Asylrecht und Diskursethik. Eine Antinomie im Denken von Jürgen Habermas
von Bernhard Schindlbeck
I.
Mit Fug und Recht kann man behaupten, dass Jürgen Habermas wie kaum ein anderer seiner philosophischen Zeitgenossen sich publizistisch für die Demokratie eingesetzt und demokratietheoretische Fragestellungen und Probleme aus den unterschiedlichsten Perspektiven ausgelotet hat. Als einer der wenigen „öffentlichen Intellektuellen“ in Deutschland hat er sich auch immer wieder in aktuelle politische Diskussionen eingeschaltet. In Erinnerung bleibt etwa der Historikerstreit der 80er Jahre, in dessen Verlauf Habermas auch Dolf Sternbergers Begriff des „Verfassungspatriotismus“ popularisierte, der für das geschichtspolitisch angeschlagene Deutschland den ethnisch-nationalen und den nicht mehr möglichen völkischen Patriotismus durch ein gemeinsames Bekenntnis zu Menschenwürde und Menschenrechten zu ersetzen versuchte. Auch seine Lösung des Problems, ob den Menschenrechten oder der Volkssouveränität, dem Rechtstaatsprinzip oder dem Demokratieprinzip, der Vorrang gebühre, wird bis heute als eine politikwissenschaftliche Errungenschaft angesehen, mit der sich jede Stimme, die im Feld der Demokratietheorie ernst genommen werden will, auseinanderzusetzen hat. Gleichursprünglichkeit war Habermas‘ salomonische Formel: „Eines ist ohne das andere nicht möglich, ohne dass eines dem anderen Schranken zieht.“1 Und dennoch steht im Denken des Doyens der deutschen Sozialphilosophie hier eine Ungereimtheit, eine Antinomie, ein nicht auszuräumender Widerspruch im Raum, der erst in den letzten Jahrzehnten mit der nicht mehr zu übersehenden krisenhaften Entwicklung des Phänomens der weltweiten Migration ins Auge springt.
II.
Auf Begründungsfiguren von Rousseau und Kant zurückgreifend erklärt Habermas, was Demokratie eigentlich bedeutet, das heißt: wie wir uns selbst als Bürger in dem politischen Kontext einer modernen Gesellschaft verstehen müssen, wenn wir uns einerseits als autonom und andererseits gleichzeitig sozial gebunden und damit anderen verpflichtet begreifen wollen. Und uns bleibt gar nichts anderes übrig, als uns genau so zu begreifen. Wie Hegel geht es ihm darum, in den real vorhandenen politischen und sozialen Institutionen, jenen Wesenskern freizulegen, der uns ein adäquates Selbstverständnis unserer selbst als sozialer Vernunftwesen ermöglicht. Für die repräsentative Demokratie heißt das u.a., dass die Strukturen und Verfahren so eingerichtet sein müssen, dass sich alle Bürger in der Weise darin wiederfinden können, dass sie sich „letztlich“ als die Urheber der Gesetze betrachten dürfen. Das ist bei allen konflikthaften Auseinandersetzungen die nicht zu unterschätzende integrative Leistung der Demokratie. Jede in einer demokratischen Entscheidung unterlegene Seite akzeptiert die augenblickliche Niederlage und beteiligt sich als Opposition weiter am Diskurs. Dies ist möglich, weil alle Bürger sich als Teil eines gemeinsamen Willens, „einer vernünftigen Willensbildung“ begreifen. „Sie sollen ihren Willen an genau die Gesetze binden, die sie sich in der Folge ihres diskursiv erzielten gemeinsamen Willens selber geben. … Unter dieser Bedingung können nur solche Gesetze, die im gleichmäßigen Interesse eines jeden liegen, die vernünftige Zustimmung aller finden.