Elisabeth Gössmann – Hindernislauf

Elisabeth Gössmann (1928-2019) war Theologin und eine der ersten Vertreterinnen der feministischen Theologie in der katholischen Kirche. 1963 scheiterte ihre Habilitation am Einspruch der Deutschen Bischofskonferenz. 1978 gelang ihr zweiter Versuch im Fach Philosophie bei Eugen Biser. Erst 1990 erhielt sie eine außerplanmäßige Professur in München. Seit 1968 lehrte sie in Tokyo, dann in München und erhielt die Ehrendoktorwürde von fünf Universitäten.

Statt des Titels „Hindernislauf“ hätte ich auch einen anderen wählen können, nämlich: „Geburtsfehler weiblich“. Das war der Kommentar meines Doktorvaters, jedesmal wenn eine der 37 (in Worten: sieben und dreißig) Ablehnungen meiner Bewerbungen auf eine Professur in Deutschland, ob für Philosophie oder Theologie, ob an einer Pädagogischen Hochschule oder Universität, eingetroffen war. Doch dieser Titel ist schon vergeben.

Aber alles der Reihe nach! Als Kind einer lutherisch-katholischen, also konfessionell gemischten Ehe, wurde ich bald auf religiöse Unterschiede im Verhalten der Eltern aufmerksam, wie z. B. die Zuständigkeit verschiedener Kirchen für sie oder das beim Vater fehlende Kreuzzeichen vor und nach dem Tischgebet. Getreu dem katholisch-kirchenrechtlich geforderten Versprechen meines Vaters wurde ich in der Konfession meiner Mutter getauft und erzogen. Bei gelegentlichen Besuchen in Kirchen des lutherischen oder gar reformierten Bekenntnisses festigte sich mein kindliches Urteil, daß es mir in „unserer“ Kirche viel besser gefiel. Eine von mir in „unsere“ Kirche mitgenommene reformierte Freundin neigte ebenfalls meiner Meinung zu, kommentierte aber zu meinem Erstaunen gegenüber ihren Eltern den Gastbesuch bei der anderen Konfession folgendermaßen: „Es war so schön wie im Zirkus.“

Am meisten liebte ich die Fronleichnamsprozession, die sich über die beiden Plätze am Osnabrücker Dom bewegte. Von Blasinstrumenten begleitet, erscholl das Lied: „Kommt her, ihr Kreaturen all, die ihr vor Liebe brennt“. Zwar hatte ich an unserm Küchenherd mit dem Brennen andere als Liebeserfahrungen gemacht, aber das Unverstandene hatte seinen Reiz. Ebenso ging es mir bei den Cherubim und Seraphim, die in diesem Lied vorkamen. Ich hütete mich zu fragen, wer das denn sei. Als ich später im Studium Rudolf Ottos „tremendum et fascinosum“ kennenlernte, waren gleich die Cherubim und Seraphim meiner Kindheit wieder präsent, also wohl bei richtiger Gelegenheit. Als ich dagegen die Engellehre des Dionysius Pseudo-Areopagita studierte, blieb ich ganz kalt; offensichtlich war das eine Ernüchterung.

Mit meinen beiden Spielkameraden Friedel und Günter – sie wohnten in unserm Vorderhaus und waren von lutherischer Konfession – gab es viele religiöse Diskussionen. Daß wir nicht etwa „die Maria anbeten“, wie sie mir vorwarfen, davon konnte ich sie im 2. Schuljahr mit Hilfe des kleinen Schulkatechismus überzeugen. Es gab aber auch „ökumenische“ Übereinkunft: „Wie groß ist der liebe Gott?“ – „Größer als unser Vatter“, darin waren sich beide Jungen, ein paar Jahre älter als ich, einig. „Unser Mutter“ war von solchen Vergleichen ausgeklammert, obwohl gerade diese mir wegen ihrer (von mir noch unverstandenen) Schwangerschaft viel Anlaß zum Grübeln gab. In Gedanken stellten Friedel und Günter viele Schränke und Tische übereinander, um Gottes Größe zu ermessen, und ich bemühte mich, den großen Birnbaum auf unserm Hof oder den alten Kastanienbaum auf dem Hegertor gelegentlich dazwischen zu schieben, da mir Bäume „göttlicher“ erschienen als das tote Holz. Aber wir spürten alle drei, was wir nicht ausdrücken konnten, dass wir aus der Immanenz nicht herauskamen. Das ließ uns viele Male unwillig abbrechen, aber wir versuchten es immer wieder. – Als Friedel dann im II. Weltkrieg als HJ-Meldefahrer bei einem Bombenangriff ums Leben kam, war mir der Gedanke, dass er jetzt „alles weiß“, ein kleiner Trost.

Um diese Zeit quälte mich das erste Wahrnehmen von Subjektivität oder ähnlichem. Ich fragte mich, ob ich wohl in meine Mutter reinkriechen, aus ihren Augen schauen und mit ihrem Kopf denken, aber dann wieder in meine beschränkte Größe und Denkkraft zurückkehren könne. Als ich mich wohl von der Unmöglichkeit dieses Identitätswechsels und der Unwiderruflichkeit von Individualität überzeugt hatte, sagte ich zu ihr: „Ich gucke aus meinem Kopf, und Du guckst aus Deinem Kopf.“ Sie darauf, nicht für meine Ohren bestimmt, am Abend zum Vater: „Das Kind ist manchmal etwas überspannt.“

Ein Jahr vor Kriegsbeginn, im Frühjahr 1938, zogen wir nach Dortmund, weil meinem Vater wegen seiner „katholischen Familie“ – auch mein jüngerer Bruder wurde katholisch getauft und erzogen – eine lange verweigerte Beförderung als Zollbeamter endlich doch noch gewährt worden war. Er war im Herbst 1937, nachdem er schon viel früher ohne sein Zutun vom „Stahlhelm“ in die „SA“ überführt worden war, in die Partei eingetreten, aus Karrieregründen. 1943 wurde er noch zur Wehrmacht eingezogen.

Anfang 1943, als der Bombenkrieg gegen das Industriegebiet sich verschärfte, kamen wir in der 4. Klasse der damaligen „Oberschule für Mädchen“, mit unserer Parallelklasse und den Klassen darunter, nach Oberammergau in die Kinderlandverschickung. Unsere Klasse wohnte in der Pension einer überzeugt christlichen Familie, und wir wurden von unseren mitverschickten Lehrerinnen (mit einer Ausnahme) nicht etwa nationalsozialistisch indoktriniert, eigentlich auch nicht von den BDM-Führerinnen, die, nur wenige Jahre älter als wir, am Nachmittag für uns verantwortlich waren. Aber „von oben“ wurde uns der vorher versprochene sonntägliche Kirchenbesuch vereitelt, indem befohlen wurde, dass wir an einer zentralen HJ-Morgenfeier teilzunehmen hätten. Wir gingen zum Pfarrer von Oberammergau, und der legte noch eine Messe ein zu einer uns möglichen Zeit, die dann im Ort „KLV-Messe“ hieß.

Nach Aufenthalten an verschiedenen ländlichen Evakuierungsorten und Tieffliegerbeschuss auf dem weiten Schulweg per Rad und per Bahn im Jahr 1944 kam es am Kriegsende, nachdem unsere Dortmunder Wohnung längst ausgebombt war, in Rhede an der Ems noch zu direkten Fronterfahrungen. Als die Front näherrückte, mussten wir 15-16-jährigen Mädchen die Schützengräben auswerfen und für die Soldaten kochen. Dann wurde die Brücke gesprengt, und die Bewohner wurden in die moorige Gegend von Rhederfeld evakuiert. Die schwere Artillerie beider Seiten schoss über uns hinweg. Der Ort Rhede wurde bei seiner Einnahme durch die Alliierten fast völlig zerstört, auch unsere letzte Habe in der provisorischen Unterkunft.

Die Bauern errichteten Nissenhütten auf der Deele ihrer abgebrannten Höfe. Wir Mädchen mussten die Gräben wieder zuschütten und waren voller Sorge, ob wir wohl demnächst irgendwohin verschleppt würden. Ich praktizierte mein erstes Englisch, um zwischen den Bauern und der Besatzung zu vermitteln.

Im Herbst 1945 kam unser Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurück, völlig abgemagert. Wenige Wochen später traf der Bescheid ein, er sei wegen der Mitgliedschaft bei nationalsozialistischen Organisationen aus dem Beamtendienst entlassen. Unser Konto wurde gesperrt, 300 Mark pro Monat durften abgehoben werden. Es war berechenbar, wie lange das reicht. Mein Vater eröffnete mir, wenn ich bis Frühjahr 1947 das Abitur schaffen würde, könne er mir noch helfen, sonst nicht. Ich hatte Unterricht in den drei Fremdsprachen bei einer Studentin aus dem Dorf, in der Nissenhütte auf der Deele ihres abgebrannten elterlichen Hofes, und nachdem wir ein Lehrbuch aufgetrieben hatten, gelang es meinem Vater auch, meine mathematischen Lücken zu füllen, obwohl er zur landwirtschaftlichen Arbeit „dienstverpflichtet“ war. Ich ging im Frühjahr 1946 frech in die oberste Klasse der Mädchen-Oberschule in Leer/Ostfriesland, wo ich auch vor dem Kriegsende schon war, und kam in der neuen Klasse ganz gut mit. Nur ein Lehrer merkte etwas und wollte mich zurückstufen. Meine Mutter tauschte eine goldene Brosche, ein Andenken von ihrer Mutter, gegen Speck und fuhr am nächsten Morgen nach Leer, um den Lehrer „herumzukriegen“, aber der war inzwischen vom gleichen Schicksal ereilt wie mein Vater. Die Hürde Abitur wurde planmäßig im Frühjahr 1947, nach einem kalten Winter ohne Kohlen, genommen.

Mein Vater war bis dahin sogar schon „entnazifiziert“ und wieder im Beruf, und ich durfte studieren. Nach dem, was ich erlebt hatte – die Ängste im Luftschutzkeller vor dem Verschüttetwerden, der Anblick der gefallenen Soldaten in Rhede, die Zerstörung der alten Straßen mit den schönen Ackerbürgerhäusern in Osnabrück, die ich als Kind so geliebt hatte –, was sollte ich anderes studieren als Theologie und Philosophie? Ich fühlte mich veranlasst, nur noch „sub specie aeternitatis“ zu leben und mich an nichts Vergängliches mehr zu hängen. Also beschloss ich das Studium dieser beiden Fächer, und als gesichertes „Schulfach“ (Konzession an den Vater) noch Germanistik dazu. Ich besuchte alle Vorlesungen und Seminare mit metaphysischen Themen – in der Nachkriegszeit waren es gar nicht wenige – und legte in der Theologie den Schwerpunkt auf die Dogmatik. Im Mai 1952 bestand ich in Münster das Staatsexamen und ging nach München, wo ich zuvor schon ein Semester studiert hatte.

Es war mir nämlich die neue theologische Promotionsordnung der LMU unter die Augen gekommen, in der gegenüber der alten ein Satz fehlte: Es stand nicht mehr darin, der Kandidat müsse bereits die Diakonatsweihe empfangen haben. Mit einer Freundin war ich schon in den Pfingstferien 1951 nach München getrampt, um an meinen späteren Doktorvater, Prof. Michael Schmaus, die Frage zu richten: „Bedeutet das, dass wir auch?“ – „Ja, aber nur, wenn Ihr nicht mit einer durchschnittlichen Arbeit kommt, sonst gibt es sicher Schwierigkeiten.“ Er ließ mich gar nicht ausreden, denn er kannte mich noch aus seinem Seminar im Jahr zuvor, als ich mich schon einmal nach einer solchen Möglichkeit erkundigt und er daraufhin nur gelächelt hatte. Im November 1954 wurden wir zu zweit als Frauen in Theologie promoviert, 10 Jahre früher, als dies an anderen westdeutschen Universitäten möglich war.

Das Promotionsstudium war für mich eine Bekehrung zur Geschichtlichkeit; nicht dass ich das metaphysische Denken, das mir ja im Mittelalter noch reichlich begegnen sollte, beiseite warf, aber ich lernte, besonders durch unsere Lektüren im „Grabmann-Institut zur Erforschung der Philosophie und Theologie des Mittelalters“, die der Frühscholastik, der Mystiktheorie (Richard von St. Viktor) und der Franziskanertheologie gewidmet waren, in Spannung dazu auch das heilsgeschichtliche Denken kennen sowie die allmähliche Entwicklung, die zu christlichen Dogmen geführt hatte, über deren Vorformen zu reflektieren, ich bis heute als sehr sinnvoll empfinde. Mit seinem großen theologiegeschichtlichen Wissen brachte Schmaus uns bei, Begriffe in ihrer Gewordenheit und Wandelbarkeit zu rezipieren, auch in ihrem verschiedenen Gebrauch bei unterschiedlichen Schulen. Er sprach von der Notwendigkeit des Übersetzens von einem veralteten Weltbild in ein neues. Ich entdeckte aber auch bei der Vorbereitung meiner Doktorarbeit, wie viele mittelalterliche Schriftstellerinnen, die entweder als Mystikerinnen oder als Dichterinnen klassifiziert wurden, sich theologisch kompetent geäußert hatten, und bezog sie in meine Dissertation ein.

