Eingeschlossenen gemachten Gesetzen (z.B. als Steuerzahler) unterworfen sind, ohne auf diese Einfluss nehmen zu können. „Ja mehr noch, sie sehen sich dem rechtlichen Zirkelschluss gegenüber, dass das Volk bestimmt, wer auch perspektivisch zum Volk gehören darf, und zu welchen Bedingungen“ (152). Eine unfreiwillige Bestätigung für diesen territorialen Souveränismus und die Sesshaftigkeit als „Privileg, über ein Territorium als exklusiven Besitz zu verfügen“ (Hetzel/Malerba, 48), liefert etwa Julian Nida-Rümelins Buch Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration (2017), in dem der Autor genau jenen national-territorialen Besitz-Souveränismus vertritt, gegen den Di Cesare sich wendet. Die „Legitimation von Grenzen“ begründet Nida-Rümelin mit der Analogie der eigenen Wohnung, die für alle Fremden, die nicht in der Wohnung leben, eine „legitime Grenze“ darstelle, denn: „Ich kontrolliere als Wohnungseigentümer oder Mieter den Zutritt zu dieser Wohnung und mein Status als Eigentümer oder Mieter gibt mir individuelle Rechte, darunter das Recht, den Zutritt oder den Aufenthalt zu verweigern, auch im Falle, dass die [fremde] Person gute Gründe hat, sich den Zutritt oder den Aufenthalt zu wünschen“. Nida-Rümelin entgeht hier völlig, dass er juridisch vom schon gesetzten Recht aus und völlig zirkulär argumentiert: Ich habe das Recht, weil ich das Recht habe. Der Fremde hat nur einen „Wunsch“, aber eben kein Recht. Nida-Rümelin dehnt ganz einfach die politische Ideologie des Besitzindividualismus auf einen vermeintlichen nationalstaatlichen „Besitz“ aus, um die inhumane Politik der Zurückweisung von Schutzsuchenden zu rechtfertigen. Mit Ethik hat das zwar nichts zu tun, aber genau so funktionieren die propagandistisch-ideologischen Mechanismen des gegenwärtigen Migrationsdiskurses, der dann die Floskel von der „illegalen Migration“ erfolgreich verbreitet.

Das in Di Cesares Phänomenologie so wichtige „Zusammenwohnen“, das Margit Eckolt (Osnabrück) ins Zentrum ihres Beitrags stellt, würden Nida-Rümelin und die politische Kaste, die er so gerne berät, gar nicht verstehen. „Gerade den Fremden – und hier knüpft Di Cesare an Emmanuel Levinas und Jacques Derrida an – kommt im Blick auf die Frage nach dem Wohnen besondere Bedeutung zu“ (165). Denn der Fremde „erschüttert“ das Wohnen, er „entäußert und entwurzelt“, er „entkoppelt“ von Eigentum, Zugehörigkeit und vom Haben, „und steht für eine Gestalt von Existenz, die mit einem ‚transitorischen Aufenthalt‘ verbunden ist, und so wird diese Gestalt zur ontologischen Grundfigur einer Philosophie der Migration“ (165). Zustimmend zu einem ius migrandi als Menschenrecht zitiert Eckholt ausführlich: „Der Horizont einer Gemeinschaft, der sich von der Nation, der Geburt und der Abstammung losgesagt hat und sich der im Namen des Blutes begangenen Verbrechen sowie der im Namen des Bodens geführten Kriege erinnert, die sich des Exils bewusst ist, die offen ist für Gastfreundlichkeit, die sich in die Lage versetzt, politischen Formen stattzugebnen, in denen das Immune dem Kommunen und Gemeinsamen den Vortritt lässt“ (163). Ekholt betont Di Cesares Anliegen, „die Gastfreundschaft auf [der] Ebene des Rechts zu verankern, und zwar nicht nur wie bei Immanuel Kant als ein ‚Besuchsrecht‘, sondern als ein ‚Wohnrecht‘“ (167).

Annabel Herzog (Jerusalem) kontrastiert Di Cesares Ansatz mit der von dem jüdischen Talmudisten und Religionsphilosophen Daniel Boyarin vorgeschlagenen „No-State Solution“ für Palästina; er hält als orthodoxer Jude die Diaspora für die eigentliche (oder soll man sagen „richtige“) Heimat der Juden, die somit keinen Staat im traditionellen Sinn brauchen. „Für Boyarin hat das Judentum nichts mit der Staatsbürgerschaft zu tun, und daher kann ein Jude Bürger eines jeden Landes sein. Gleichzeitig kann ein Jude nur im Talmud (einer Synekdoche für die jüdische Kultur) national zu Hause sein, der als ‚reisende Heimat‘ dient“ (81). Kritisch vermerkt Herzog die „Tatsache, dass weder Di Cesare noch Boyarin in ihren Büchern politische Leitlinien anbieten“ und „keine konkreten politischen Pläne oder Institutionen vorschlagen“ (85). Denn „das grundlegende Problem der staatszentrierten Souveränität“ und der „Starrheit der Grenzen“ bleibe ungelöst (87). Zur „Sicherung des Wohlergehens der Migrant:innen“ seien Strukturen erforderlich. Wie kann, fragt sie, „unterdrückten Menschen geholfen werden, wenn es keine Strukturen zur Bekämpfung von Herrschaft und Unterdrückung gibt? Zweifellos erhalten die Unterdrückten der Welt derzeit keine angemessene Hilfe, aber würden sie ohne demokratische Souveränität überhaupt Hilfe erhalten?“ (ebd.)