“2 Habermas spannt Rousseaus „volonté générale“ und Kants „Selbstgesetzgebung“ (d.h. des einzelnen Subjekts in moralisch relevanten Handlungsentscheidungen gemäß dem kategorischen Imperativ) so zusammen, dass sie sich in die demokratische Selbstgesetzgebung eines Kollektivsubjekts durch einen vernunftgeleiteten, auf Argumente gestützten öffentlichen Diskurs überführen lassen. Idealerweise ist das ein nicht von Herrschaftsmomenten oder anderen Zwängen oder Ängsten getrübter Diskurs; dass das in der Realität kaum zu erreichen ist, tut dem Grundgedanken keinen Abbruch. Mit der Einsicht, dass sich die Realität immer nur schrittweise einem letztlich unerreichbaren Ideal annähern kann, lässt sich leben. Der demokratische Anspruch jedenfalls ist, dass „nur das als legitim gelten [kann], worauf sich die gleichberechtigt an der Beratung Teilnehmenden aus freien Stücken einigen können – also das, was unter den Bedingungen eines rationalen Diskurses die begründete Zustimmung aller findet.“3
Der als ein Ideal gedachte demokratische öffentliche Diskurs ist nun aber selbst wieder an einem ethischen Leitbild orientiert, der von Habermas, neben Karl Otto Apel, ausgearbeiteten Diskursethik. Ihr Kern besteht in dem ethischen „Apriori der Kommunikationsgemeinschaft“ (K. O. Apel), das Wolfgang Kuhlmann prägnant so zusammenfasst: „Was wir immer schon notwendig qua sinnvoll Argumentierende in Anspruch nehmen, das kann offensichtlich nicht seinerseits noch so begründet werden, daß man auf eine noch dahinterliegende Quelle der Geltung zurückgeht und jenes aus dieser regelrecht ableitet.“4 Wer argumentiert, hat also bestimmte Regeln als Apriori bereits anerkannt und damit auch den oder die jeweiligen Gegner seiner Argumentation, für die natürlich das Gleiche gilt. Das nicht weiter begründbare ethische Moment ist also jedem argumentierenden Sprechen inhärent. Diese Annahme, dass argumentative Akte der Kommunikation immer schon einen nicht bezweifelbaren normativen Gehalt an Forderungen an die Diskursteilnehmer beinhalten, wird heute weitgehend akzeptiert. Der naheliegende Einwand, dass nicht alle Gespräche und Diskurse am Muster der Argumentation orientiert sind, trifft mit Sicherheit dann nicht zu, wenn es um die politische Auseinandersetzung im öffentlichen Raum geht. Eine laut Habermas fundamentale diskursethische Forderung ist dabei, dass „nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten).“5 Das ist natürlich ein eminent hoher, fast möchte man sagen unerfüllbar hoher Anspruch an die Setzung von Normen; erfüllbar vielleicht noch, wenn es um moralische Normen geht, die damit zur Ächtung von sozialen Diskriminierungen führen könnten, aber kaum erfüllbar in der üblichen routinemäßigen Gesetzgebung im politischen Tagesgeschäft, auch wenn man sich den zu einem Gesetz führenden Diskurs – entgegen aller parteipolitischer Strategien und allem Lobbyismus – als noch so ideal vorstellt.
III.
Politisch scheitert dieser diskursethische Anspruch jedoch nicht an seiner moralischen Höhe, sondern schon an seiner logischen Unmöglichkeit, wenn es um die Asylgesetzgebung geht. Seiner eigenen Logik nach müssten nämlich Asylbegehrende an der Asylgesetzgebung des Landes, in dem sie um Asyl nachsuchen, als Betroffene auch Teilnehmer des praktischen Diskurses sein, dessen Ergebnis das jeweilige Asylgesetz dann ist. Dies ist aber nicht möglich, da sie nicht Bürger des Landes sind. Die demokratische Deliberation über zu findende Normen und zu beschließende Gesetze findet immer nur im Kreis der zum Land bzw. zum Staat gehörenden Bürger statt. Für die Europäische Union heißt dies heute: im Kreis der EU-Bürger unter Ausschluss aller Nicht-EU-Bürger. Die Forderung nach Beteiligung Außenstehender an der Gesetzgebung eines Landes würde nicht nur seltsam anmuten, sondern würde auch auf eine Verletzung des sogenannten Selbstbestimmungsrechts der Völker hinauslaufen.