Genau ein Jahr nach meiner Promotion saßen wir, nun als junge Familie, im Flugzeug nach Tokyo, wo zur ersten noch eine zweite Tochter hinzukam. Helfende Hände, so dass ich beruflich tätig sein konnte, gab es damals noch genug. Beide arbeiteten wir an der Sophia-Universität in der Deutschen Abteilung, und ich zusätzlich an einer Frauenuniversität, wo ich, neben dem obligaten Sprachunterricht, in englischer Sprache Vorlesungen über „Mediaeval Philosophy“ und „Modern Christian Philosophy“ halten konnte. Hier lag mein Schwerpunkt. Dass ich dafür nur mit meinem deutschen Schulenglisch ausgerüstet war, möchte ich nicht als Hürde bezeichnen. Zwar brauchte ich viel Vorbereitungszeit, um englischsprachige Sekundärliteratur zu lesen, die mir das notwendige Vokabular verschaffte, aber es ging mir einigermaßen leicht von der Zunge. Viele Studentinnen im damaligen International College verstanden mich sogar besser als ihre amerikanischen Dozentinnen, kein Wunder, da ich als non-native speaker sehr langsam sprach.

In dieser Zeit begann ich, mich mit dem Buddhismus zu befassen und die figürliche Kunst dieser Religion in den japanischen Tempeln wertzuschätzen. Ich fand auch noch Zeit, meine Habilitationsschrift über eine franziskanische Summa Theologica weiterzubringen, mit der ich in dem Jahr nach der Promotion in München schon angefangen hatte. Im Sommer 1960 kehrten wir nach München zurück; denn ich brauchte zur Vollendung der Arbeit die hiesigen Bibliotheken. In dieser Zeit war ich wissenschaftliche Mitarbeiterin am Grabmann-Institut und nahm auch weiterhin an den Seminarübungen teil. Mein Wissen über die Vielfältigkeit und das divergierende Denken in den verschiedenen Schulen vertiefte sich und bewahrte mich zeitlebens davor, „die Scholastik“ – etwa in ihrem Frauenbild – über einen Kamm zu scheren.

Im Herbst 1962 gab ich bei Professor Schmaus meine Habilitationsschrift ab, und das Verfahren wurde eröffnet. Aber bald schon erhob sich Einspruch von bischöflicher Seite und wohl auch innerhalb der Fakultät; und das, obwohl Schmaus in Rom, im Aufwind der ersten Sitzungsperiode des II. Vatikanums, versucht hatte, allerwärts „gut’ Wetter“ für die „Laienhabilitation“ (Habilitation von Nichtpriestern) zu machen. Ich wurde zu Kardinal Döpfner gerufen, der mir erklärte, dass der Abbruch meines Habilitationsverfahrens keineswegs an meiner Leistung liege, sondern daran, dass „wir Bischöfe ja noch nicht wissen, was wir mit habilitierten Laien in der Theologie anfangen sollen“. Er dachte dabei an die damals noch ganz in den Händen von Geistlichen als Theologieprofessoren liegende Priesterausbildung. Nun, für männliche Laientheologen löste sich dieses Problem viel früher als für weibliche. Die theologische Habilitationshürde konnte ich nicht nehmen.

Ich ging mit den Kindern zurück nach Tokyo und übernahm 1967 an meiner Frauenuniversität die Leitung der Sektion „Humanities in English“. 1968 wurde ich zur Kyôju (full professor) befördert. Nach US-amerikanischem Vorbild waren die „Humanities“ eine kleine Abteilung, in der ein Überblick der Geisteswissenschaften, mit einem „Spritzer“ von Sozialwissenschaften, angeboten wurde. Dazu gehörte auch ein zweijähriger Kurs „Great Books of World Literature“, den zu organisieren mir viel Spaß machte. Die deutsche Philosophie- und Literaturgeschichte überblickshaft zu vermitteln, übernahm ich selbst, eine Kollegin aus der Abteilung für Englische Literatur das entsprechende Englische, ein Jesuit der Sophia-Universität, der Romanist war, gab eine Einführung in die spanische, italienische und französische Literatur, und eine russische Literaturwissenschaftlerin, die mir die damalige Sowjet-Botschaft vermittelt hatte, deckte ihren Bereich ab. Ich selbst lernte viel bei diesen Vorlesungen und dachte mehr als einmal, daß uns ein solcher Überblick in Form eines Studium generale in Deutschland doch eigentlich auch sehr nützlich wäre.

Das waren sieben relativ glücklich verlaufende und Berufsfreude erweckende Jahre, die auch durch die bunt gemischte Studentinnenschaft viel Anregung gaben. Neben den Japanerinnen studierten damals dort auch Koreanerinnen, Hongkong-Chinesinnen, Philippinerinnen, Thailänderinnen, einige wenige Amerikanerinnen aus Nord und Süd. Eine Wochenstunde gab ich aber damals schon auf Japanisch, weil ich eine solche Zukunft auf mich zukommen sah.

1974 war es dann so weit. Die Zahl der ausländischen Studentinnen nahm ab, und die Sektion „Humanities in English“ wurde aufgelöst. Ich hatte nur die Frühjahrsferien, um mich auf eine Lehrtätigkeit nur noch in japanischer Sprache umzustellen; ohne systematisches Sprachstudium eine ganz gewaltige Hürde. Nächtelang saß ich an der Vorbereitung, wobei ich die Hilfe einer bei uns wohnenden Studentin in Anspruch nehmen musste. Es war eine harte Zeit.

Aber hätte ich es nicht geschafft, wäre meine Professur nicht zu halten gewesen. Ich wurde in die Abteilung für „Westliche Philosophie“ übernommen, wo es auch eine Sektion für Christliche Studien gab, die ich später leitete. Hier konnte ich sogar Griechisch und Theologie des Neuen Testamentes lehren, daneben fiel mir aber auch die Philosophie der europäischen Antike zu. Glücklicherweise hatten wir einen japanischen Spezialisten für Kant, so dass es mir erspart blieb, mir das dafür notwendige (und z. T. im 19. Jahrhundert für die Rezeption des Deutschen Idealismus erst geschaffene) japanische Begriffswerkzeug anzueignen. Die Zusammenarbeit unter den Philosophiedozierenden gestaltete sich sehr hilfreich. Ich konnte und kann ihnen bei ihren zahlreichen Übersetzungsprojekten helfen und sie mir bei meinen Schwierigkeiten mit dem Japanischen.

1977 war freundlicherweise Prof. Eugen Biser bereit, meine bis dahin veröffentlichten mediävistischen Monographien (darunter auch die einstige „verhinderte“ Habilitationsschrift) zu begutachten, um mir eine kumulative Habilitation zu ermöglichen. Das Colloquium, das mir in der Theologischen Fakultät erspart geblieben wäre, musste ich aber ablegen und zu diesem Zweck drei Themen einreichen, bevor ich nach den Frühjahrsferien wieder nach Tokyo flog. In Moskau – die Aeroflot war die einzige für mich erschwingliche Luftlinie – musste man damals noch auf einen Fragebogen die Titel aller Bücher und Zeitschriften eintragen, die man mit sich führte. Ich hatte aber nichts als Bücher und Kopien zur Vorbereitung meiner drei Themen im Gepäck und hätte viele Fragebogen gebraucht, ganz abgesehen davon, dass die Zeit nicht reichte. Ich wagte es, ein leeres Blatt abzugeben. Ich hatte Glück, bei mir gab es keine Stichprobe. Auf dem Rückweg ging es ebenso, allerdings mit viel Herzklopfen, aus Furcht, dass mir etwas Notwendiges abgenommen werden könnte. 1978 hatte ich auf dem Weg nach Tokyo wieder das Material für drei Themen dabei, diesmal für die Habil-Vorlesung; aber ich erfuhr noch vor dem Abflug nach München, welches dieser Themen genommen wurde, und konnte mein Gepäck reduzieren. Die Habilitationshürde war also endlich genommen, wenngleich nicht im ursprünglich angestrebten Fach, aber doch zur großen Freude, auch von Professor Schmaus.

Zwar hat mir die Habilitation keinen Erfolg bei meinen Bewerbungen beschert, aber gelohnt hat sie sich doch noch. Zunächst einmal war ich recht enttäuscht und verzweifelt, wenn der japanische Postbote mir immer wieder die aus Deutschland zurückgesandten Bewerbungspapiere brachte. Denn das hebt nicht gerade das Selbstbewusstsein. Da aber in Japan schon viel früher als in Deutschland aus den USA die „Women Studies“ bekannt und an japanischen Universitäten eingeführt wurden, hatte ich Gelegenheit, meine bereits zu meiner Promotionszeit begonnenen Studien der Frauentexte aus Mittelalter und Früher Neuzeit wieder aufzugreifen und für die Vorlesung zu verwenden. In meiner Situation des beständigen Abgelehntwerdens gaben mir die alten Texte sogar Trost und Mut. Die in der Mitte des 17. Jahrhunderts für wissenschaftliche Bildung von Frauen streitende Anna Maria van Schurman etwa stellte traurig fest, dass alles weibliche Wirken, kaum hervorgebracht, schon wieder im Dunkel des Vergessens verschwinde und „von den Spuren unseres Namens nicht mehr erscheint als von den Spuren eines Schiffes im Meer“. Aber ich lernte auch, dass diese „Vorschwestern“ ihre Resignation überwinden konnten und im Rahmen des ihnen Möglichen weitermachten. Sie unterwanderten gängige Lehren und korrigierten, schon im Mittelalter und erst recht in der Renaissance, als sie männlichen Beistand erhielten, was ihnen an den androzentrischen Konzepten missfiel. Ab 1984 erschienen in München die Bände meiner Reihe „Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung“.

1986 wurden mir zum ersten Mal, nach vier Jahrzehnten akademischen Lehrens in fremden Sprachen, an den Universitäten Münster und München Lehraufträge angeboten, die ich wegen der verschiedenen Semesterzeiten japanischer und deutscher Universitäten auch annehmen konnte. In der Muttersprache zu unterrichten, so lernte ich schnell, kostet nur die Hälfte der Vorbereitungszeit. Gastprofessuren in Österreich und in der Schweiz kamen hinzu. Dass die Lehraufträge in München in Gang kamen und zur Dauereinrichtung wurden, verdanke ich der Fachschaftsvertretung Philosophie der LMU und nicht weniger Professor Beierwaltes. 1990 wurde eine außerplanmäßige Professur daraus, was ohne die späte Habilitation nicht möglich gewesen wäre. Das bedeutete allerdings, daß ich die volle Professur in Tokyo vorzeitig aufgeben musste. Aber man ernannte mich dort zur Ehrenprofessorin, so dass mir einige Funktionen geblieben sind, ebenso wie meine Vortrags- und Veröffentlichungstätigkeit in Japan. Mein jetziges Leben mit viermaligem Kontinentwechsel pro Jahr gefällt mir sehr gut. Nach soviel Pflichtveranstaltungen in meinem Leben nehme ich mir jetzt die Freiheit, nur das anzubieten, was mich im Hinblick auf meine eigene Forschung weiterbringt.

Daß wir in unseren Seminaren vorwiegend Frauen sind, liegt nicht an mir. Ich freue mich über jeden Studenten, der sich für die Denkgeschichte von Frauen und ihre Auseinandersetzung mit den philosophischen Themen ihrer Zeit oder auch der Vergangenheit interessiert. Nur bei den Seminaren über Hannah Arendt und Rosa Luxemburg gab es bisher eine größere männliche Beteiligung von etwa einem Drittel. In den ersten Jahren meiner Tätigkeit in München verhielten sich die wenigen Studenten in unseren Seminaren ähnlich wie wir Studentinnen um 1950 in philosophischen oder theologischen Seminaren, nämlich nahezu schweigend. Das hat sich inzwischen geändert, auch wenn es nur einer ist, der bis zum Semesterende durchhält.

Weibliche Stimmen aus dem Seminar äußern sich dahingehend, daß es für sie wichtig ist zu wissen, dass – quer durch Geschichte und Geographie – Frauen sich durch die veröffentlichte männliche Meinung über ihr Geschlecht diskriminiert fühlten, aber nicht geschwiegen haben. Den in der Überzahl befindlichen Seminarteilnehmerinnen fällt es leichter, ihre Gedanken auszutauschen und die Übereinstimmungen im Denken und Fühlen festzustellen, wenn sie sich nicht gegen eine „männliche Übermacht“ durchzusetzen gezwungen sind. Dennoch wäre mir ein gesundes Gleichgewicht am liebsten; besteht doch gerade auf männlicher Seite noch ein großer Aufholbedarf.

Schlemm – Fortschritt als Fehlschritt?

Annette Schlemm

Fortschritt als Fehlschritt?

Pb., 203 Seiten, 15.- €

Stuttgart 2025 (Schmetterling-Verlag)

von Konrad Lotter

Wer gegenwärtig von „Fortschritt“ redet, assoziiert damit oftmals eine Bewegung hin zum Schlechteren: die beängstigende Auflösung demokratischer Prinzipien zugunsten autokratischer Willkür, die zunehmende Unverbindlichkeit des (Völker)-Rechts, die wachsende Überschuldung der Staaten bei massiver Aufrüstung und Militarisierung des Lebens, die ungebremste Veränderung des Klimas etc. „Fortschritt“ wird als als Gefahr empfunden, als Niedergang und Auflösung, der man sich mit aller Kraft entgegenstellen sollte.