Jürgen Manemann (Hannover) rückt den ethischen Anarchismus Di Cesares in den Vordergrund. Seiner Feststellung: „Migrant:innen besitzen ein Wissen davon, dass die Ordnungen des Zusammenlebens in gewisser Weise einen künstlichen Charakter haben, mithin auch ganz anders aussehen könnten“ (62), liegt eine bedeutende (wenn auch weitgehend ignorierte) politische Einsicht hinsichtlich der Kontingenz des jeweils Bestehenden zugrunde. Di Cesares ethischer Anarchismus beinhaltet mit seinem „Potenzial von produktiven Destabilisierungen“ in seiner Konsequenz, „auch Praktiken einer ‚anarchischen Revolte‘ aufzuspüren, durch die die staatszentrierte Ordnung auf Neues hin aufgebrochen wird“ (65). Als Fazit mündet dieser Beitrag in einer Aufgabe für die Philosophie: „Di Cesare gelingt es, die Notwendigkeit eines ethischen Anarchismus dadurch auszuweisen, dass sie sich den einhegenden Mechanismen exophober Solutionismen entzieht und so das Potenzial von Philosophie als Problemlösungsverweigerungspraxis freilegt. Ein solcher Anti-Solitionismus, der gegen eine Nekropolitik in Stellung gebracht wird, dispensiert die Philosophie allerdings nicht davon, Menschen zu helfen, eine Haltung auszubilden, die eine Praxis lebbar macht, die dem Anspruch eines ethischen Anarchismus entspringt – eine Leerstelle in der ‚Philosophie der Migration‘. Eine Philosophie der Migration hätte deshalb die Aufgabe, auch die lebenspraktische Dimension von Philosophie herauszuarbeiten, um Menschen darin zu empowern, Fähigkeiten zu erwerben, um sich aktiv in das Zusammenleben einzubringen“ (65).

Eine interessante und wohl die radikalste Kritik an die Di Cesare trägt Carsten Lotz (Mannheim) bei. Unter dem Titel Die gescheiterte Migration nimmt er einen Satz aus Di Cesares Nachwort zur deutschen Ausgabe zu seinem Ausgangpunkt: „Als letzte Version des zeitgenössischen Elends, die sogar über die wirtschaftliche Erniedrigung hinausgeht, stellt der Migrant in seiner unrechtmäßigen Nacktheit das Gespenst des Gastes dar, den seiner Sakralität und seines epischen Anderswo entkleideten Fremden.“ In fünf kurzen Abschnitten unterzieht er die Begriffe „Letzte Version des zeitgenössischen Elendes“, „Unrechtmäßige Nacktheit“, „Das Gespenst des Gastes“, „Sakralität und episches Anderswo“ und „Der entkleidete Fremde“ einer so radikalen wie minutiösen Kritik, um zu zeigen, inwiefern Di Cesare „die Begrifflichkeiten einer Philosophie der Sesshaftigkeit und der Identität“ letztlich doch nicht los wird (103). „Ein ius migrandi,“ so Lotz, „kann es nicht als solches geben, weil sich ein Recht auf ein Mitglied einer Gesellschaft bezieht und der Migrant an der Grenze jener Gesellschaft steht“ (108). Er beharrt also darauf, dass die von Kant im „Dritten Definitivartikel zum ewigen Frieden“ formulierte Hospitalität „kein Recht sui generis“ sei, nur ein Besuchsrecht und kein Bleiberecht. „Der Gast kann auch wieder weggeschickt werden, denn das Recht der Hospitalität ist beides: ein Recht des Gastes und ein Recht des Wirtes, eine Pflicht des Gastes und eine Pflicht des Wirtes“ (109). Auch die allgemeine Hospitalität brauche „einen Gastgeber, der sich in seiner Verantwortung für den Gast als solcher erweist. Wenn wir alle nur noch migrieren, gibt es weder Gäste noch Gastgeber. Wenn es nur noch andere gibt und keine Hierarchie mehr, gibt es keine Gerechtigkeit mehr“ (114). Di Cesares „radikaler Pluralismus“ lasse „das Fremde nicht mehr erkennbar werden“ (ebd.). Er fragt, ob aus dem von ihr propagierten ius migrandi nicht „ein ius considendi“ werde, ein „Recht, sich niederzulassen, ein Recht zu siedeln, wie es von den Philosophen der Kolonialzeit auch geprägt wurde“ (111). Zweifelhaft an dieser Kritik ist, weshalb Hierarchie eine Bedingung für Gerechtigkeit sein sollte; ebenso die gedankliche Verbindung von Migration und Besiedlung, wie man sie aus dem Kolonialismus kennt, die durch die assoziativen Vorstellungen von Siedeln, Niederlassung und Landnahme zustande kommt. Genau gegen diese falsche Gleichsetzung von Migranten und Siedlern erhebt Di Cesare in ihrer Replik am Ende des Buches Einspruch, denn die Gleichsetzung fällt zurück in die falsche dichotomische Fixierung auf die Autochthonen und die Fremden.

In seinem Beitrag Ende oder Endlichkeit der Gastfreundschaft kritisiert Stefan Gaßmann (Münster) Di Cesares Lévinas-Interpretation, in der er den „Vorwurf an Lévinas“ entdeckt, „dass dessen Denken dazu führe, Gastfreundschaft als ‚außerpolitische, ethische Instanz‘ zu verstehen“. In einer subjektphilosophischen Wendung denke Lévinas (laut Di Cesare) lediglich die ‚Geste des Empfangs‘, ohne aber eine ‚Philosophie der Aufnahme‘ zu entwickeln, die „der konkreten Aufnahme des Anderen Rechnung“ tragen würde. „Die Antwort auf die Infragestellung durch den Anderen bliebe damit in Lévinas‘ Philosophie gleichsam aus, weil die ethische Verantwortung für den unendlichen, unbedingten Anspruch des Anderen, in der endlichen Politik nicht rein gewahrt bleiben könne und Gastfreundschaft als reale Aufnahme daher nicht rechtlich institutionalisierbar sei“ (118). Sie verbleibe also auf einer ethischen Ebene und damit in einer „außerpolitischen Sphäre“. Gaßmann wirft Di Cesare vor, dass „die Konturen dessen, was sie mit Politik im allgemeinen und einem politischen Begriff von Gastfreundschaft im Speziellen meint, reichlich farblos und unspezifisch“ bleiben; denn „abgesehen von einer emphatischen Einforderung der Aufnahme und einer das Zusammenwohnen mit Fremden ermöglichenden Politik, gibt PM (i.e. Philosophie der Migration) wenig Orientierung, welche kritischen Maßstäbe für die konkrete Umsetzung der Aufnahme die Philosophie bereitstellen könnte“ (ebd.). Im Folgenden referiert der Beitrag zentrale Stellen aus Lévinas‘ Hauptwerken Totalität und Unendlichkeit und Jenseits des Seins, um Di Cesares Interpretation zu widerlegen. In ihrer Replik antwortet sie: „Meine Kritik des Souveränismus wäre undenkbar ohne die Reflexion von Lévinas auf das souveräne Ego, das den Anderen eliminiert – bis hin zu Auschwitz. Ich habe nie behauptet, dass das Denken von Lévinas oder das von Derrida unpolitisch wäre“ (207). In seinem letzten Abschnitt aber verfällt Gaßmann selbst dann doch in den sattsam bekannten Politiker-Sound, wenn er etwa die Forderungen nach Integration („keine Abwertung von Andersheit“), Institutionen, Grenzen und Schranken sowie Rechte und Pflichten verteidigt.