Einerseits sollen also die dem Staat angehörenden Bürger gemeinsam über ihre Gesetze entscheiden und dabei alle Interessen aller möglicherweise Betroffenen berücksichtigen. Andererseits sollen nicht nur die Interessen aller betroffenen Menschen berücksichtigt werden, sondern letztere sollen dem diskursethischen Anspruch gemäß wirklich mitsprechen können. Deshalb müssten Asylbegehrende an den Beratungen zur Asylgesetzgebung (sei’s eines Staates, sei’s der gesamten EU) beteiligt werden. Sie sind aber keine Bürger, weshalb sie nicht beteiligt werden können. Dieser Widerspruch ist im nationalstaatlichen Rahmen, in dem jede Demokratie organsiert ist (und auch im Rahmen der EU), schlicht unlösbar. Offensichtlich geraten hier Demokratieprinzip und Diskursethik in eine unauflösbare Antinomie. Und die Behauptung einer Gleichursprünglichkeit scheidet bei einem logischen Widerspruch als Lösung aus.
Auch Hinweise auf „postnationale Konstellationen“ und transnational erweiterte Räume retten Habermas‘ Denken nicht vor dieser grundsätzlichen Antinomie.6 Die asylrechtlichen Normen werden immer von einer Gemeinschaft der Zugehörigen (entweder in einem Staat, oder einer Gemeinschaft mehrerer Staaten) gemacht, aber niemals unter Beteiligung derer, die Zugang in diese Räume wollen.
Vielleicht macht erst die Migrationskrise der letzten Jahrzehnte deutlich genug, dass auch der modernen nationalstaatlichen Demokratie immer schon, so wie bereits in der antiken griechischen Polis ein unaufhebbares Moment der Exklusion eigen ist. Demokratie beruht u.a. auf dem Ausschluss der Fremden, der Ausländer, der Migranten, der Flüchtlinge, kurz: der nicht zum Staatswesen gehörenden Menschen, die keinen Anspruch auf Beteiligung am Diskurs haben. Das Demokratieprinzip soll „ein Verfahren legitimer Rechtssetzung festlegen,“ schreibt Habermas in Faktizität und Geltung. „Es besagt nämlich, daß nur die juridischen Gesetze legitime Geltung beanspruchen dürfen, die in einem ihrerseits rechtlich verfaßten diskursiven Rechtsetzungsprozeß die Zustimmung aller Rechtsgenossen finden können.“7 Asylbewerber aber gehören nicht zu den Rechtsgenossen. Übersetzt man in Gayatri Chakravorty Spivaks berühmtem Essay Can the Subaltern Speak? von 1988 das Hilfsverb mit „dürfen“ (statt mit „können“), dann ist in Bezug auf das Asylrecht klar: Sie dürfen nicht mitreden. Vielleicht wurde das Exklusionsmoment der nationalstaatlich organisierten Demokratie immer deshalb einfach ausgeblendet, weil es nicht virulent genug wurde. Auch für Habermas nicht. Heute kann man es nicht mehr übersehen. Habermas bemerkt nicht, dass der Deliberation in der Demokratie, so diskursethisch sie sich auch immer gestalten (oder gerieren) mag, immer schon das Moment der Exklusion vorgeschaltet ist. Da Apel und Habermas die Diskursethik explizit im Ausgang von Ideen Kants und dessen praktischer Philosophie konzipieren, kaufen sie sich das Prinzip des Universalismus mit ein, ein Prinzip das in einem kontradiktorischen Widerspruch zum Exklusionsmoment nationalstaatlicher Demokratie steht und deshalb zur dargestellten Antinomie führt. Und eine Demokratie, die sich selbst, also von sich aus kosmopolitisch statt national (oder auch transnational) verstehen und organisieren würde, ist nirgendwo in Sicht.8
IV.