Ganz anders der Blickwinkel von Annette Schlemm, Physikerin und Philosophin, die noch in der DDR aufgewachsen ist und, ihrer real-sozialistischen Erziehung entsprechend, „Fortschritt“ mit Hoffnung und der Vision einer besseren Welt verbunden hat. Von dieser Erziehung hat sie sich allerdings längst emanzipiert und, wie sie schreibt, ihr „früheres Weltbild dekonstruiert“. Was bei aller Dekonstruktion dieses (staatlich vereinnahmten) Konzepts allerdings überlebt hat, ist die Faszination, die von den verschiedenen Idealvorstellungen ausgeht, auf die sich der Fortschritt zubewegen soll: die Vorstellungen einer Welt ohne Knechtschaft und Elend, ohne Krieg, Unrecht und Entfremdung. Zugleich mit diesen Hoffnungen behält Annette Schlemm aber auch die Schranken dieser Idealvorstellungen im Auge. Auf der einen Seite analysiert und vergleicht sie die Strukturelemente, die den verschiedenen Fortschrittsbegriffen zugrundeliegen, auf der anderen Seite referiert sie die Diskussionen und Kritiken, die sich an diese Begriffe angeschlossen haben. Aufgrund ihrer großen Belesenheit (die neben philosophischen Texten auch literarische Texte umfasst) und der damit verbundenen weiten Perspektive gelangt Annette Schlemm dabei zu sehr differenzierten Aussagen. Am Ende ihres Buches versucht sie sich an einer „rettenden Kritik“, die den Begriff des Fortschritts bei aller „Kontaminierung“ doch aufheben und als Orientierung für soziale und politische Ereignisse beibehalten möchte.

Grundvoraussetzung dafür, dass überhaupt von Fortschritt gesprochen werden kann, ist ein entsprechendes „Zeitregime“, das von ökonomischen und kulturellen Bedingungen abhängt. Solange Zeit als stehendes Jetzt, als Wiederkehr des Gleichen oder als ein dem Wechsel der Jahreszeiten entsprechender Kreislauf erfahren wird, kann sich keine Vorstellung von Fortschritt ausbilden. Dazu bedarf es eines Zieles, wie etwa die Wiederkehr Christi und der Beginn des Tausendjährigen Reiches, auf das sich nach christlicher Auffassung die Geschichte in linearer Bewegung zubewegt. Während der Aufklärung verbreiteten sich dagegen säkulare Zielvorstellungen: die Überwindung des Naturzustandes durch den Gesellschaftsvertrag (Hobbes), der „ewige Frieden“ (Kant), das allgemeine „Bewusstsein der Freiheit“ (Hegel), die Aufhebung des bürgerlichen Privateigentums (Marx), die Emanzipation der Frau (Göttner-Abendroth) oder der Frieden mit der Natur. Ein wesentlicher Unterschied ist dabei, ob das Ziel positiv, als Annäherung an das angestrebte Ziel, formuliert wird, oder negativ, als fortschreitende Entfernung von einem bedrückenden Zustand, so wie Marx und Engels etwa den Kommunismus als „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen [schlechten] Zustand aufhebt“ definierten.

Grundlegende Differenzen zwischen den verschiedenen Fortschrittskonzeptionen bestehen auch hinsichtlich der Frage, auf welche Weise der Fortschritt zustandekommt: als bewusster Akt handelnder Menschen (wie etwa bei der Verkündigung der Menschenrechte), als „Naturgesetz“ bzw. die Vorsehung eines weisen Schöpfers (wodurch das „ungesellige Wesen“ des Menschen die Vervollkommnung der Menschheit vorantreibt), als „List der Vernunft“ (die sich als Resultante widersprechender Handlungen und Zielsetzungen hinter dem Rücken der Menschen durchsetzt) oder als Zwang (wie beim Fortschritt der Technik, der sich aus der Konkurrenz der Kapitalisten bei Strafe des Untergangs ergibt). Einen wichtigen Autor mit seinem unter heutigen Verhältnissen skurril anmutenen Gottvertrauen hat sich Annette Schlemm bei der Diskussion dieses Themas allerdings entgehen lassen. Für Alexis de Tocequille ist der unausweichliche Fortschritt zur Demokratie durch göttlichen Willen gewährleistet, der sich der Menschen als „blinder Werkzeuge“ bedient. Zu diesen Werkzeugen gehören, wie er schreibt, nicht nur diejenigen, die sich für die Demokratie einsetzen, sondern (und ganz besonders) auch diejenigen, die sie bekämpfen. Donald Trump wäre, so gesehen, das blinde Werkzeug Gottes für den Fortschritt der Demokratie in Amerika, in der die Politiker dann nicht mehr käuflich sind und ihre Politik nach den Interessen derjenigen ausrichten, die ihren Wahlkampf durch großzügige Spenden finanzieren.

In eigenen Abschnitten behandelt Annette Schlemm die Fortschrittsbegriffe von Marx und Darwin, die bei aller Verschiedenheit das Gemeinsame haben, dass sie den Fortschritt post festum darstellen. Erst nachdem das Ziel (die kapitalistische Produktionsweise bzw. der homo sapiens) erreicht war, wird rückblickend nach den Bedingungen und den Etappen gefragt, über die dieses Ziel fortschreitend tatsächlich erreicht wurde. „In der Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen“, erst vom fortgeschrittenen Stadium einer Entwicklung können die Stadien begriffen werden, die ihm geschichtlich vorausliegen. Der zitierte Satz stammt nicht von Darwin, sondern von Marx.

Ein grundlegendes Problem des „Fortschritts“, das ausführlich zur Sprache gebracht wird, ist die Ungleichzeitigkeit, mit der sich verschiedene Bereiche der Gesellschaft entwickeln (wie etwa die Kunst, die unter zurückgebliebenen ökonomischen Verhältnissen ein Höchstmaß an Vollkommenheit erreicht hat) und, mehr noch, die gegenläufige Entwicklung verschiedener Bereiche, für die sich viele Beispiele anführen lassen. Mit dem Anwachsen des gesellschaftlichen Reichtums etwa wächst auch die Spaltung der Gesellschaft und die Verbreitung relativer Armut; die wachsende Herrschaft über die Natur geht mit der Ohnmacht gegenüber dem fortschreitenden Klimawandel einher. An diese Überlegungen schließt sich reibungslos die Kritik an den verschiedenen Konzepten des „Fortschritts“ an: wenn etwa die ungewollten „Nebenwirkungen“ die gewollten Ziele übersteigen und konterkarieren. Ausführlich referiert Annette Schlemm die Kritik am Fortschritt, die schon von Oswald Spengler oder Ludwig Klages (in reaktionärer Weise mit Richtung auf die Erhaltung des status quo), in reflektierterer Form dagegen von Walter Benjamin (der die unter der Sozialdemokratie verbreitete Annahme, man schwimme „in Strom“ des automatischen Fortschritts, anprangert) oder den Autoren der Dialektik der Aufklärung (die der Entzauberung der Welt das „triumphale Unheil“ der vollends aufgeklärten Welt entgegensetzen) vorgetragen wurde. Schon Ernst Bloch kritisierte den verbreiteten Eurozentrismus der meisten Fortschrittstheorien, als wäre die europäische Zivilisation das Maß und Ziel, auf das sich alle anderen Erdteile und Kulturen zubewegen sollten.

Am Ende ihres lesenswerten Buches widmet sich Annette Schlemm einer „rettenden Kritk“ des Fortschrittsbegriffes, die sie in einer Reihe von Thesen vorträgt. Wer sich grundsätzlich gegen Fortschritt ausspricht, meint offenbar, dass alles so bleiben soll, wie es ist. Manche, wie der Fürst von Salina, meinen allerdings auch, dass sich vieles ändern muss, damit alles beim Alten bleibt. Worauf es beim „Fortschritt“ ankommt, sind die Ziele und die darin zum Ausdruck kommenden Interessen. Ohne solche Zielvorstellungen exitiert keine Orientierung, weder für die Beurteilung von politischen oder sozialen Ereignissen, noch für das eigene Handeln. Auch wenn sich der Begriff des Fortschritts nicht mehr auf die Gesellschaft als ganzer, sondern nur noch auf Teilbereiche bezieht, ist er doch letztlich auf Emanzipation, das heißt auf die Freiheit und deren Verwirklichung gerichtet: auf die Befreiung von Not und Unwissenheit, von Knechtschaft, Krieg, Ausbeutung und Angst.

Dausner – Migration und Hospitalität

René W. Dausner (Hg)

Migration und Hospitalität. Im interdisziplinären Gespräch mit Donatella Di Cesare

br., 224 Seiten, 29,00 Euro

Baden-Baden 2025 (Nomos-Verlag)

von Bernhard Schindlbeck

Es geht hier um ein eminent wichtiges und interessantes Buch, das den Leser, der sich ernsthaft darauf einlässt, wirklich ins Nachdenken bringt. Wichtig ist es schon deshalb, weil es dankenswerterweise deutlich macht, inwiefern seit 2015 die politische, aber auch die akademische Diskussion über Migration von einem extrem verengten und bornierten Standpunkt aus, vorwiegend dem einer allfällig behaupteten „territorialen Souveränität“ einer vermeintlich „autochthonen Bevölkerung“ geführt wird. Ziel des Buches ist, wie Herausgeber René Dausner schreibt, den „innovativen Ansatz der italienischen Philosophin Donatella Di Cesare aufzugreifen und in einem ausführlicheren Kontext zur Geltung zu bringen“ (9). Die Beiträge beziehen sich in unterschiedlicher – zustimmender, kritischer, ergänzender und weiterführender – Weise auf Donatella Di Cesares Buch Philosophie der Migration (deutsch 2024), dessen aussagekräftiger Originaltitel Stranieri residenti. Una filosofia della migrazioni im Deutschen nicht hinreichend zur Geltung kommt; denn, so Dausner, die „zentrale Figur des Buches ist der ansässige Fremde“ (10). Es geht also um den Umgang mit Fremden, Fremdheit und Alterität, um Grenzen bzw. Ausgrenzung, Territorien, Wanderung, Gastfreundschaft, gemeinsames Wohnen, Recht und Rechtlosigkeit.

Nach der Einleitung des Herausgebers folgt zunächst Di Cesares eigener Beitrag Wer sind die Migranten? Versuch einer Phänomenologie, bevor in zehn Aufsätzen aus mehreren Perspektiven verschiedene Interpretationen, Einwände, Bezüge zu anderen philosophischen Ansätzen (vor allem zu Derrida und Levinas) und zu historischen Vorgängen und Entwicklungen entfaltet und diskutiert werden. Den Schluss bildet eine Replik Di Cesares auf die kritischen Anmerkungen und auf Darstellungen, in denen sie sich nicht richtig verstanden sieht.

Johann Szews (Magdeburg) nimmt im Ausgang von Carl Schmitts Demokratie-Verständnis („Zur Demokratie gehört also erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“) das in den meisten politischen Migrationskonzepten heute vorherrschende Phantasma der Homogenität der in den staatlichen Grenzen lebenden Bevölkerung in den Blick und zeigt, inwiefern die Vorstellung der Homogenität der Bevölkerung eine von (nicht nur rechtsextremen) Politikern gern und gezielt bediente Vorstellung ist, um die „Identität eines Volkes“ zu konstruieren, „bevor soziale Unterschiede ins Spiel kommen können“ (93). Die behauptete Homogenität einer angeblichen autochthonen Bevölkerung hat selbstredend einen ideologisch-integrierenden Zweck, der zu der Exklusionsdynamik führt, die gegenwärtig zu beobachten ist. „Weil die Volksgemeinschaft auf Bestätigung gegenüber der Realität angewiesen ist, sich immer wieder neu gegen die letztendliche Unbestimmtheit der Grenzen des Volkes bestimmen muss, werden ständig ‚Gemeinschaftsfremde‘ markiert und ausgegrenzt“ (94). Dagegen formuliert Di Cesare „eine migrationsphilosophische Intervention, die jedem Phantasma der Homogenität widerspricht und stattdessen die Position irreduzibler Heterogenität und Fremdheit einnimmt. Es geht ihr um eine Umkehrung der Perspektive: Die Philosophie sollte aus der Perspektive der Migrant:innen denken, und nicht den Blick der Volksgemeinschaft oder der staatlichen Souveränität übernehmen“ (98 f.).