Naika Foroutan (Berlin) erörtert die Ambivalenz der Hospitalität in postmigrantischen Gesellschaften und fragt: „Wem gebührt die Gastfreundschaft und wer hat das Recht, sie zu gewähren?“ Ihr Ausgangspunkt sind vor allem Ergebnisse empirischer Forschung. „Die postmigrantische Gesellschaft ist von zurückliegender und aktueller Zuwanderung eines Teils der Bevölkerung geprägt und Migration ist politisch als konstitutiver Bestandteil der Gesellschaftsordnung anerkannt – auch wenn die Einstellungen eines relevanten Teils der Bevölkerung dazu negativ sein mögen“ (131). Im Ausgang von dieser Definition wird die konkrete Spaltung der Gesellschaft „in jene, die mit Pluralität, Hybridität und Ambivalenzen umgehen können, und jene, die sich dadurch verunsichert fühlen oder diese radikal ablehnen“, beschrieben. Auch Migranten der zweiten oder dritten Generation, die sich selber inzwischen zur „ursprünglichen“ Bevölkerung zählen, können ihre vermeinten „Privilegien“ durch Neuankömmlinge bedroht sehen. Mit einer solchen „zunehmenden demographischen und generationalen Heterogenität pluralisieren und hybridisieren“ sich Herkünfte, was „postmigrantische Aushandlungen“ (132), damit aber auch das Versprechen der Gleichheit erschwert, da immer mehr Gruppen das Recht der Gleichheit beanspruchen. „Migration ist dabei zu einer Chiffre geworden, in der die Abwehrphantasien kulminieren“ (139). Wenn die Nachfahren von Migranten selber den Anspruch erheben, „zu entscheiden, wer willkommen ist und wer nicht“, dann wird „die Idee der Hospitalität zunehmend unschärfer“ (148). Foroutans Fazit, dass die Migranten damit „auf eine zukünftige Art des Zusammenwohnens“ zeigen, die (Di Cesares Denken entsprechend) „nicht im Bann der Verwurzelung verbleibt, sondern in der Öffnung einer vom Besitz des Territoriums befreiten Bürgerschaft und einer Gastfreundschaft existiert“ (148), scheint eher ein Wunschdenken als in empirischer Analyse fundiert zu sein.

Regina Polack (Wien) überlegt, in welcher Weise Di Cesares Philosophie mögliche Anschlüsse für die praktische Theologie, d.h. für ihre Arbeit als Pastoraltheologin bereithält. Das vielfältige konkrete historische Versagen des Christentums im Umgang mit Fremden, z.B. eroberten Völkern, nennt sie „Schmerzpunkte für die deutschsprachige Theologie“, die es zu erkennen gilt und zu einer Umkehr nötigen. Einigermaßen seltsam mutet ihre Frage an: „Haben wir das gemeinsame Wohnen auf der Erde verlernt, das Di Cesare so eindringlich beschreibt …?“ Denn die Rückfrage würde lauten: Haben wir (wer immer das ist) es denn jemals gekonnt? In der alltäglichen Arbeit in der christlichen Gemeinde jedenfalls muss die Theologin auch bei nur kleinen Schritten in Richtung der Anerkennung von Migranten-Rechten „auf die Perspektive der Sesshaften Rücksicht nehmen“ (194), um überhaupt Gehör zu finden. „Politisch sind Di Cesares Forderungen derzeit in Europa schlicht und ergreifend nicht realisierbar“ (195).

Isabella Bruckner (Rom) sucht zu Di Cesares Migrationsphilosophie biblisch-christliche Ressourcen europäischer Gastlichkeit, sind doch die Erzählungen im Alten und Neuen Testament voll mit den Themen der Fremdheit, der (Nicht-)Zugehörigkeit, der Wanderung und der Gastlichkeit, und in all ihrer Fülle hilfreiche und notwendige Interpretamente, die implizit deutlich machen, was einer analytisch-philosophischen Auseinandersetzung mit dem Thema und ihrem letztendlich immer utilitaristischen Bezug für ein echtes Verständnis mit der Problematik fehlt. Neben den vielen etymologischen Verweisen werden natürlich die (bekannten oder weniger bekannten) relevanten Textstellen genannt, „Erzählungen des Fluchs, wo die Gastfreundschaft den Fremden verweigert oder sie sogar gewaltsam missbraucht wird“ (178), das christliche Gleichnis vom barmherzigen Samariter, oder der Spruch Gottes als Weltenrichter am Ende der Zeit, der in Matthäus 25,34 die Aufnahme des Fremden als das entscheidende Kriterium für die Trennung der Erlösten von den Verfluchten benennt, was Bruckner aber nicht wörtlich zitiert. („Geht weg von mir ihr Verfluchten, … denn ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen.“) Leser, denen alles Theologische suspekt ist, können diese eschatologische Trennung als Metapher für die Unterscheidung von gelingendem und misslingendem Leben im Diesseits interpretieren. Am wichtigsten in dieser theologisch-phänomenologischen Herangehensweise ist aber wohl, „dass Gott selbst der Fremde/Gast ist“ (177). Zum Beispiel in der Erzählung von Abraham und den drei Fremden. Auch auf die Bedeutung der Gastlichkeit in der von Benedikt von Nursia und seinen Regeln begründeten Gemeinschaft der klösterlichen Lebensform geht Bruckner ausführlich ein.