Die am 10. April 2024 vom EU-Parlament beschlossene „Asylreform“, der am 14. Mai 2024 auch die EU-Mitgliedsstaaten zustimmten, verschärft die Asylbestimmungen so drastisch, dass die von Europa verfolgte Politik der Abschottung gegen alle Migranten, die nicht unter „Fachkräfteeinwanderung“ subsumiert werden, unübersehbar wird. Die EU beabsichtigt, Flüchtlinge (auch Kinder) unter Haftbedingungen in Internierungslagern an ihrer Außengrenze unterzubringen, ihr Asylbegehren in Schnellverfahren ohne die Möglichkeit des Rechtswegs zu prüfen und bei Ablehnung in irgendwelche Drittländer (die sich vertraglich und gegen Bezahlung dazu bereit erklären) abzuschieben, die auch gar nicht einmal die Herkunftsländer der geflohenen Menschen sein müssen. Man mag diese „Reform“ als Ergebnis einer demokratischen Deliberation in Ministerrat und Parlament betrachten, mit Ethik hat sie nichts zu tun. Diskursethische Prinzipen spielen in der praktischen Asylpolitik keine Rolle. Organisationen wie medico international, Human Rights Watch und Amnesty International sehen in den neuen Regelungen gravierende Verstöße gegen Menschenrechte.
Habermas, der stets große Hoffnungen auf die EU und deren Weiterentwicklung als ein den primitiven Nationalismus überwindendes transnationales Konzept setzte, muss erleben, wie Europa sich heute selektiv gegen außen abschottet und fundamentale Rechtsstaatsprinzipien aufgibt, mit seiner Agentur „Frontex“ illegale pushbacks unterstützt und z.B. in Libyen Internierungsgefängnisse und Milizen finanziert, die Migranten mit Gewalt von der Mittelmeerküste fernhalten oder Boote zum Kentern bringen. Um weiterhin an die EU zu glauben, muss man das alles wohl ausblenden. Nicht nur in der praktischen Politik, auch in der Politischen Theorie ist Wegsehen bei Bedarf eine (wissenschaftliche) Tugend, weswegen nicht wenige Theoretiker ignorieren, dass die 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete EU sich inzwischen „mit einer geradezu verbrecherischen Energie verbindet, die sich in der Bereitschaft der EU-Staaten ausdrückt, an der gemeinsamen Außengrenze ein hohes Maß an gesetzloser Gewalt zu organisieren, zuzulassen oder durch Straflosigkeit zu befördern.“9
Seit dem 7. Mai 2025 werden an den deutschen Außengrenzen sogar gegen EU-Recht (Dublin-Verfahren) und gegen die Genfer Konvention verstoßende Zurückweisungen vorgenommen; damit ist das individuelle Asylrecht ausgehebelt und so gut wie abgeschafft. In Deutschland schlagen konservative Politiker, die sich von der Angst vor wachsender Zustimmung zur AfD treiben lassen, inzwischen vor, das individuelle Recht auf Asyl, nicht nur durch die vom Innenminister per Dekret angeordnete alltägliche Praxis, sondern auch formal durch Verfassungsäderung gänzlich abzuschaffen. Das käme der endgültigen Entsorgung eines in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (Artikel 14) verankerten fundamentalen Rechtsanspruchs eines jeden Menschen gleich. Schon Kant hatte diesen Anspruch 1795 als ein auf „Hospitalität“ gegründetes Weltbürgerrecht beschrieben, „welches allen Menschen zusteht“, da „ursprünglich … niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere.“10 Käme es so weit, wäre das also der Triumph eines rechtspopulistischen Demokratieverständnisses über die Rechtsstaatlichkeit. Und die Diskursethik – so werden viele mit Häme sagen – erweist sich als eine bloß schöne Idee, die in der Realität leider nicht brauchbar ist.