Eine wichtige Klarheit schaffen Andreas Hetzel und Amanda Malerba (Hildesheim) mit der Feststellung: „Di Cesare sucht nicht [wie so viele andere Publikationen, kann man als Leser gedanklich ergänzen], einfach nach Antworten auf das vermeintliche ‚Problem‘ der Migration oder auf eine vermeintliche ‚Migrationskrise‘. Dieser Begriff, der seit 2015 auch in der akademischen Philosophie verwendet wird, zeichnet die Sesshaftigkeit und das Privileg, über ein Territorium als exklusiven Besitz zu verfügen, von vornherein als Normalform aus. Dafür steht exemplarisch die von der GAP (Gesellschaft für analytische Philosophie) im Jahr 2015 ohne jede Ironie ausgeschriebene Preisfrage ‚Welche und wieviele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?‘ In dieser Frage manifestiert sich ein im Sinne Michel Foucaults ‚gouvernementales‘ oder im Sinne Jacques Rancières ‚polizeiliches‘ Verständnis des Philosophierens als Instanz einer sozialtechnischen Problemlösung bzw. einer Abarbeitung von Kollateralschäden des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses“ (48). In ihrem Beitrag Migration und Kohabitation referieren sie (ausführlicher als einige andere Autoren) Di Cesares Vergleich des Umgangs und Zusammenwohnens mit den Fremden in den antiken Städten Athen, Rom und Jerusalem. Athen war die „erdverbundene“ souveränistische Stadt der Autochthonie, die anderen die Zugehörigkeit strikt verweigerte, während Rom mit seiner Expansionspolitik und dem „Versuch, die Eroberten an das Imperium zu binden“ (52), in seinem offeneren Konzept die Bürgerschaft „ausschließlich juristisch“ definierte und von Geburt, Herkunft und Wohnort löste. Schon Aeneas war ja ein Flüchtling. „Das biblische Jerusalem“ jedoch, „das uns aus der Tora und dem Talmud bekannt ist, erlaubt uns aus Di Cesares Sicht, die Dichotomie von Staatsbürgern und Fremden vollends zu dekonstruieren. Diese Dekonstruktion wird möglich, weil sich Fremdsein und Wohnen in der ‚hebräischen Landschaft‘ nicht trennen lassen. Jerusalem ist vor allem die Stadt des [hebr.] ger, des ansässigen Fremden: Alle, die ‚hier‘ sind, sind ‚nicht von hier‘, so dass die Rede von Fremden ihren Sinn verliert.“ Die Fremdheit bilde damit, wird Di Cesare zitiert, „den Grund und das Fundament von Gemeinschaft“ (53).

Judith Kohlenberger (Wien) fragt ganz direkt: Wem gehört das Land?, um das „Spannungsverhältnis zwischen Universalität und Souveränismus“, in dem der „ansässige Fremde“ sich befindet, auszuloten. „Der universelle Anspruch von Menschenrechten stand von Beginn an den speziellen Rechten, die der Staatsbürgerin zuteilwerden, diametral gegenüber“ (153). Sie verweist auch auf das von Chantal Mouffe konstatierte „demokratische Paradox“, dass die von den politischen Prozessen Ausgeschlossenen als ansässige Fremde dennoch den von den Eingeschlossenen gemachten Gesetzen (z.B. als Steuerzahler) unterworfen sind, ohne auf diese Einfluss nehmen zu können. „Ja mehr noch, sie sehen sich dem rechtlichen Zirkelschluss gegenüber, dass das Volk bestimmt, wer auch perspektivisch zum Volk gehören darf, und zu welchen Bedingungen“ (152). Eine unfreiwillige Bestätigung für diesen territorialen Souveränismus und die Sesshaftigkeit als „Privileg, über ein Territorium als exklusiven Besitz zu verfügen“ (Hetzel/Malerba, 48), liefert etwa Julian Nida-Rümelins Buch Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration (2017), in dem der Autor genau jenen national-territorialen Besitz-Souveränismus vertritt, gegen den Di Cesare sich wendet. Die „Legitimation von Grenzen“ begründet Nida-Rümelin mit der Analogie der eigenen Wohnung, die für alle Fremden, die nicht in der Wohnung leben, eine „legitime Grenze“ darstelle, denn: „Ich kontrolliere als Wohnungseigentümer oder Mieter den Zutritt zu dieser Wohnung und mein Status als Eigentümer oder Mieter gibt mir individuelle Rechte, darunter das Recht, den Zutritt oder den Aufenthalt zu verweigern, auch im Falle, dass die [fremde] Person gute Gründe hat, sich den Zutritt oder den Aufenthalt zu wünschen“. Nida-Rümelin entgeht hier völlig, dass er juridisch vom schon gesetzten Recht aus und völlig zirkulär argumentiert: Ich habe das Recht, weil ich das Recht habe. Der Fremde hat nur einen „Wunsch“, aber eben kein Recht. Nida-Rümelin dehnt ganz einfach die politische Ideologie des Besitzindividualismus auf einen vermeintlichen nationalstaatlichen „Besitz“ aus, um die inhumane Politik der Zurückweisung von Schutzsuchenden zu rechtfertigen. Mit Ethik hat das zwar nichts zu tun, aber genau so funktionieren die propagandistisch-ideologischen Mechanismen des gegenwärtigen Migrationsdiskurses, der dann die Floskel von der „illegalen Migration“ erfolgreich verbreitet.

Das in Di Cesares Phänomenologie so wichtige „Zusammenwohnen“, das Margit Eckolt (Osnabrück) ins Zentrum ihres Beitrags stellt, würden Nida-Rümelin und die politische Kaste, die er so gerne berät, gar nicht verstehen. „Gerade den Fremden – und hier knüpft Di Cesare an Emmanuel Levinas und Jacques Derrida an – kommt im Blick auf die Frage nach dem Wohnen besondere Bedeutung zu“ (165). Denn der Fremde „erschüttert“ das Wohnen, er „entäußert und entwurzelt“, er „entkoppelt“ von Eigentum, Zugehörigkeit und vom Haben, „und steht für eine Gestalt von Existenz, die mit einem ‚transitorischen Aufenthalt‘ verbunden ist, und so wird diese Gestalt zur ontologischen Grundfigur einer Philosophie der Migration“ (165). Zustimmend zu einem ius migrandi als Menschenrecht zitiert Eckholt ausführlich: „Der Horizont einer Gemeinschaft, der sich von der Nation, der Geburt und der Abstammung losgesagt hat und sich der im Namen des Blutes begangenen Verbrechen sowie der im Namen des Bodens geführten Kriege erinnert, die sich des Exils bewusst ist, die offen ist für Gastfreundlichkeit, die sich in die Lage versetzt, politischen Formen stattzugebnen, in denen das Immune dem Kommunen und Gemeinsamen den Vortritt lässt“ (163). Ekholt betont Di Cesares Anliegen, „die Gastfreundschaft auf [der] Ebene des Rechts zu verankern, und zwar nicht nur wie bei Immanuel Kant als ein ‚Besuchsrecht‘, sondern als ein ‚Wohnrecht‘“ (167).

Annabel Herzog (Jerusalem) kontrastiert Di Cesares Ansatz mit der von dem jüdischen Talmudisten und Religionsphilosophen Daniel Boyarin vorgeschlagenen „No-State Solution“ für Palästina; er hält als orthodoxer Jude die Diaspora für die eigentliche (oder soll man sagen „richtige“) Heimat der Juden, die somit keinen Staat im traditionellen Sinn brauchen. „Für Boyarin hat das Judentum nichts mit der Staatsbürgerschaft zu tun, und daher kann ein Jude Bürger eines jeden Landes sein. Gleichzeitig kann ein Jude nur im Talmud (einer Synekdoche für die jüdische Kultur) national zu Hause sein, der als ‚reisende Heimat‘ dient“ (81). Kritisch vermerkt Herzog die „Tatsache, dass weder Di Cesare noch Boyarin in ihren Büchern politische Leitlinien anbieten“ und „keine konkreten politischen Pläne oder Institutionen vorschlagen“ (85). Denn „das grundlegende Problem der staatszentrierten Souveränität“ und der „Starrheit der Grenzen“ bleibe ungelöst (87). Zur „Sicherung des Wohlergehens der Migrant:innen“ seien Strukturen erforderlich. Wie kann, fragt sie, „unterdrückten Menschen geholfen werden, wenn es keine Strukturen zur Bekämpfung von Herrschaft und Unterdrückung gibt? Zweifellos erhalten die Unterdrückten der Welt derzeit keine angemessene Hilfe, aber würden sie ohne demokratische Souveränität überhaupt Hilfe erhalten?“ (ebd.)

Jürgen Manemann (Hannover) rückt den ethischen Anarchismus Di Cesares in den Vordergrund. Seiner Feststellung: „Migrant:innen besitzen ein Wissen davon, dass die Ordnungen des Zusammenlebens in gewisser Weise einen künstlichen Charakter haben, mithin auch ganz anders aussehen könnten“ (62), liegt eine bedeutende (wenn auch weitgehend ignorierte) politische Einsicht hinsichtlich der Kontingenz des jeweils Bestehenden zugrunde. Di Cesares ethischer Anarchismus beinhaltet mit seinem „Potenzial von produktiven Destabilisierungen“ in seiner Konsequenz, „auch Praktiken einer ‚anarchischen Revolte‘ aufzuspüren, durch die die staatszentrierte Ordnung auf Neues hin aufgebrochen wird“ (65). Als Fazit mündet dieser Beitrag in einer Aufgabe für die Philosophie: „Di Cesare gelingt es, die Notwendigkeit eines ethischen Anarchismus dadurch auszuweisen, dass sie sich den einhegenden Mechanismen exophober Solutionismen entzieht und so das Potenzial von Philosophie als Problemlösungsverweigerungspraxis freilegt. Ein solcher Anti-Solitionismus, der gegen eine Nekropolitik in Stellung gebracht wird, dispensiert die Philosophie allerdings nicht davon, Menschen zu helfen, eine Haltung auszubilden, die eine Praxis lebbar macht, die dem Anspruch eines ethischen Anarchismus entspringt – eine Leerstelle in der ‚Philosophie der Migration‘. Eine Philosophie der Migration hätte deshalb die Aufgabe, auch die lebenspraktische Dimension von Philosophie herauszuarbeiten, um Menschen darin zu empowern, Fähigkeiten zu erwerben, um sich aktiv in das Zusammenleben einzubringen“ (65).

Eine interessante und wohl die radikalste Kritik an die Di Cesare trägt Carsten Lotz (Mannheim) bei. Unter dem Titel Die gescheiterte Migration nimmt er einen Satz aus Di Cesares Nachwort zur deutschen Ausgabe zu seinem Ausgangpunkt: „Als letzte Version des zeitgenössischen Elends, die sogar über die wirtschaftliche Erniedrigung hinausgeht, stellt der Migrant in seiner unrechtmäßigen Nacktheit das Gespenst des Gastes dar, den seiner Sakralität und seines epischen Anderswo entkleideten Fremden.“ In fünf kurzen Abschnitten unterzieht er die Begriffe „Letzte Version des zeitgenössischen Elendes“, „Unrechtmäßige Nacktheit“, „Das Gespenst des Gastes“, „Sakralität und episches Anderswo“ und „Der entkleidete Fremde“ einer so radikalen wie minutiösen Kritik, um zu zeigen, inwiefern Di Cesare „die Begrifflichkeiten einer Philosophie der Sesshaftigkeit und der Identität“ letztlich doch nicht los wird (103). „Ein ius migrandi,“ so Lotz, „kann es nicht als solches geben, weil sich ein Recht auf ein Mitglied einer Gesellschaft bezieht und der Migrant an der Grenze jener Gesellschaft steht“ (108). Er beharrt also darauf, dass die von Kant im „Dritten Definitivartikel zum ewigen Frieden“ formulierte Hospitalität „kein Recht sui generis“ sei, nur ein Besuchsrecht und kein Bleiberecht. „Der Gast kann auch wieder weggeschickt werden, denn das Recht der Hospitalität ist beides: ein Recht des Gastes und ein Recht des Wirtes, eine Pflicht des Gastes und eine Pflicht des Wirtes“ (109). Auch die allgemeine Hospitalität brauche „einen Gastgeber, der sich in seiner Verantwortung für den Gast als solcher erweist. Wenn wir alle nur noch migrieren, gibt es weder Gäste noch Gastgeber. Wenn es nur noch andere gibt und keine Hierarchie mehr, gibt es keine Gerechtigkeit mehr“ (114). Di Cesares „radikaler Pluralismus“ lasse „das Fremde nicht mehr erkennbar werden“ (ebd.). Er fragt, ob aus dem von ihr propagierten ius migrandi nicht „ein ius considendi“ werde, ein „Recht, sich niederzulassen, ein Recht zu siedeln, wie es von den Philosophen der Kolonialzeit auch geprägt wurde“ (111). Zweifelhaft an dieser Kritik ist, weshalb Hierarchie eine Bedingung für Gerechtigkeit sein sollte; ebenso die gedankliche Verbindung von Migration und Besiedlung, wie man sie aus dem Kolonialismus kennt, die durch die assoziativen Vorstellungen von Siedeln, Niederlassung und Landnahme zustande kommt. Genau gegen diese falsche Gleichsetzung von Migranten und Siedlern erhebt Di Cesare in ihrer Replik am Ende des Buches Einspruch, denn die Gleichsetzung fällt zurück in die falsche dichotomische Fixierung auf die Autochthonen und die Fremden.