Der nicht zu übersehende Unterschied zwischen Di Cesares phänomenologischer Philosophie und der analytischen Philosophie (den, wie erwähnt, auch Hetzel und Malerba hervorheben) wird von Di Cesare selbst ausdrücklich thematisiert, nämlich in ihrer entrüsteten Replik auf einen Gedanken Judith Kohlenbergers, die gegen Ende ihres Aufsatzes schreibt: „Di Cesares Konzept des ‚Zusammenwohnens‘ erinnert in seiner gleichzeitigen Schlichtheit wie Radikalität an das Gedankenexperiment des Schweizer Philosophen Andreas Cassee, das wiederum auf den ‚Schleier des Nichtwissens‘ von John Rawls zurückgeht.“ Cassee fragt in seinem Essay Globale Bewegungsfreiheit (2016) so ähnlich wie Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit: „Auf welche Grundsätze für den Umgang mit internationaler Migration würden wir uns einigen, wenn wir nicht wüssten, welche Staatsangehörigkeit wir besitzen, welcher sozialen Schicht wir angehören und welche Vorstellung von einem gelingenden Leben wir verfolgen?“ (159) Wenn man so einen hypothetischen Moment vor der eigenen Geburt imaginiert, kann man eine Antwort geben auf die Fragen, „welche Einwanderungsgesetze, welche Grenzkontrollen (und deren Durchsetzung), welche Form der humanitären Aufnahme (und Höhe der Kontingente), welches internationalisierte Passsystem würden wir uns wünschen?“ (ebd.) Das sog. „Gedankenexperiment“ läuft also schlicht darauf hinaus, sich in einen an einer europäischen Grenze zurückgewiesenen afrikanischen Flüchtling, der gerade dem Ertrinken im Mittelmeer zufällig entronnen ist, hineinzuversetzen. Aber genau diese Empathie wird ja von den europäischen Politikern (und den meisten Bürgern) bekanntlich massiv abgelehnt. Di Cesares Einwand lautet: „Schon aufgrund meines philosophischen Hintergrunds habe ich mich nie des Instrumentariums eines Gedankenexperiments bedient, ein Verfahren, das bekanntlich im Denken analytischer Prägung verbreitet ist und das ich wegen seiner heillosen ethischen Konsequenzen heftig kritisiert habe – sowohl in Philosophie der Migration (gerade mit Bezug auf Rawls) als auch beispielsweise in Folter (2023). Jenseits dieser methodischen Notiz fällt bei diesem Urteil jedoch das grundsätzliche Missverständnis gerade bezüglich eines so heiklen und komplexen Themas in die Augen“ (216). Was die analytischen Moralphilosophen, die sich so gerne auf „unsere Intuitionen“ (z.B. Harry G. Frankfurt: „our moral intuitions“) verlassen, nicht begreifen wollen, ist, dass diese Intuitionen (wie Nida Rümelins Buch Über Grenzen denken unfreiwillig bestätigt) immer schon von den bestehenden (herrschenden) Verhältnissen und jahrhundertealten egoistischen Praktiken geprägt sind, deren Legitimität erst aufzuweisen die Aufgabe der Moralphilosophie wäre; kurzum: dass sie einem von ihnen nicht erkannten Zirkelschluss das Wort reden. (Unsere Intuition: Dass nur ich bestimme, wer außer mir in meiner Wohnung oder meinem Haus wohnen darf, ist doch selbstverständlich. Analog bestimmen wir, wer in unser Land kommen darf. Olaf Scholz: „Wir dürfen uns aussuchen, wer zu uns kommen darf und wer nicht.“) Nicht zuletzt in dieser scharfen Abgrenzung von einem sowohl in philosophischer als auch ethischer Hinsicht desaströsen Denken wird mit dem Buch das von Dausner in der Einleitung gesetzte Ziel erreicht, Di Cesares innovative Philosophie der Migration in einem umfassenderen Kontext darzustellen. Und es wird deutlich, wie notwendig in einer sich immer stärker abschottenden „Festung Europa“ die Auseinandersetzung mit ihr ist.

Carlos Ulises Moulines – „nomen est omen“


Carlos Ulises Moulines (* 1946 in Caracas, Venezuela) studierte in Barcelona Physik, Philosophie und Psychologie und promovierte 1975 in Logik und Wissenschaftstheorie. Von 1993 bis 2012 war er Ordinarius für Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie an der Universität München und Vorsitzender des Instituts. Er ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und war von 1997 bis 2000 Präsident der Gesellschaft für Analytische Philosophie.

Das Angebot des Widerspruch, eine kurze Selbstbiographie für die Rubrik „Münchner Philosophie“ zu schreiben, nehme ich gerne wahr. Es stellt eine willkommene Gelegenheit dar, mir Gedanken darüber zu machen, wieso ich Philosoph, dazu noch „Münchner Philosoph“, geworden bin, und die Ergebnisse all denen mitzuteilen, die erfahren möchten, was zur Fauna der Münchner Philosophie gehört.

Als meine Eltern beschlossen, mir als Vornamen die hispanisierte Version des altgriechischen „Odysseus“ zu geben, ahnten sie wohl nicht, wie sehr sie dadurch meinen Lebenslauf vorbestimmten. Inzwischen bin ich zu der festen Überzeugung gelangt, dass im lateinischen Spruch „nomen est omen“ ein Körnchen Wahrheit steckt – auch wenn Sie, liebe LeserInnen, dies als einen des Philosophen unwürdigen Aberglauben abtun sollten! Das ständige Herumvagabundieren des Helden von Homer habe ich, teils gewollt, teils ungewollt, nach Kräften nachgeahmt, und zwar nicht nur in geographischer, sondern auch in geistiger Hinsicht.

Ich bin in Venezuela geboren, wohin die Wirren des spanischen Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs meine Eltern verschlagen hatten. Sie waren Anhänger der spanischen Republik und mussten aufgrund von Francos Sieg zunächst nach Frankreich fliehen. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen wurden sie als „Fremdarbeiter“ nach Deutschland verschleppt. Abgesehen von den Phosphor-Bomben und von einem (verhältnismäßig kurzen) Aufenthalt meines Vaters in den Kerkern der Gestapo, war ihre Zeit in Nazi-Deutschland nicht so schlimm, wie sie zunächst befürchtet hatten. Als der Krieg zu Ende ging, gelang es ihnen unter abenteuerlichen Umständen, nach Venezuela auszuwandern.