Der von Habermas im Historikerstreit der 80er Jahre mit gutem Grund stark gemachte „Verfassungspatriotismus“ war nicht nur eine unverbindliche Floskel. Vor der Grundgesetzänderung im Jahr 1993 lautete der Artikel 16, Absatz 2, Satz 2: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Auch wenn die Mütter und Väter des Grundgesetzes in erster Linie vermutlich an Flüchtlinge aus dem kommunistischen Machtbereich (und nicht aus befreundeten Diktaturen) dachten, war dieser bedingungslose Schutz aller Erdenbürger vor politischer Verfolgung eine Besonderheit und tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal des Grundgesetzes unter den diversen demokratischen Verfassungen, die ansonsten mehr oder minder doch immer alle die gleichen Elemente enthalten. „Das Asylrecht, wie es ursprünglich in Artikel 16 des Grundgesetzes enthalten war, war weltweit einzigartig und vorbildlich“, konstatiert Gernot Böhme.11 1993 wurde diese deutsche Besonderheit abgeschafft und das Asylrecht unter vielfältige Bedingungen und Kautelen gestellt, die das Asylrecht faktisch aushöhlten. Auch Jürgen Habermas war damals unter den mehr als 100 000 Unterzeichnern einer Petition gegen diese Verfassungsänderung. Mit der gänzlichen Eliminierung eines individuellen Asylanspruchs und der damit einhergehenden Entwürdigung von Flüchtlingen würde allen Deutschen, die immer noch „Verfassungspatrioten“ sein wollen, der letzte Grund dafür genommen. Die Abschaffung des heutigen Artikel 16 a im Grundgesetz bedürfte einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat, was derzeit sehr unrealistisch ist. Doch auch schon die fortgesetzte Erosion des bestehenden Asylrechts durch willkürliche Ausweitungen der Liste angeblich sicherer Herkunftsländer unabhängig von den dortigen faktisch bestehenden Menschenrechtssituationen, durch Absenkung humanitärer Standards, die in der öffentlichen Diskussion nur als problematische „pull-Faktoren“ gelten, durch die Auslagerung des Asylverfahrens in Aufnahmelager außerhalb der Europäischen Union, durch Eliminierung der Möglichkeit des Rechtswegs für abgelehnte Bewerber – bei einem gleichzeitig von vielen Politikern forcierten Ressentiment, dass Migranten nur den deutschen Sozialstaat ausnützen wollten – macht jeden Verfassungspatriotismus lächerlich.
V.
Durch eine Antinomie sieht man sich vor die Frage gestellt, welches der beiden einander widersprechenden Prinzipien aufgegeben werden muss. Hier: entweder die demokratische Selbstbestimmung des Volkes (d.h. der wahlberechtigten Bevölkerung) oder die diskursethisch geforderte Mitsprache und Mitentscheidung aller von der Norm Betroffenen.