In seinem Beitrag Ende oder Endlichkeit der Gastfreundschaft kritisiert Stefan Gaßmann (Münster) Di Cesares Lévinas-Interpretation, in der er den „Vorwurf an Lévinas“ entdeckt, „dass dessen Denken dazu führe, Gastfreundschaft als ‚außerpolitische, ethische Instanz‘ zu verstehen“. In einer subjektphilosophischen Wendung denke Lévinas (laut Di Cesare) lediglich die ‚Geste des Empfangs‘, ohne aber eine ‚Philosophie der Aufnahme‘ zu entwickeln, die „der konkreten Aufnahme des Anderen Rechnung“ tragen würde. „Die Antwort auf die Infragestellung durch den Anderen bliebe damit in Lévinas‘ Philosophie gleichsam aus, weil die ethische Verantwortung für den unendlichen, unbedingten Anspruch des Anderen, in der endlichen Politik nicht rein gewahrt bleiben könne und Gastfreundschaft als reale Aufnahme daher nicht rechtlich institutionalisierbar sei“ (118). Sie verbleibe also auf einer ethischen Ebene und damit in einer „außerpolitischen Sphäre“. Gaßmann wirft Di Cesare vor, dass „die Konturen dessen, was sie mit Politik im allgemeinen und einem politischen Begriff von Gastfreundschaft im Speziellen meint, reichlich farblos und unspezifisch“ bleiben; denn „abgesehen von einer emphatischen Einforderung der Aufnahme und einer das Zusammenwohnen mit Fremden ermöglichenden Politik, gibt PM (i.e. Philosophie der Migration) wenig Orientierung, welche kritischen Maßstäbe für die konkrete Umsetzung der Aufnahme die Philosophie bereitstellen könnte“ (ebd.). Im Folgenden referiert der Beitrag zentrale Stellen aus Lévinas‘ Hauptwerken Totalität und Unendlichkeit und Jenseits des Seins, um Di Cesares Interpretation zu widerlegen. In ihrer Replik antwortet sie: „Meine Kritik des Souveränismus wäre undenkbar ohne die Reflexion von Lévinas auf das souveräne Ego, das den Anderen eliminiert – bis hin zu Auschwitz. Ich habe nie behauptet, dass das Denken von Lévinas oder das von Derrida unpolitisch wäre“ (207). In seinem letzten Abschnitt aber verfällt Gaßmann selbst dann doch in den sattsam bekannten Politiker-Sound, wenn er etwa die Forderungen nach Integration („keine Abwertung von Andersheit“), Institutionen, Grenzen und Schranken sowie Rechte und Pflichten verteidigt.

Naika Foroutan (Berlin) erörtert die Ambivalenz der Hospitalität in postmigrantischen Gesellschaften und fragt: „Wem gebührt die Gastfreundschaft und wer hat das Recht, sie zu gewähren?“ Ihr Ausgangspunkt sind vor allem Ergebnisse empirischer Forschung. „Die postmigrantische Gesellschaft ist von zurückliegender und aktueller Zuwanderung eines Teils der Bevölkerung geprägt und Migration ist politisch als konstitutiver Bestandteil der Gesellschaftsordnung anerkannt – auch wenn die Einstellungen eines relevanten Teils der Bevölkerung dazu negativ sein mögen“ (131). Im Ausgang von dieser Definition wird die konkrete Spaltung der Gesellschaft „in jene, die mit Pluralität, Hybridität und Ambivalenzen umgehen können, und jene, die sich dadurch verunsichert fühlen oder diese radikal ablehnen“, beschrieben. Auch Migranten der zweiten oder dritten Generation, die sich selber inzwischen zur „ursprünglichen“ Bevölkerung zählen, können ihre vermeinten „Privilegien“ durch Neuankömmlinge bedroht sehen. Mit einer solchen „zunehmenden demographischen und generationalen Heterogenität pluralisieren und hybridisieren“ sich Herkünfte, was „postmigrantische Aushandlungen“ (132), damit aber auch das Versprechen der Gleichheit erschwert, da immer mehr Gruppen das Recht der Gleichheit beanspruchen. „Migration ist dabei zu einer Chiffre geworden, in der die Abwehrphantasien kulminieren“ (139). Wenn die Nachfahren von Migranten selber den Anspruch erheben, „zu entscheiden, wer willkommen ist und wer nicht“, dann wird „die Idee der Hospitalität zunehmend unschärfer“ (148). Foroutans Fazit, dass die Migranten damit „auf eine zukünftige Art des Zusammenwohnens“ zeigen, die (Di Cesares Denken entsprechend) „nicht im Bann der Verwurzelung verbleibt, sondern in der Öffnung einer vom Besitz des Territoriums befreiten Bürgerschaft und einer Gastfreundschaft existiert“ (148), scheint eher ein Wunschdenken als in empirischer Analyse fundiert zu sein.

Regina Polack (Wien) überlegt, in welcher Weise Di Cesares Philosophie mögliche Anschlüsse für die praktische Theologie, d.h. für ihre Arbeit als Pastoraltheologin bereithält. Das vielfältige konkrete historische Versagen des Christentums im Umgang mit Fremden, z.B. eroberten Völkern, nennt sie „Schmerzpunkte für die deutschsprachige Theologie“, die es zu erkennen gilt und zu einer Umkehr nötigen. Einigermaßen seltsam mutet ihre Frage an: „Haben wir das gemeinsame Wohnen auf der Erde verlernt, das Di Cesare so eindringlich beschreibt …?“ Denn die Rückfrage würde lauten: Haben wir (wer immer das ist) es denn jemals gekonnt? In der alltäglichen Arbeit in der christlichen Gemeinde jedenfalls muss die Theologin auch bei nur kleinen Schritten in Richtung der Anerkennung von Migranten-Rechten „auf die Perspektive der Sesshaften Rücksicht nehmen“ (194), um überhaupt Gehör zu finden. „Politisch sind Di Cesares Forderungen derzeit in Europa schlicht und ergreifend nicht realisierbar“ (195).

Isabella Bruckner (Rom) sucht zu Di Cesares Migrationsphilosophie biblisch-christliche Ressourcen europäischer Gastlichkeit, sind doch die Erzählungen im Alten und Neuen Testament voll mit den Themen der Fremdheit, der (Nicht-)Zugehörigkeit, der Wanderung und der Gastlichkeit, und in all ihrer Fülle hilfreiche und notwendige Interpretamente, die implizit deutlich machen, was einer analytisch-philosophischen Auseinandersetzung mit dem Thema und ihrem letztendlich immer utilitaristischen Bezug für ein echtes Verständnis mit der Problematik fehlt. Neben den vielen etymologischen Verweisen werden natürlich die (bekannten oder weniger bekannten) relevanten Textstellen genannt, „Erzählungen des Fluchs, wo die Gastfreundschaft den Fremden verweigert oder sie sogar gewaltsam missbraucht wird“ (178), das christliche Gleichnis vom barmherzigen Samariter, oder der Spruch Gottes als Weltenrichter am Ende der Zeit, der in Matthäus 25,34 die Aufnahme des Fremden als das entscheidende Kriterium für die Trennung der Erlösten von den Verfluchten benennt, was Bruckner aber nicht wörtlich zitiert. („Geht weg von mir ihr Verfluchten, … denn ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen.“) Leser, denen alles Theologische suspekt ist, können diese eschatologische Trennung als Metapher für die Unterscheidung von gelingendem und misslingendem Leben im Diesseits interpretieren. Am wichtigsten in dieser theologisch-phänomenologischen Herangehensweise ist aber wohl, „dass Gott selbst der Fremde/Gast ist“ (177). Zum Beispiel in der Erzählung von Abraham und den drei Fremden. Auch auf die Bedeutung der Gastlichkeit in der von Benedikt von Nursia und seinen Regeln begründeten Gemeinschaft der klösterlichen Lebensform geht Bruckner ausführlich ein.

Der nicht zu übersehende Unterschied zwischen Di Cesares phänomenologischer Philosophie und der analytischen Philosophie (den, wie erwähnt, auch Hetzel und Malerba hervorheben) wird von Di Cesare selbst ausdrücklich thematisiert, nämlich in ihrer entrüsteten Replik auf einen Gedanken Judith Kohlenbergers, die gegen Ende ihres Aufsatzes schreibt: „Di Cesares Konzept des ‚Zusammenwohnens‘ erinnert in seiner gleichzeitigen Schlichtheit wie Radikalität an das Gedankenexperiment des Schweizer Philosophen Andreas Cassee, das wiederum auf den ‚Schleier des Nichtwissens‘ von John Rawls zurückgeht.“ Cassee fragt in seinem Essay Globale Bewegungsfreiheit (2016) so ähnlich wie Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit: „Auf welche Grundsätze für den Umgang mit internationaler Migration würden wir uns einigen, wenn wir nicht wüssten, welche Staatsangehörigkeit wir besitzen, welcher sozialen Schicht wir angehören und welche Vorstellung von einem gelingenden Leben wir verfolgen?“ (159) Wenn man so einen hypothetischen Moment vor der eigenen Geburt imaginiert, kann man eine Antwort geben auf die Fragen, „welche Einwanderungsgesetze, welche Grenzkontrollen (und deren Durchsetzung), welche Form der humanitären Aufnahme (und Höhe der Kontingente), welches internationalisierte Passsystem würden wir uns wünschen?“ (ebd.) Das sog. „Gedankenexperiment“ läuft also schlicht darauf hinaus, sich in einen an einer europäischen Grenze zurückgewiesenen afrikanischen Flüchtling, der gerade dem Ertrinken im Mittelmeer zufällig entronnen ist, hineinzuversetzen. Aber genau diese Empathie wird ja von den europäischen Politikern (und den meisten Bürgern) bekanntlich massiv abgelehnt. Di Cesares Einwand lautet: „Schon aufgrund meines philosophischen Hintergrunds habe ich mich nie des Instrumentariums eines Gedankenexperiments bedient, ein Verfahren, das bekanntlich im Denken analytischer Prägung verbreitet ist und das ich wegen seiner heillosen ethischen Konsequenzen heftig kritisiert habe – sowohl in Philosophie der Migration (gerade mit Bezug auf Rawls) als auch beispielsweise in Folter (2023). Jenseits dieser methodischen Notiz fällt bei diesem Urteil jedoch das grundsätzliche Missverständnis gerade bezüglich eines so heiklen und komplexen Themas in die Augen“ (216). Was die analytischen Moralphilosophen, die sich so gerne auf „unsere Intuitionen“ (z.B. Harry G. Frankfurt: „our moral intuitions“) verlassen, nicht begreifen wollen, ist, dass diese Intuitionen (wie Nida Rümelins Buch Über Grenzen denken unfreiwillig bestätigt) immer schon von den bestehenden (herrschenden) Verhältnissen und jahrhundertealten egoistischen Praktiken geprägt sind, deren Legitimität erst aufzuweisen die Aufgabe der Moralphilosophie wäre; kurzum: dass sie einem von ihnen nicht erkannten Zirkelschluss das Wort reden. (Unsere Intuition: Dass nur ich bestimme, wer außer mir in meiner Wohnung oder meinem Haus wohnen darf, ist doch selbstverständlich. Analog bestimmen wir, wer in unser Land kommen darf. Olaf Scholz: „Wir dürfen uns aussuchen, wer zu uns kommen darf und wer nicht.“) Nicht zuletzt in dieser scharfen Abgrenzung von einem sowohl in philosophischer als auch ethischer Hinsicht desaströsen Denken wird mit dem Buch das von Dausner in der Einleitung gesetzte Ziel erreicht, Di Cesares innovative Philosophie der Migration in einem umfassenderen Kontext darzustellen. Und es wird deutlich, wie notwendig in einer sich immer stärker abschottenden „Festung Europa“ die Auseinandersetzung mit ihr ist.

Carlos Ulises Moulines – „nomen est omen“


Carlos Ulises Moulines (* 1946 in Caracas, Venezuela) studierte in Barcelona Physik, Philosophie und Psychologie und promovierte 1975 in Logik und Wissenschaftstheorie. Von 1993 bis 2012 war er Ordinarius für Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie an der Universität München und Vorsitzender des Instituts. Er ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und war von 1997 bis 2000 Präsident der Gesellschaft für Analytische Philosophie.

Das Angebot des Widerspruch, eine kurze Selbstbiographie für die Rubrik „Münchner Philosophie“ zu schreiben, nehme ich gerne wahr. Es stellt eine willkommene Gelegenheit dar, mir Gedanken darüber zu machen, wieso ich Philosoph, dazu noch „Münchner Philosoph“, geworden bin, und die Ergebnisse all denen mitzuteilen, die erfahren möchten, was zur Fauna der Münchner Philosophie gehört.

Als meine Eltern beschlossen, mir als Vornamen die hispanisierte Version des altgriechischen „Odysseus“ zu geben, ahnten sie wohl nicht, wie sehr sie dadurch meinen Lebenslauf vorbestimmten. Inzwischen bin ich zu der festen Überzeugung gelangt, dass im lateinischen Spruch „nomen est omen“ ein Körnchen Wahrheit steckt – auch wenn Sie, liebe LeserInnen, dies als einen des Philosophen unwürdigen Aberglauben abtun sollten! Das ständige Herumvagabundieren des Helden von Homer habe ich, teils gewollt, teils ungewollt, nach Kräften nachgeahmt, und zwar nicht nur in geographischer, sondern auch in geistiger Hinsicht.