Die deutsche Erfahrung meiner Eltern sollte sich als entscheidend für meine spätere Laufbahn erweisen, und dies aus zweierlei Gründen: Erstens haben sie mir seit frühester Kindheit eingeprägt, dass Deutschland nach wie vor, trotz Hitler & Co., eine grosse Kulturnation sei; und zweitens ließen sie mich öfters, da sie gute Freundschaften in Deutschland geknüpft hatten, die Ferien hier verbringen, wo ich zwar nie systematisch, wohl aber irgendwie funktional mit den Rudimenten der Sprache Brechts und mit der Komplexität der deutschen Seele einigermaßen vertraut wurde.

In Caracas machte mein Vater, der eine Ausbildung als chemischer Ingenieur hatte, eine wissenschaftlich-technische Buchhandlung auf, die sehr erfolgreich wurde. Jeden Tag nach dem Schulunterricht half ich ihm ein bisschen als Mann bzw. Kind für alles, und war notgedrungen konfrontiert mit Titeln der Art von „Partial Differential Equations“, „Thermodynamics of Irreversible Processes“ oder „Dynamics of Viscous Fluids“. Ich hatte zwar nicht die leiseste Ahnung, was sich hinter diesen Bezeichnungen verbergen konnte, doch beeindruckten sie mich sehr und blieben im Unterbewusstsein haften, gekoppelt mit der Mahnung: „Irgendwann musst du mal herausfinden, was dahintersteckt“. Unter den regelmässigen Kunden der Buchhandlung befanden sich viele Dozenten der naturwissenschaftlichen Fakultäten oder der Technischen Hochschule, die oft mit meinem Vater ins Gespräch kamen und Namen wie „Einstein“ oder „Darwin“, bzw. Wörter wie „Quanten“ und „Relativitätstheorie“ fallen ließen. Auch diese geheimnisumwobenen Ausdrücke regten meine Phantasie an.

Die Bücher, die ich zuhause in der umfangreichen, fünfsprachigen Bibliothek vorfand, waren von ganz anderer Art als die der Buchhandlung: vor allem politische Essays, Studien zur neueren Geschichte Lateinamerikas, Spaniens und Europas, viele Klassiker der Weltliteratur – und praktisch alle gesellschaftskritischen Schriften eines gewissen Bertrand Russell. Meine Eltern waren begeisterte Russell-Leser. Ich blätterte ab und zu mal rein, und nahm mir vor, irgendwann später Russells Essays genauer zu lesen. Aber damals zog ich selbstverständlich die Romane von Jules Verne oder die Erzählungen von Edgar Allan Poe bei weitem vor.

Angesichts der zunehmend instabilen Lage in Venezuela schickten mich meine Eltern, als ich kaum 13 Jahre alt war, zum Besuch des Gymnasiums nach Katalonien, zunächst in eine Kleinstadt zu einer Tante, dann nach Barcelona, wo ich das Abitur machte. Das war eine Zeit, an die ich mich heute noch mit Abscheu erinnere. Das Spanien der 60er Jahre litt noch unter einer grässlichen Diktatur. Die Oppositionellen wurden zwar nicht mehr so oft erschossen wie in den 40er und 50er Jahren – das war auch nicht mehr nötig, und zudem übte das Ausland einen gewissen Druck aufs Regime aus –, aber die bleierne, erstickende Atmosphäre war überall zu spüren: In den Polizeirevieren wurde systematisch gefoltert, Telefone wurden abgehört, nicht-gläubige Schüler wurden gezwungen, an der Schulmesse teilzunehmen, der öffentliche Gebrauch der Minderheiten-Sprachen, wie etwa des Katalanischen, war strikt verboten, viele, auch eher harmlose Bücher, wie etwa über Evolutionstheorie oder Sexualkunde, waren einfach nicht zu bekommen, usw. Und vor allem – man musste ständig aufpassen, was man sagte, und vor wem man es sagte.

Diese Erfahrungen waren schlimm, aber auch prägend. Seitdem weiß ich ganz genau, was für einen unermesslichen Wert es bedeutet, in einer echt freiheitlichen Gesellschaft zu leben. Es bedeutet nämlich, dass der Staat uns alle gefälligst in Ruhe lassen sollte, was unsere Meinungen und Überzeugungen anbelangt. Diese an sich banale Selbstverständlichkeit ist nach wie vor alles andere als gesichert. Nicht nur im heutigen, als so dynamisch und demokratisch gepriesenen Spanien gibt es immer noch eine beträchtliche Anzahl von Dummköpfen, die innerlich (oder sogar öffentlich) dem Franco-Regime nachtrauern. Auch in den älteren westlichen Demokratien findet allmählich und heimtückisch ein Rückgang in Richtung Reglementierung der Meinungsvielfalt statt, und zwar nicht nur in George Bushs Reich, sondern auch in Europa. Wir alle, die jüngere Generation aber ganz besonders, sollten auf der Hut sein. Es versteht sich von selbst, dass jeder Einschnitt in die Meinungsfreiheit, so klein er auch erscheinen mag, gerade für die Philosophie, aber nicht nur für sie, tödliches Gift darstellt.

Nach dem Abitur beschloss ich zunächst, mein Studium der Physik an der Universität Barcelona zu beginnen. Die offizielle Motivation war, dass ich wissen wollte, wie die Welt beschaffen ist. Der heimliche Grund aber war, dass ich endlich herausfinden wollte, was sich hinter den geheimnisvollen Titeln in der väterlichen Buchhandlung versteckte. Allerdings hatte ich damals schon auch damit angefangen, zahlreiche philosophische Texte verschiedenster Provenienz zu lesen. Ich hatte drei Lieblingsautoren. Einer war gewiss, schon aus familiären Gründen, Russell, hauptsächlich wegen seiner mathematikphilosophischen und erkenntnistheoretischen Werke, die mich sehr interessierten. Ein zweiter war der Tractatus-Wittgenstein, von dessen Existenz ich durch Russell erfahren hatte. Tag für Tag, Woche für Woche ackerte ich mich zusammen mit einem Freund durch jeden einzelnen Absatz dieses geheimnisvollen Werks durch. Wir verstanden wenig, aber fanden es sehr spannend. Die zwei Grundpfeiler von Wittgensteins Philosophie, die er im Vorwort explizit angibt: „Alles, was sich sagen lässt, lässt sich auch klar sagen“ und „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, empfand ich als absolut richtungsweisend, bedauerte allerdings, dass der Autor selbst offenbar nicht imstande war, sich daran zu halten. Trotz meiner eher kritischen Einstellung gegenüber Wittgensteins Stil des Philosophierens bin ich immer wieder auf Wittgenstein zurückgekommen. Jahre später sollte ich die Philosophischen Untersuchungen und Zettel ins Spanische übertragen.