Fraglich ist, ob das demokratische Herrschaftssystem wirklich ein ethisches Fundament hat. Allgemein (z.B. in Schul- und Lehrbüchern) wird der Schutz der Menschenrechte als das der Demokratie ureigene Prinzip angeführt, das sie von autokratischen Systemen unterscheide. Aber sobald sie mit Kosten verbunden sind, stehen die Menschenrechte sofort zur Disposition, wie gerade die „Migrationskrise“ zeigt. So fordert etwa der als Migrationsexperte bekannte Daniel Thym, Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz hinsichtlich der Asylpolitik: „Für einen Systemwechsel wird uns nur eins übrig bleiben: Wir müssten die Menschenrechte weniger streng handhaben. Notfalls, indem die EU-Verträge und die Europäische Menschenrechtskonvention verändert werden.“12
Unübersehbar ist also, dass die nationalstaatliche Demokratie als solche mit dem weltweiten Problem der gegenwärtigen Migration überfordert ist und außer inhumanen Ansätzen, etwa der von Olaf Scholz zum Ausdruck gebrachten Selektion („Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben,“13 und „Wir dürfen uns aussuchen, wer zu uns kommen darf und wer nicht.“14) keine Lösungen findet. In der öffentlichen Diskussion in den Ländern der ersten Welt wird systematisch ausgeblendet, dass es die europäischen Mächte waren, die mit ihrem Kolonialismus und Imperialismus die Unterentwicklung und Verarmung des heutigen Globalen Südens gezielt herstellten, und dass, wie Seyla Benhabib schreibt, die „Unterscheidung zwischen dem politisch verfolgten Flüchtling und dem Wirtschaftsmigranten“ keinen Sinn ergibt. „Angesichts der langen Geschichte des europäischen Imperialismus in Afrika, Südamerika und dem Rest der Welt ist diese Unterscheidung zwischen dem unehrenhaften Wirtschaftsmigranten und dem ehrenwerten politischen Flüchtling heuchlerisch und unhaltbar.“15
Möglicherweise steht das Demokratieprinzip, solange es an den Nationalstaat gebunden ist, der Entwicklung der Menschheit und dem „Menschsein“ grundsätzlich im Wege. Denn letzterer, so Donatella Di Cesare, „zielt allein darauf ab, das eigene Staatsgebiet als geschlossenen Raum kollektiven Eigentum zu verteidigen. … Den Kindern der Nation, die von Geburt an die weiterhin unerschütterliche und alles beherrschende staatszentrierte Perspektive teilen, erscheint der Staat als eine natürliche und nahezu ewige Entität. Migration ist demgegenüber als einzudämmende Abnormität, als zu beseitigende Anomalie anzusehen. Vom äußersten Rand aus erinnert der Migrant den Staat an sein geschichtliches Werden und Vergehen und bringt damit seine mythische Reinheit in Verruf. Deshalb heißt auf Migration zu reflektieren auch, den Staat neu zu denken.“16
Jürgen Habermas, Der demokratische Rechtsstaat – eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?, in: ders., Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt/Main 2001, 133-151, hier 134. ↩︎
ebd., 135. ↩︎
ebd., 141. ↩︎
Wolfgang Kuhlmann, Ethik der Kommunikation. In: Karl-Otto Apel u.a. (Hg.), Praktische Philosophie/Ethik, Band 1, Frankfurt/Main 1980, 276-308, hier: 297. ↩︎
Jürgen Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: ders., Moralbewußt-sein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/Main 1983, 53-125, hier: 103; vgl. auch Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/Main 1997, 49. ↩︎
Vgl. Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt/Main 1998. ↩︎
Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/Main 1992, 141. ↩︎
Auf die wichtigen kosmopolitischen Überlegungen von Seyla Benhabib (Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte, Frankfurt/New York 2008; sowie: Kosmopolitismus ohne Illusionen. Menschenrechte in unruhigen Zeiten, Berlin 2016; und: Kosmopolitismus im Wandel. Zwischen Demos, Kosmos und Globus, Berlin 2024) kann hier nicht eingegangen werden. ↩︎
Volker M. Heins/Frank Wolff, Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft, Berlin 2023, 59. ↩︎
Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Werkausgabe Band XI, hg. von W. Weischedel, Frankfurt/Main 1996, 214. ↩︎
Gernot Böhme, Ethik im Kontext. Über den Umgang mit ersten Fragen, Frankfurt/Main 1997, 222. ↩︎
Der Spiegel 12/2025, 35 f. ↩︎
Der Spiegel 43/2023, 18. ↩︎
Der Spiegel 46/2024, 17. ↩︎
Seyla Benhabib, Kosmopolitismus im Wandel. Zwischen Demos, Kosmos und Globus, Berlin 2024, 42. ↩︎
Donatella Di Cesare, Philosophie der Migration, Berlin 2021, 7. ↩︎