Ich bin in Venezuela geboren, wohin die Wirren des spanischen Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs meine Eltern verschlagen hatten. Sie waren Anhänger der spanischen Republik und mussten aufgrund von Francos Sieg zunächst nach Frankreich fliehen. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen wurden sie als „Fremdarbeiter“ nach Deutschland verschleppt. Abgesehen von den Phosphor-Bomben und von einem (verhältnismäßig kurzen) Aufenthalt meines Vaters in den Kerkern der Gestapo, war ihre Zeit in Nazi-Deutschland nicht so schlimm, wie sie zunächst befürchtet hatten. Als der Krieg zu Ende ging, gelang es ihnen unter abenteuerlichen Umständen, nach Venezuela auszuwandern.

Die deutsche Erfahrung meiner Eltern sollte sich als entscheidend für meine spätere Laufbahn erweisen, und dies aus zweierlei Gründen: Erstens haben sie mir seit frühester Kindheit eingeprägt, dass Deutschland nach wie vor, trotz Hitler & Co., eine grosse Kulturnation sei; und zweitens ließen sie mich öfters, da sie gute Freundschaften in Deutschland geknüpft hatten, die Ferien hier verbringen, wo ich zwar nie systematisch, wohl aber irgendwie funktional mit den Rudimenten der Sprache Brechts und mit der Komplexität der deutschen Seele einigermaßen vertraut wurde.

In Caracas machte mein Vater, der eine Ausbildung als chemischer Ingenieur hatte, eine wissenschaftlich-technische Buchhandlung auf, die sehr erfolgreich wurde. Jeden Tag nach dem Schulunterricht half ich ihm ein bisschen als Mann bzw. Kind für alles, und war notgedrungen konfrontiert mit Titeln der Art von „Partial Differential Equations“, „Thermodynamics of Irreversible Processes“ oder „Dynamics of Viscous Fluids“. Ich hatte zwar nicht die leiseste Ahnung, was sich hinter diesen Bezeichnungen verbergen konnte, doch beeindruckten sie mich sehr und blieben im Unterbewusstsein haften, gekoppelt mit der Mahnung: „Irgendwann musst du mal herausfinden, was dahintersteckt“. Unter den regelmässigen Kunden der Buchhandlung befanden sich viele Dozenten der naturwissenschaftlichen Fakultäten oder der Technischen Hochschule, die oft mit meinem Vater ins Gespräch kamen und Namen wie „Einstein“ oder „Darwin“, bzw. Wörter wie „Quanten“ und „Relativitätstheorie“ fallen ließen. Auch diese geheimnisumwobenen Ausdrücke regten meine Phantasie an.

Die Bücher, die ich zuhause in der umfangreichen, fünfsprachigen Bibliothek vorfand, waren von ganz anderer Art als die der Buchhandlung: vor allem politische Essays, Studien zur neueren Geschichte Lateinamerikas, Spaniens und Europas, viele Klassiker der Weltliteratur – und praktisch alle gesellschaftskritischen Schriften eines gewissen Bertrand Russell. Meine Eltern waren begeisterte Russell-Leser. Ich blätterte ab und zu mal rein, und nahm mir vor, irgendwann später Russells Essays genauer zu lesen. Aber damals zog ich selbstverständlich die Romane von Jules Verne oder die Erzählungen von Edgar Allan Poe bei weitem vor.

Angesichts der zunehmend instabilen Lage in Venezuela schickten mich meine Eltern, als ich kaum 13 Jahre alt war, zum Besuch des Gymnasiums nach Katalonien, zunächst in eine Kleinstadt zu einer Tante, dann nach Barcelona, wo ich das Abitur machte. Das war eine Zeit, an die ich mich heute noch mit Abscheu erinnere. Das Spanien der 60er Jahre litt noch unter einer grässlichen Diktatur. Die Oppositionellen wurden zwar nicht mehr so oft erschossen wie in den 40er und 50er Jahren – das war auch nicht mehr nötig, und zudem übte das Ausland einen gewissen Druck aufs Regime aus –, aber die bleierne, erstickende Atmosphäre war überall zu spüren: In den Polizeirevieren wurde systematisch gefoltert, Telefone wurden abgehört, nicht-gläubige Schüler wurden gezwungen, an der Schulmesse teilzunehmen, der öffentliche Gebrauch der Minderheiten-Sprachen, wie etwa des Katalanischen, war strikt verboten, viele, auch eher harmlose Bücher, wie etwa über Evolutionstheorie oder Sexualkunde, waren einfach nicht zu bekommen, usw. Und vor allem – man musste ständig aufpassen, was man sagte, und vor wem man es sagte.

Diese Erfahrungen waren schlimm, aber auch prägend. Seitdem weiß ich ganz genau, was für einen unermesslichen Wert es bedeutet, in einer echt freiheitlichen Gesellschaft zu leben. Es bedeutet nämlich, dass der Staat uns alle gefälligst in Ruhe lassen sollte, was unsere Meinungen und Überzeugungen anbelangt. Diese an sich banale Selbstverständlichkeit ist nach wie vor alles andere als gesichert. Nicht nur im heutigen, als so dynamisch und demokratisch gepriesenen Spanien gibt es immer noch eine beträchtliche Anzahl von Dummköpfen, die innerlich (oder sogar öffentlich) dem Franco-Regime nachtrauern. Auch in den älteren westlichen Demokratien findet allmählich und heimtückisch ein Rückgang in Richtung Reglementierung der Meinungsvielfalt statt, und zwar nicht nur in George Bushs Reich, sondern auch in Europa. Wir alle, die jüngere Generation aber ganz besonders, sollten auf der Hut sein. Es versteht sich von selbst, dass jeder Einschnitt in die Meinungsfreiheit, so klein er auch erscheinen mag, gerade für die Philosophie, aber nicht nur für sie, tödliches Gift darstellt.

Nach dem Abitur beschloss ich zunächst, mein Studium der Physik an der Universität Barcelona zu beginnen. Die offizielle Motivation war, dass ich wissen wollte, wie die Welt beschaffen ist. Der heimliche Grund aber war, dass ich endlich herausfinden wollte, was sich hinter den geheimnisvollen Titeln in der väterlichen Buchhandlung versteckte. Allerdings hatte ich damals schon auch damit angefangen, zahlreiche philosophische Texte verschiedenster Provenienz zu lesen. Ich hatte drei Lieblingsautoren. Einer war gewiss, schon aus familiären Gründen, Russell, hauptsächlich wegen seiner mathematikphilosophischen und erkenntnistheoretischen Werke, die mich sehr interessierten. Ein zweiter war der Tractatus-Wittgenstein, von dessen Existenz ich durch Russell erfahren hatte. Tag für Tag, Woche für Woche ackerte ich mich zusammen mit einem Freund durch jeden einzelnen Absatz dieses geheimnisvollen Werks durch. Wir verstanden wenig, aber fanden es sehr spannend. Die zwei Grundpfeiler von Wittgensteins Philosophie, die er im Vorwort explizit angibt: „Alles, was sich sagen lässt, lässt sich auch klar sagen“ und „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, empfand ich als absolut richtungsweisend, bedauerte allerdings, dass der Autor selbst offenbar nicht imstande war, sich daran zu halten. Trotz meiner eher kritischen Einstellung gegenüber Wittgensteins Stil des Philosophierens bin ich immer wieder auf Wittgenstein zurückgekommen. Jahre später sollte ich die Philosophischen Untersuchungen und Zettel ins Spanische übertragen.

Der dritte Lieblingsautor jener Zeit – und das wird manch einen, der meine philosophische Laufbahn kennt, überraschen – war Heidegger, insbesondere seine späteren Schriften. Ich war sogar davon überzeugt, dass ich sie verstand. Von Heideggers Zauberkunststücken mit der altgriechischen und der deutschen Sprache war ich regelrecht fasziniert. Während meines Physikstudiums, als ich mich durch die öden Differentialgleichungen gelangweilt fühlte, griff ich immer wieder zu den Holzwegen oder zu Was heisst Denken und bekam dabei das Gefühl, dass sich mir eine magische, erfrischende Welt öffnete. Doch bei der Lektüre von Heideggers Vorlesungen über Metaphysik stieß ich eines Tages auf die berüchtigte Stelle über „die innere Wahrheit der nationalsozialistischen Bewegung“. Es war ein regelrechter Schock. Die darauffolgende Entdeckung von Heideggers Rektoratsrede gab mir den Rest. Die Heidegger-Welle war für mich nun endgültig vorbei.

Heute weiß ich, dass dies ein voreiliger, philosophisch nicht gut fundierter Schluss war. Auch Frege war Antisemit – was jedoch seine logische Konstruktion der natürlichen Zahlen keineswegs falsch oder uninteressant macht. In jener Zeit aber wurde für mich durch diese Erfahrung klar, welche Art von Philosophie ich nicht ernst nehmen wollte; nicht klar dagegen war, welche ich ernst nehmen sollte, und ob ich mich überhaupt mit Philosophie systematisch beschäftigen wollte.

In dieser existenziell problematischen Lage half mir das Physik-Studium selbst zur endgültigen Entscheidung. Ich stand diesem zunehmend kritisch gegenüber. Nicht, weil mich der Stoff nicht interessiert hätte. Vielmehr ging es um die völlig kritiklose, dogmatische Art und Weise, wie er übermittelt wurde. Ich hatte das Gefühl, wie in einer erbarmungslos disziplinierten Armee, nur alles schlucken zu dürfen, was die Dozenten erzählten, und zur Anwendung fauler Tricks gedrillt zu werden, um Gleichungen zu lösen, oder um zu bewirken, dass unsere Laborversuche genau das zeigten, was ohnehin zu erwarten war. Jahre später las ich Thomas Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, insbesondere das, was er als die „normale Wissenschaft“ und das „puzzle-solving“ beschreibt, und ich erinnerte mich: „Tja! Genauso war es bei meinem Physik-Studium!“. Auch demgegenüber bin ich heute klüger geworden und weiss, dass gerade diese brutal-dogmatische Art, den angehenden Physikern die Grundlagen des Fachs einzuhämmern, eine wesentliche Voraussetzung für die unglaubliche Erfolgsstory der Physik ausmacht. Damals sah ich das aber nicht ein. Ein anekdotischer Vorfall brachte dann das Fass endgültig zum Überlaufen. In der Mechanik-Vorlesung erzählte uns der Dozent, dass das sog. Zweite Prinzip Newtons den absolut zentralen Grundsatz der Mechanik darstelle, da es die Definition des Kraftbegriffs beinhalte. Ich hob die Hand und fragte, wieso dieser Satz so fundamental sei, wenn er eine Definition darstellt; denn eine Definition ist nur eine sprachliche Konvention über den Gebrauch eines Terms, die keine neuen Erkenntnisse liefert. Der Dozent zeigte sich durch meinen Einspruch sehr verärgert und erwiderte, wer solche blödsinnigen Fragen stelle, solle gleich zur Philosophie übergehen.

Was ich dann auch tat. Ich begann mein formelles Studium der Philosophie. Das Physik-Studium habe ich allerdings nicht ganz aufgegeben, sondern nur etwas verlangsamt. Ich studierte beide Fächer parallel, um mich u. a. der lästigen Frage um Newtons Zweites Prinzip zu entledigen. Später dann sollte ich erfahren, dass die Frage nach dem logisch-methodologi­schen Status dieses Prinzips in der Tat keineswegs trivial ist, und dass bedeutende Physiker und Wissenschaftstheoretiker sich damit seit Ernst Machs Zeiten herumgeschlagen haben. Ich selber meine inzwischen, eine Lösung dazu gefunden zu haben, die ich in einigen meiner Schriften dargelegt habe.

So bin ich also dank der schroffen Zurechtweisung meines Mechanik-Lehrers zum Philosophen und Wissenschaftstheoretiker geworden.

In der barcelonesischen Fakultät für Philosophie hatte ich das Glück, durch einen frischgebackenen Schüler von Hans Hermes, Jesús Mosterín, eine gute Ausbildung in der modernen Logik und der axiomatischen Mengenlehre zu bekommen, was im damaligen Spanien keineswegs selbstverständlich war. Es war aber nicht so sehr die „reine“ Logik, die mich anspornte, sondern die Möglichkeiten ihrer Anwendungen auf erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Probleme. Nun fiel mir mehr oder wenig zufällig Carnaps Logischer Aufbau der Welt in die Hände. Es war ein Aha-Erlebnis. Hier ist endlich einer, dachte ich, der Russells „Maxime des wissenschaftlichen Philosophierens“ (nämlich intuitive Schlüsse durch logische Konstruktionen, auch im Fall der empirischen Erkenntnis, zu ersetzen) wirklich in die Tat umsetzt. Meine Magisterarbeit widmete ich in der Hauptsache der Analyse und Revision von Carnaps „Konstitutionssystem“. In erweiterter Form erschien meine Untersuchung ein paar Jahre später als Buch. Seitdem hat mich das Interesse an Carnaps hochkomplexem Werk und an den Möglichkeiten, sein Programm irgendwie weiterzuführen, nie ganz verlassen, und nach dem erwähnten Buch habe ich dazu noch einige Aufsätze sowohl ideengeschichtlicher als auch systematischer Art veröffentlicht.