Der dritte Lieblingsautor jener Zeit – und das wird manch einen, der meine philosophische Laufbahn kennt, überraschen – war Heidegger, insbesondere seine späteren Schriften. Ich war sogar davon überzeugt, dass ich sie verstand. Von Heideggers Zauberkunststücken mit der altgriechischen und der deutschen Sprache war ich regelrecht fasziniert. Während meines Physikstudiums, als ich mich durch die öden Differentialgleichungen gelangweilt fühlte, griff ich immer wieder zu den Holzwegen oder zu Was heisst Denken und bekam dabei das Gefühl, dass sich mir eine magische, erfrischende Welt öffnete. Doch bei der Lektüre von Heideggers Vorlesungen über Metaphysik stieß ich eines Tages auf die berüchtigte Stelle über „die innere Wahrheit der nationalsozialistischen Bewegung“. Es war ein regelrechter Schock. Die darauffolgende Entdeckung von Heideggers Rektoratsrede gab mir den Rest. Die Heidegger-Welle war für mich nun endgültig vorbei.

Heute weiß ich, dass dies ein voreiliger, philosophisch nicht gut fundierter Schluss war. Auch Frege war Antisemit – was jedoch seine logische Konstruktion der natürlichen Zahlen keineswegs falsch oder uninteressant macht. In jener Zeit aber wurde für mich durch diese Erfahrung klar, welche Art von Philosophie ich nicht ernst nehmen wollte; nicht klar dagegen war, welche ich ernst nehmen sollte, und ob ich mich überhaupt mit Philosophie systematisch beschäftigen wollte.

In dieser existenziell problematischen Lage half mir das Physik-Studium selbst zur endgültigen Entscheidung. Ich stand diesem zunehmend kritisch gegenüber. Nicht, weil mich der Stoff nicht interessiert hätte. Vielmehr ging es um die völlig kritiklose, dogmatische Art und Weise, wie er übermittelt wurde. Ich hatte das Gefühl, wie in einer erbarmungslos disziplinierten Armee, nur alles schlucken zu dürfen, was die Dozenten erzählten, und zur Anwendung fauler Tricks gedrillt zu werden, um Gleichungen zu lösen, oder um zu bewirken, dass unsere Laborversuche genau das zeigten, was ohnehin zu erwarten war. Jahre später las ich Thomas Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, insbesondere das, was er als die „normale Wissenschaft“ und das „puzzle-solving“ beschreibt, und ich erinnerte mich: „Tja! Genauso war es bei meinem Physik-Studium!“. Auch demgegenüber bin ich heute klüger geworden und weiss, dass gerade diese brutal-dogmatische Art, den angehenden Physikern die Grundlagen des Fachs einzuhämmern, eine wesentliche Voraussetzung für die unglaubliche Erfolgsstory der Physik ausmacht. Damals sah ich das aber nicht ein. Ein anekdotischer Vorfall brachte dann das Fass endgültig zum Überlaufen. In der Mechanik-Vorlesung erzählte uns der Dozent, dass das sog. Zweite Prinzip Newtons den absolut zentralen Grundsatz der Mechanik darstelle, da es die Definition des Kraftbegriffs beinhalte. Ich hob die Hand und fragte, wieso dieser Satz so fundamental sei, wenn er eine Definition darstellt; denn eine Definition ist nur eine sprachliche Konvention über den Gebrauch eines Terms, die keine neuen Erkenntnisse liefert. Der Dozent zeigte sich durch meinen Einspruch sehr verärgert und erwiderte, wer solche blödsinnigen Fragen stelle, solle gleich zur Philosophie übergehen.

Was ich dann auch tat. Ich begann mein formelles Studium der Philosophie. Das Physik-Studium habe ich allerdings nicht ganz aufgegeben, sondern nur etwas verlangsamt. Ich studierte beide Fächer parallel, um mich u. a. der lästigen Frage um Newtons Zweites Prinzip zu entledigen. Später dann sollte ich erfahren, dass die Frage nach dem logisch-methodologi­schen Status dieses Prinzips in der Tat keineswegs trivial ist, und dass bedeutende Physiker und Wissenschaftstheoretiker sich damit seit Ernst Machs Zeiten herumgeschlagen haben. Ich selber meine inzwischen, eine Lösung dazu gefunden zu haben, die ich in einigen meiner Schriften dargelegt habe.

So bin ich also dank der schroffen Zurechtweisung meines Mechanik-Lehrers zum Philosophen und Wissenschaftstheoretiker geworden.

In der barcelonesischen Fakultät für Philosophie hatte ich das Glück, durch einen frischgebackenen Schüler von Hans Hermes, Jesús Mosterín, eine gute Ausbildung in der modernen Logik und der axiomatischen Mengenlehre zu bekommen, was im damaligen Spanien keineswegs selbstverständlich war. Es war aber nicht so sehr die „reine“ Logik, die mich anspornte, sondern die Möglichkeiten ihrer Anwendungen auf erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Probleme. Nun fiel mir mehr oder wenig zufällig Carnaps Logischer Aufbau der Welt in die Hände. Es war ein Aha-Erlebnis. Hier ist endlich einer, dachte ich, der Russells „Maxime des wissenschaftlichen Philosophierens“ (nämlich intuitive Schlüsse durch logische Konstruktionen, auch im Fall der empirischen Erkenntnis, zu ersetzen) wirklich in die Tat umsetzt. Meine Magisterarbeit widmete ich in der Hauptsache der Analyse und Revision von Carnaps „Konstitutionssystem“. In erweiterter Form erschien meine Untersuchung ein paar Jahre später als Buch. Seitdem hat mich das Interesse an Carnaps hochkomplexem Werk und an den Möglichkeiten, sein Programm irgendwie weiterzuführen, nie ganz verlassen, und nach dem erwähnten Buch habe ich dazu noch einige Aufsätze sowohl ideengeschichtlicher als auch systematischer Art veröffentlicht.