In dieser Zeit bekam ich ein ernstes Problem mit den spanischen Behörden. Bei einer Demonstration gegen das Franco-Regime wurde ich verhaftet. Da ich einen venezolanischen Pass bei mir hatte, wurde ich nicht – wie sonst üblich – verprügelt und eingekerkert, dafür aber des Landes verwiesen. Nun war aber das damalige Spanien zwar ein Polizeistaat, aber kein perfekter: Francos Schergen haben es nämlich versäumt, sowohl der Universitätsverwaltung wie auch ihren Konsulaten in Europa mitzuteilen, dass ich ein unerwünschter Ausländer war. So fuhr ich mal nach Frankreich, mal nach Italien, mal nach England, um mir dort beim Konsulat ein Touristen-Visum für sechs Monate zu besorgen, womit ich wieder nach Barcelona kam, mich für die Kurse einschrieb und weiterstudierte. Ich wurde sozusagen zu einem Untergrund-Studenten. Dieses Katz-und-Maus-Spiel dauerte drei Jahre. Natürlich war es sehr stressig, aber ich habe es doch bis zum Magisterabschluss (für den ich ironischerweise einen Preis bekam) geschafft.

Mir war aber klar, dass dieses Spiel nicht ewig lange dauern konnte, und dass ich in Spanien sowieso keine Chance hatte. Die Rettung kam quasi in letzter Minute durch ein DAAD-Promotionsstipendium, was meine in Ansätzen schon vorhandene Germanophilie erheblich verstärkte. Im Wintersemester 1970/71 „flüchtete“ich nach München, um im damals von Wolfgang Stegmüller geleiteten „Seminar für Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie“ zu promovieren, was vier Jahre später auch geschah. Als ich nach München kam, betrachtete ich mich selber als „Carnapianer“ und dachte, nun käme ich in die Obhut des bedeutendsten Carnapianers Europas. Doch damals war Stegmüller schon in eine – wie er selber später sagte – „tiefe geistige Krise“ geraten. Teilweise durch die Lektüre Kuhns, aber auch aus anderen Überlegungen heraus, sah er nun unüberwindliche Schwierigkeiten in der herkömmlichen Auffassung der Struktur und Funktionsweise der empirischen Wissenschaften. Als Reaktion darauf, und gerade als ich mein Promotionsstudium in München begann, fingen Stegmüller und einige seiner Schüler sich intensiv mit dem neuartigen, vielversprechenden Ansatz von Joseph D. Sneed zu beschäftigen.

Stegmüller leitete damals ein DFG-Projekt zu dieser Thematik, an dem ich als Mitarbeiter mitwirken durfte. In diesem Zusammenhang lernte ich auch Sneed, der als Gastprofessor nach München kam, und Wolfgang Balzer, ebenfalls ein Doktorand Stegmüllers, kennen. Mit ihnen (und mit Stegmüller bis zu seinem frühen Tod) verbindet mich seitdem eine dauerhafte Freundschaft und eine enge, langjährige Zusammenarbeit. Aus dieser Zusammenarbeit entstand die wissenschaftstheoretische Forschungsrichtung, die seit Ende der 70er Jahre als „strukturalistische Wissenschaftskonzeption“ allgemein bekannt wurde, und die später in dem von Balzer, Sneed und mir verfassten Werk An Architectonic for Science kulminieren sollte.

Nach meiner Promotion mit einer Arbeit „Zur logischen Rekonstruktion der Thermodynamik“ wurde ich 1975 Assistent bei Stegmüller. Ich war im Prinzip entschlossen, meine akademische Laufbahn in Deutschland fortzusetzen. Es gab aber schon wieder ein Problem: Die Ausländerbehörde an der Ettstrasse sah nicht ein, dass ein „Dritte-Weltler“, der bloss mit einem Stipendium hierher gekommen war, auf unbestimmte Zeit in Deutschland bleiben durfte. Trotz Stegmüllers ausserordentlich freundlichem Einsatz (er hat sogar den damaligen Rektor Professor Lobkowicz dazu bewegt, ein Wort für mich einzulegen) wurden die Beamten an der Ettstrasse nicht einsichtiger, und ich musste jederzeit damit rechnen, manu militari zum Flughafen gebracht zu werden. Irgendwie kam mir die Situation bekannt vor. Doch auch diesmal kam die Rettung in letzter Sekunde. Aufgrund ziemlich zufälliger Kontakte erhielt ich das Angebot einer Dauerstelle am „Institut für philosophische Forschung“ der Nationalen Universität Mexikos, eines Landes, das ich überhaupt nicht kannte, das mir aber eine gute Zuflucht anbot. Also habe ich die Koffer gepackt.

Die Arbeitsbedingungen in Mexiko erwiesen sich als optimal. Ich musste nur zwei Stunden wöchentlich unterrichten, und den Rest konnte ich voll der Forschung widmen, zudem mit guten Publikationsmöglichkeiten. Im mexikanischen Institut habe ich natürlich meine Arbeiten innerhalb des strukturalistischen Ansatzes weitergeführt, mich aber auch zunehmend mit allgemein erkenntnistheoretischen, ontologischen und wissenschaftshistorischen Themen befasst. (In München hatte ich schon Wissenschaftsgeschichte als Nebenfach im Institut am Deutschen Museum studiert.) Seitdem sind auch sie Schwerpunkte meiner Forschung geblieben.

Während meiner mexikanischen Zeit bekam ich von der „University of California at Santa Cruz“ für ein Jahr eine Einladung als „Visiting Professor“. Es gab viele gute Dinge dort: eine entzückende Landschaft, optimale Arbeitsbedingungen (besonders in den Bibliotheken) und die Nähe zu Stanford: Jeden Freitag nachmittags fuhr ich zum Seminar von Patrick Suppes, was meine Arbeit beträchtlich förderte. Dennoch, und obwohl ich die Mög­lichkeit gehabt hätte, länger zu bleiben und meine akademische Laufbahn in den Vereinigten Staaten aufzubauen, funktionierte die „Chemie“ zwischen meiner Person und meiner US-amerikanischen Umwelt nicht so ganz richtig, so dass ich beschloss, nach Mexiko zurückzukehren. Allerdings ließ ich mir damit noch etwas Zeit: Die Rückkehr von Kalifornien nach Mexiko-Stadt dauerte – auf dem Umweg über die Stationen der Universität Campinas in Brasilien und des Zentrums für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld – ein Jahr.

Zurück im mexikanischen Institut führte ich meine Forschungstätigkeit in Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsgeschichte, Erkenntnistheorie, Ontologie und verwandten Gebieten in sehr produktiver Weise fort. Alles in allem habe ich die in Mexiko verbrachten acht Jahre in guter Erinnerung, auch in privater Hinsicht. Dort habe ich meine Frau kennengelernt, zahlreiche feste Freundschaften geschlossen und hoch motivierte Schüler gehabt, die später zu angesehenen Professoren wurden. Dennoch verblieb mir immer noch eine gewisse Sehnsucht nach dem alten Europa, sprich Deutschland. Als ich einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie an der Universität Bielefeld erhielt, habe ich ihn nach reiflicher Überlegung angenommen. 1984 siedelten meine Frau und ich aus dem sonnigen Mexiko ins nebelige Bielefeld um. Auch hier empfing mich eine sehr anregende, aufgeschlossene Forschungsatmosphäre. Ich stellte fest, dass der ansonsten nur als Floskel verwendete Terminus „Interdisziplinarität“ an der Universität Bielefeld alltägliche Wirklichkeit war. Insbesondere nahm ich an einigen gemeinsamen Vorhaben mit Kollegen der Wissenschaftssoziologie und der Wissenschaftsgeschichte im „Schwerpunkt Wissenschaftsforschung“ teil.

Aber es kam endlich auch der Augenblick, die ostwestfälische Insel auf meiner Odyssee zu verlassen. 1988 nahm ich einen Ruf an die Freie Universität Berlin an. Nach einigen anfänglichen Schwierigkeiten haben wir uns in Berlin sehr gut eingelebt. Eines Novemberabends des Wunderjahres 1989 standen meine Frau und ich an der Berliner Mauer und sahen das Wunder geschehen. Damals haben wir uns – wie alle anderen, die da waren – unheimlich gefreut. Was ich damals noch nicht wissen konnte, war, dass dieses Wunder auf die Dauer die langsame Agonie der FU Berlin, und insbesondere seines philosophischen Instituts, bedeuten könnte. Als diese Bedrohung immer spürbarer wurde, habe ich den Ruf als Nachfolger Stegmüllers an der LMU erhalten – und angenommen. Der entscheidende Grund für meinen Entschluss pro München war allerdings, dass keine andere der mir bekannten philosophischen Fakultäten in Deutschland, oder sogar in Europa, eine so starke Tradition und ein so starkes Profil auf den Gebieten hat, auf denen ich mich besonders zu Hause fühle – in der Logik, in der Philosophie der Mathematik, in der Wissenschaftstheorie, und überhaupt in der formal arbeitenden Philosophie.

Seit 1993 bin ich Vorsitzender des Seminars (zeitweise Instituts) für Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie in der Philosophischen Fakultät der Universität München. Abgesehen von einem Forschungsjahr 2003/04 als Inhaber des Lehrstuhls „Blaise Pascal“ an der Pariser „Ecole Normale Supérieure“ (wo ich endlich die Zeit hatte, eine Geschichte der Wissenschaftstheorie zu schreiben, die vor kurzem in französischer Sprache erschienen ist), habe ich seit nunmehr 13 Jahren fast ununterbrochen in München gelebt und an der LMU gelehrt und geforscht. An keinem anderen Ort bin ich in meinem bisherigen Leben so lange geblieben. Und somit bin ich also nicht nur Philosoph, sondern auch Münchner Philosoph geworden, was ich als eine besondere Auszeichnung empfinde. Die Tatsache, dass ich inzwischen auch in die Bayerische Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden bin, stellt eine zusätzliche Auszeichung dar, die die erste noch verstärkt, und die mich gegenüber der Bayerischen Wissenschaftswelt besonders verpflichtet.

Und so gelangen wir, liebe LeserInnen, zum Ende meiner Odyssee. Es sieht so aus, als ob München tatsächlich mein Ithaka darstellt. Wo könnte es sonst noch sein? Gewiss, wir leben nicht in rosigen Zeiten. Das gilt aber überall und für alle Bereiche. Die Zeiten sind schlecht für die universitäre Forschung, sie sind besonders schlecht für die geisteswissenschaftliche Forschung, noch schlechter für die philosophische Forschung, und ein Grad noch schlechter für die spezifisch wissenschaftstheoretische Forschung. Und dennoch werden in der Münchner Philosophie und Wissenschaftstheorie nach wie vor Arbeiten der höchsten, international konkurrenzfähigen Qualität geleistet; wir ziehen hochmotivierte Studierenden an, auch viele aus dem Ausland, die sehr oft glänzende Abschlussarbeiten schreiben, und werden Monat für Monat von hochkarätigen Gastprofessoren aus aller Welt besucht. Ich meine, wir stehen gar nicht so schlecht da. Jedoch mindestens eine Sache brauchen wir Münchner Philosophen noch, um nicht entmutigt zu werden: Nach den letzten Jahren der unerbittlichen Stellenkürzungen, Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen, aufgezwungenen Reformpläne, die sogleich wieder obsolet werden, und anderem mehr, brauchen wir endlich gesicherte Verhältnisse und ein wenig Ruhe, um uns unseren eigentlichen Aufgaben in Forschung und Lehre voll widmen zu können. Mögen die „höheren Instanzen“ einsehen, dass gute Philosophie keinen entbehrlichen Luxus darstellt, und Erbarmen mit uns zeigen …

Angebauer/Wesche – Theorien des Eigentums

Niklas Angebauer/Tilo Wesche

Theorien des Eigentums. Zur Einführung

br., 304 Seiten, 17,90 €

Hamburg 2024 (Junius-Verlag)

von Alexander von Pechmann

Nach Jahrzehnten des Stillschweigens ist seit einiger Zeit in den Sozialwissenschaften, aber auch in der Ethik die Debatte um das Eigentum intensiver geworden. Die Wohnungsnot in den Städten, die zunehmende Ungleichverteilung des globalen Reichtums sowie die vielfältigen ökologischen Krisen werden vermehrt in einen Zusammenhang mit der Eigentumsfrage und der damit verbundenen Verfügungsmacht über den gesellschaftlichen Reichtum gestellt.

Ausdruck dieses wiedererweckten Interesses ist die Einführung in die „Theorien des Eigentums“ der Oldenburger Philosophen Niklas Angebauer und Tilo Wesche, die auch an dem universitätsübergreifenden DFG-Forschungsprojekt über den „Strukturwandel des Eigentums“ beteiligt sind. Sie haben ihr Buch in insgesamt sechs „Positionen“ gegliedert, die die historisch wie systematisch wesentlichen Theorien über das Eigentum abdecken. Sie reichen – innerhalb der europäischen Denktradition – von Aristoteles bis zu John Rawls; und die einzelnen Kapitel sind nach den Prinzipien geordnet, die das Eigentum als Rechtsinstitut in der jeweiligen Theorie begründen.