In dieser Zeit bekam ich ein ernstes Problem mit den spanischen Behörden. Bei einer Demonstration gegen das Franco-Regime wurde ich verhaftet. Da ich einen venezolanischen Pass bei mir hatte, wurde ich nicht – wie sonst üblich – verprügelt und eingekerkert, dafür aber des Landes verwiesen. Nun war aber das damalige Spanien zwar ein Polizeistaat, aber kein perfekter: Francos Schergen haben es nämlich versäumt, sowohl der Universitätsverwaltung wie auch ihren Konsulaten in Europa mitzuteilen, dass ich ein unerwünschter Ausländer war. So fuhr ich mal nach Frankreich, mal nach Italien, mal nach England, um mir dort beim Konsulat ein Touristen-Visum für sechs Monate zu besorgen, womit ich wieder nach Barcelona kam, mich für die Kurse einschrieb und weiterstudierte. Ich wurde sozusagen zu einem Untergrund-Studenten. Dieses Katz-und-Maus-Spiel dauerte drei Jahre. Natürlich war es sehr stressig, aber ich habe es doch bis zum Magisterabschluss (für den ich ironischerweise einen Preis bekam) geschafft.

Mir war aber klar, dass dieses Spiel nicht ewig lange dauern konnte, und dass ich in Spanien sowieso keine Chance hatte. Die Rettung kam quasi in letzter Minute durch ein DAAD-Promotionsstipendium, was meine in Ansätzen schon vorhandene Germanophilie erheblich verstärkte. Im Wintersemester 1970/71 „flüchtete“ich nach München, um im damals von Wolfgang Stegmüller geleiteten „Seminar für Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie“ zu promovieren, was vier Jahre später auch geschah. Als ich nach München kam, betrachtete ich mich selber als „Carnapianer“ und dachte, nun käme ich in die Obhut des bedeutendsten Carnapianers Europas. Doch damals war Stegmüller schon in eine – wie er selber später sagte – „tiefe geistige Krise“ geraten. Teilweise durch die Lektüre Kuhns, aber auch aus anderen Überlegungen heraus, sah er nun unüberwindliche Schwierigkeiten in der herkömmlichen Auffassung der Struktur und Funktionsweise der empirischen Wissenschaften. Als Reaktion darauf, und gerade als ich mein Promotionsstudium in München begann, fingen Stegmüller und einige seiner Schüler sich intensiv mit dem neuartigen, vielversprechenden Ansatz von Joseph D. Sneed zu beschäftigen.

Stegmüller leitete damals ein DFG-Projekt zu dieser Thematik, an dem ich als Mitarbeiter mitwirken durfte. In diesem Zusammenhang lernte ich auch Sneed, der als Gastprofessor nach München kam, und Wolfgang Balzer, ebenfalls ein Doktorand Stegmüllers, kennen. Mit ihnen (und mit Stegmüller bis zu seinem frühen Tod) verbindet mich seitdem eine dauerhafte Freundschaft und eine enge, langjährige Zusammenarbeit. Aus dieser Zusammenarbeit entstand die wissenschaftstheoretische Forschungsrichtung, die seit Ende der 70er Jahre als „strukturalistische Wissenschaftskonzeption“ allgemein bekannt wurde, und die später in dem von Balzer, Sneed und mir verfassten Werk An Architectonic for Science kulminieren sollte.

Nach meiner Promotion mit einer Arbeit „Zur logischen Rekonstruktion der Thermodynamik“ wurde ich 1975 Assistent bei Stegmüller. Ich war im Prinzip entschlossen, meine akademische Laufbahn in Deutschland fortzusetzen. Es gab aber schon wieder ein Problem: Die Ausländerbehörde an der Ettstrasse sah nicht ein, dass ein „Dritte-Weltler“, der bloss mit einem Stipendium hierher gekommen war, auf unbestimmte Zeit in Deutschland bleiben durfte. Trotz Stegmüllers ausserordentlich freundlichem Einsatz (er hat sogar den damaligen Rektor Professor Lobkowicz dazu bewegt, ein Wort für mich einzulegen) wurden die Beamten an der Ettstrasse nicht einsichtiger, und ich musste jederzeit damit rechnen, manu militari zum Flughafen gebracht zu werden. Irgendwie kam mir die Situation bekannt vor. Doch auch diesmal kam die Rettung in letzter Sekunde. Aufgrund ziemlich zufälliger Kontakte erhielt ich das Angebot einer Dauerstelle am „Institut für philosophische Forschung“ der Nationalen Universität Mexikos, eines Landes, das ich überhaupt nicht kannte, das mir aber eine gute Zuflucht anbot. Also habe ich die Koffer gepackt.

Die Arbeitsbedingungen in Mexiko erwiesen sich als optimal. Ich musste nur zwei Stunden wöchentlich unterrichten, und den Rest konnte ich voll der Forschung widmen, zudem mit guten Publikationsmöglichkeiten. Im mexikanischen Institut habe ich natürlich meine Arbeiten innerhalb des strukturalistischen Ansatzes weitergeführt, mich aber auch zunehmend mit allgemein erkenntnistheoretischen, ontologischen und wissenschaftshistorischen Themen befasst. (In München hatte ich schon Wissenschaftsgeschichte als Nebenfach im Institut am Deutschen Museum studiert.) Seitdem sind auch sie Schwerpunkte meiner Forschung geblieben.

Während meiner mexikanischen Zeit bekam ich von der „University of California at Santa Cruz“ für ein Jahr eine Einladung als „Visiting Professor“. Es gab viele gute Dinge dort: eine entzückende Landschaft, optimale Arbeitsbedingungen (besonders in den Bibliotheken) und die Nähe zu Stanford: Jeden Freitag nachmittags fuhr ich zum Seminar von Patrick Suppes, was meine Arbeit beträchtlich förderte. Dennoch, und obwohl ich die Mög­lichkeit gehabt hätte, länger zu bleiben und meine akademische Laufbahn in den Vereinigten Staaten aufzubauen, funktionierte die „Chemie“ zwischen meiner Person und meiner US-amerikanischen Umwelt nicht so ganz richtig, so dass ich beschloss, nach Mexiko zurückzukehren. Allerdings ließ ich mir damit noch etwas Zeit: Die Rückkehr von Kalifornien nach Mexiko-Stadt dauerte – auf dem Umweg über die Stationen der Universität Campinas in Brasilien und des Zentrums für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld – ein Jahr.

Zurück im mexikanischen Institut führte ich meine Forschungstätigkeit in Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsgeschichte, Erkenntnistheorie, Ontologie und verwandten Gebieten in sehr produktiver Weise fort. Alles in allem habe ich die in Mexiko verbrachten acht Jahre in guter Erinnerung, auch in privater Hinsicht. Dort habe ich meine Frau kennengelernt, zahlreiche feste Freundschaften geschlossen und hoch motivierte Schüler gehabt, die später zu angesehenen Professoren wurden. Dennoch verblieb mir immer noch eine gewisse Sehnsucht nach dem alten Europa, sprich Deutschland. Als ich einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie an der Universität Bielefeld erhielt, habe ich ihn nach reiflicher Überlegung angenommen. 1984 siedelten meine Frau und ich aus dem sonnigen Mexiko ins nebelige Bielefeld um. Auch hier empfing mich eine sehr anregende, aufgeschlossene Forschungsatmosphäre. Ich stellte fest, dass der ansonsten nur als Floskel verwendete Terminus „Interdisziplinarität“ an der Universität Bielefeld alltägliche Wirklichkeit war. Insbesondere nahm ich an einigen gemeinsamen Vorhaben mit Kollegen der Wissenschaftssoziologie und der Wissenschaftsgeschichte im „Schwerpunkt Wissenschaftsforschung“ teil.

Aber es kam endlich auch der Augenblick, die ostwestfälische Insel auf meiner Odyssee zu verlassen. 1988 nahm ich einen Ruf an die Freie Universität Berlin an. Nach einigen anfänglichen Schwierigkeiten haben wir uns in Berlin sehr gut eingelebt. Eines Novemberabends des Wunderjahres 1989 standen meine Frau und ich an der Berliner Mauer und sahen das Wunder geschehen. Damals haben wir uns – wie alle anderen, die da waren – unheimlich gefreut. Was ich damals noch nicht wissen konnte, war, dass dieses Wunder auf die Dauer die langsame Agonie der FU Berlin, und insbesondere seines philosophischen Instituts, bedeuten könnte. Als diese Bedrohung immer spürbarer wurde, habe ich den Ruf als Nachfolger Stegmüllers an der LMU erhalten – und angenommen. Der entscheidende Grund für meinen Entschluss pro München war allerdings, dass keine andere der mir bekannten philosophischen Fakultäten in Deutschland, oder sogar in Europa, eine so starke Tradition und ein so starkes Profil auf den Gebieten hat, auf denen ich mich besonders zu Hause fühle – in der Logik, in der Philosophie der Mathematik, in der Wissenschaftstheorie, und überhaupt in der formal arbeitenden Philosophie.

Seit 1993 bin ich Vorsitzender des Seminars (zeitweise Instituts) für Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie in der Philosophischen Fakultät der Universität München. Abgesehen von einem Forschungsjahr 2003/04 als Inhaber des Lehrstuhls „Blaise Pascal“ an der Pariser „Ecole Normale Supérieure“ (wo ich endlich die Zeit hatte, eine Geschichte der Wissenschaftstheorie zu schreiben, die vor kurzem in französischer Sprache erschienen ist), habe ich seit nunmehr 13 Jahren fast ununterbrochen in München gelebt und an der LMU gelehrt und geforscht. An keinem anderen Ort bin ich in meinem bisherigen Leben so lange geblieben. Und somit bin ich also nicht nur Philosoph, sondern auch Münchner Philosoph geworden, was ich als eine besondere Auszeichnung empfinde. Die Tatsache, dass ich inzwischen auch in die Bayerische Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden bin, stellt eine zusätzliche Auszeichung dar, die die erste noch verstärkt, und die mich gegenüber der Bayerischen Wissenschaftswelt besonders verpflichtet.

Und so gelangen wir, liebe LeserInnen, zum Ende meiner Odyssee. Es sieht so aus, als ob München tatsächlich mein Ithaka darstellt. Wo könnte es sonst noch sein? Gewiss, wir leben nicht in rosigen Zeiten. Das gilt aber überall und für alle Bereiche. Die Zeiten sind schlecht für die universitäre Forschung, sie sind besonders schlecht für die geisteswissenschaftliche Forschung, noch schlechter für die philosophische Forschung, und ein Grad noch schlechter für die spezifisch wissenschaftstheoretische Forschung. Und dennoch werden in der Münchner Philosophie und Wissenschaftstheorie nach wie vor Arbeiten der höchsten, international konkurrenzfähigen Qualität geleistet; wir ziehen hochmotivierte Studierenden an, auch viele aus dem Ausland, die sehr oft glänzende Abschlussarbeiten schreiben, und werden Monat für Monat von hochkarätigen Gastprofessoren aus aller Welt besucht. Ich meine, wir stehen gar nicht so schlecht da. Jedoch mindestens eine Sache brauchen wir Münchner Philosophen noch, um nicht entmutigt zu werden: Nach den letzten Jahren der unerbittlichen Stellenkürzungen, Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen, aufgezwungenen Reformpläne, die sogleich wieder obsolet werden, und anderem mehr, brauchen wir endlich gesicherte Verhältnisse und ein wenig Ruhe, um uns unseren eigentlichen Aufgaben in Forschung und Lehre voll widmen zu können. Mögen die „höheren Instanzen“ einsehen, dass gute Philosophie keinen entbehrlichen Luxus darstellt, und Erbarmen mit uns zeigen …