Unter der Idee der „Gemeinschaft und des Gemeinwohls“ fassen die Autoren im ersten Kapitel die Eigentumstheorien des Aristoteles, der christlichen – m.E. eher katholischen – Soziallehre sowie des Kommunitarismus zusammen. Und in der Tat diskutieren diese Theorien – trotz unterschiedlicher Begründungen – die Fragen nach der Rolle und der Funktion des Eigentums in einem umfassenderen gesellschaftlichen Kontext, in dessen Rahmen die je private Verfügung über die Dinge und Güter eingeordnet und -gebettet sein soll. Für Aristoteles war dieser Rahmen die Polis, für das Christentum die religiöse und für den Kommunitarismus die säkulare Gemeinschaft. Was mir allerdings bei dieser Vor- und Darstellungsweise als unterbelichtet erscheint, ist, dass Aristoteles – gegenüber Platon – große Schwierigkeiten hatte, das individuelle Recht auf private Verfügung über die Dinge, damals vor allem über den Boden, mit der Verantwortung und der Verpflichtung des Bürgers gegenüber der Polis zu vermitteln. Aristoteles weiß zwar, dass das Eigeninteresse der (sklavenhaltenden) Grundbesitzer dem Gemeinwohlinteresse der Polis durchaus entgegensteht. Aber er hoffte angesichts dessen – letztlich vergeblich – auf die Erziehung jenes griechischen ‚maßvollen Tugendbürgers’, der beides, sein privates und das öffentliche Wohl, in seiner Seele zu verbinden vermag.

Auch die Darstellung der „christlichen Soziallehre“ erscheint mir allzu glatt. Nicht erwähnt wird die ‚Feindschaft’ des Christentums gegen das „Habenwollen“ als Reich des Bösen über nahezu ein Jahrtausend („eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich“), die im kirchlichen „Armutsstreit“ mündete und erst durch Thomas von Aquins Rezeption des ‚Heiden’ Aristoteles ermäßigt wurde. Thomas sah das private Eigentum, nach dem „Sündenfall“, unter gewissen Umständen und unter Beachtung ethischer Regeln als gerechtfertigt an. Und noch bis heute schwelt in der katholischen Soziallehre der Streit um die Legitimität des Privateigentums, wie er nicht zuletzt jüngst von Papst Franziskus wieder befeuert wurde („Diese Wirtschaft tötet.“). Meines Erachtens hätte die Darstellung dieser Begründungsaporien und Kontroversen zwischen Privateigentum und Seelenheil dem Leser die christliche Soziallehre durchaus nähergebracht.

Höchst informativ hingegen ist das Kapitel über die „Arbeitstheorie“, die John Locke und den Libertarismus umfasst. Die Autoren zeigen, dass Lockes Theorie, das Privateigentum auf die Arbeit zu gründen, durchaus komplexer und voraussetzungsreicher ist, als sie üblicherweise verstanden wird. Überzeugend jedenfalls ist die Deutung, dass Locke sowohl die Arbeit als auch den Genuss ihrer Früchte als eine ethisch-religiöse Veranstaltung verstanden hatte, um das Gute und Gerechte in der Welt zu mehren. Sie macht damit nicht nur die ethischen Regeln deutlich, denen der Eigentumserwerb bei Locke unterliegt, sondern auch den kulturellen Hintergrund seiner Eigentumstheorie, der es den „heidnischen Wilden“ schlicht absprach, überhaupt Eigentümer ihres Grund und Bodens sein zu können. Diese ethischen Gemeinwohlziele und -schranken sind jedoch bei den heute wieder populär gewordenen Libertaristen gefallen. Für sie bedeutet Eigentum das Recht, alles zu tun, was die Rechte anderer nicht verletzt. Eingriffe des Staates zugunsten des Gemeinwohls etwa durch Steuern sind daher schlicht Diebstahl. Mit Recht konstatieren die Autoren, dass die gegenwärtige Eigentumstheorie solch reflexionslosen Behauptungen nur „mit großer Skepsis“ (68) begegnet.

Ähnliche Vorbehalte durchzieht auch die Darstellung der utilitaristischen Theorien, die gleichfalls simpel, aber wirkungsvoll das Recht aufs Privateigentum mit dem „Wohlstand“ verbinden. Sie greifen dabei auf Aristoteles’ umstrittenes Argument zurück, dass eine Ordnung des Privateigentums effektiver als eine des Gemeineigentums sei. Und da nach Jeremy Bentham Maß und Ziel alles menschlichen Strebens der Nutzen oder die Wohlstandsmehrung sei, sei das Recht auf Privateigentum das beste Mittel, diesen Wohlstand zu befördern. Diesem Kurzschluss halten die Autoren die Einsichten der „Neuen Institutionenökonomik“ entgegen, die hinsichtlich der unterschiedlichen Güter durchaus differenzierter argumentiert und die Effizienz von privaten, gemeinschaftlichen und öffentlichen Eigentumsformen untersucht und diskutiert.

Originell und zugleich gründlich ist die Darstellung der Theorie von Hegel unter dem Titel „Eigentum als Widerspruch“. Sie zeigt, wie sehr für Hegel die Eigentumsfrage in seine Gesamtphilosophie eingebettet ist, in der das Vernünftige wirklich, das Wirkliche aber – letztlich – auch vernünftig ist. Ausgangspunkt seiner Eigentumstheorie ist die „Idee der Freiheit“. Freiheit, das Prinzip des Geistigen, aber ist für ihn nicht nur ein Inneres, sondern hat notwendig auch eine äußere Sphäre ihres Daseins. Eigentum ist insofern die Verfügungsmacht der (freien) Person über Äußeres. Doch diese „Person“ ist für Hegel nichts Fertiges, sondern schreitet durch ihre inneren Widersprüche vom abstrakten Ich zum konkreteren Wir fort. In diesem Sinne beginnt Hegel mit der einfachen und abstrakten Form des Rechts als Privateigentum, als des exklusiven Rechts des Individuums, von seiner Sache einen freien Gebrauch zu machen. Jedoch weist der innere Gegensatz dieses Rechts von privater Inklusion und sozialer Exklusion über diese Eigentumsform hinaus. Im Familieneigentum als höherer Form des Sittlichen sieht Hegel diesen Gegensatz aufgehoben: an die Stelle des abstrakten Individuums tritt das Kollektiv der Familie als Rechtsperson und Eigentümer. Doch auch diese partikulare Form löst sich schließlich auf in der höheren Form eines gesellschaftlichen Eigentums. Für Hegel ist also letztlich die ‚bürgerliche Gesellschaft’ erst die wahrhaft freie Rechtsperson, die, gleichsam als ‚Obereigentümer’, durch die staatliche Gesetzgebung sowohl den Inhalt als auch die Grenzen des privaten Eigentums und des Erbrechts – möglichst widerspruchfrei – regelt.

Diese logisch-systematische Entwicklung des Eigentums als „Idee der Freiheit“ verbindet Hegel zugleich mit der historischen Genese, nach der zunächst Einer, der Despot, freier Eigentümer war, dann Einige, die Adligen, frei waren und schließlich wir alle, als Bürger, frei geworden sind. Die Freiheit der Person, so Hegel, habe vor anderthalbtausend Jahren „durch das Christentum zu erblühen angefangen … Die Freiheit des Eigentums aber ist seit gestern … Ein Beispiel aus der Weltgeschichte über die Länge der Zeit, die der Geist braucht, um in seinem Selbstbewusstsein fortzuschreiten – gegen die Ungeduld des Meinens“ (129).

Bekanntermaßen hat sich auch Karl Marx gegen jene „Ungeduld des Meinens“ gewandt, die als „utopische Sozialisten“ das bestehende Privateigentum kritisierten, um die „wahre“ oder „menschliche“ Eigentumsordnung zu ersinnen. Doch von diesem Vorbehalt ist in der Darstellung von Marx’ „Kritik des Eigentums“ nichts zu spüren. Er wird recht umstandslos eingereiht in eine ethisch motivierte Kritik des Privateigentums, die zugleich Konzepte eines „wahren Sozialismus“ entwarf. Und in der Tat gibt der junge Marx mit seiner Kritik der Entfremdung und Ausbeutung genügend Stoff für eine solche Lesart. Doch für den Verfasser des „Kapitals“ trifft sie nicht mehr zu. Man sollte es meines Erachtens ernst nehmen, wenn Marx dort die „Ausbeutung“ durchaus nicht moralisch bewertet, sondern sie analytisch erklärt. Die zentrale Einsicht für diese Erklärung – um die er lange gerungen hatte – war, dass dem Arbeiter nicht – ungerechter Weise – der Lohn für seine Arbeit vorenthalten wird, sondern dass er – gerechter Weise – für den Wert seiner Arbeitskraft bezahlt wird. Daher gehe auf dem Arbeitsmarkt alles mit rechten Dingen zu: Der Arbeiter erhält den Lohn für die Erhaltung seiner Arbeitskraft – der Kapitalist erwirbt den Gebrauch seiner Arbeitskraft. Dass der Wert, den ihr tatsächlicher Gebrauch dann schafft, größer ist als ihr eigener Wert, „ist ein besondres Glück für ihren Käufer, aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer“ (208) … die Gesetze des Warentauschs (sind) in keiner Weise verletzt. Äquivalent wurde gegen Äquivalent ausgetauscht“ (209).

Die Aneignung der Mehrarbeit oder des Mehrwerts durch den Kapitalisten ist für Marx also „durchaus kein Unrecht“. Ja, er begreift diese kapitalistische Eigentumsform geschichtlich als progressives Element zur Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, die jedoch ihre immanenten Gegensätze und Widersprüche hervorbringt, die erst im Rahmen einer geschichtlich ‚höheren Gesellschaftsformation’ gelöst werden können. Wie sich eine solche Gesellschaftsformation freilich in concreto organisieren wird, das könne nicht, so betonte Marx immer wieder, sein eigenes (theoretisches) Werk, sondern müsse das (praktische) Werk der Arbeiterklasse selbst sein, das er bestenfalls, zeit seines Lebens, beratend begleiten könne.

Wenn die Autoren daher die Auffassung vertreten, Marx’ „emanzipatorische Bedeutung des Eigentums“ bestehe darin, dass der Mehrweit „zu Unrecht angeeignet (wird), weil er das Eigentum des Arbeiters ist, der ihn produziert“ (154), dann wird der historische Materialist Marx flugs in einen naturrechtlichen Lockeaner, vielleicht auch Smithianer, umgedeutet. Die geschichtsphilosophische Pointe seiner Eigentums- und Kapitaltheorie wird damit jedoch verfehlt.

Überraschend, aber durchaus nachvollziehbar ist im Folgenden die Einordnung der Theorien von Hobbes, Kant und Rawls unter dem Begriff der „Demokratisierung des Eigentums“, da doch der Hobbes’sche „Leviathan“ auf den ersten Blick nichts mit Demokratie zu tun hat. Doch die Autoren arbeiten heraus, dass für Hobbes das Recht auf privates Eigentum kein natürliches Recht ist, sondern dass es auf einem ursprünglichen Gesellschaftsvertrag gründet, in dem die Menschen ihr natürliches, aber bedrohtes Recht auf alles zugunsten des Schutzes ihres privaten Eigentums durch den starken Staat aufgeben. Es ist damit zwar der Staat, der souverän über „Gestalt, Grenzen und Schranken der Eigentumsrechte“ (180) bestimmt, aber er muss zugleich den Schutz dieser Rechte garantieren. Die Autoren nennen Hobbes einen „Wegbereiter der Demokratie wider Willen“ (182), weil für ihn jeder Bürger das Recht auf Eigentum und dessen Schutz hat. Ähnlich argumentiert Immanuel Kant insofern, als für ihn das Recht auf „das Meine“ zwar der reinen Vernunft entspringt, dass aber seine Geltung auf dem „vereinigten Willen des Volkes“ (195) gegründet ist. Denn weil „das Meine“ zugleich den Zugang anderer ausschließt, kann diese Ausschließung nur gerechtfertigt sein, wenn ihr alle zustimmen. Dies aber bedeutet, so die Autoren, dass für Kant das Recht auf privates Eigentum seine Legitimität nur dann besitzt, wenn alle – im Unterschied zu Hobbes – demokratisch an der Gesetzgebung teilhaben können. So gesehen macht Kant also die Legitimität der Eigentumsrechte von der demokratischen Verfassung des Staates abhängig. Über diese Argumentation hinaus geht John Rawls, der diesen vertragschließenden und gesetzgebenden Willen seinerseits an Prinzipien der Gerechtigkeit bindet. Für ihn ist eine Eigentumsordnung nur dann gerechtfertigt, wenn sie diese Prinzipien nicht verletzt bzw. ihnen entspricht. Dies gilt nach Rawls zum einen für eine privatwirtschaftliche Eigentumsordnung, insofern sie mit einer effektiven staatlichen Sozialgesetzgebung verbunden ist, und zum anderen für eine gemeinwirtschaftliche Eigentumsordnung, die zugleich mit demokratischer Mitbestimmung verbunden ist. Rawls, entgegnen die Autoren, mache so den Eindruck, als wären in gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht eine ‚soziale Marktwirtschaft’ und ein ‚demokratischer Sozialismus’ „gleichwertig“ (211). Argumentiere man jedoch „werttheoretisch“, wonach das Eigentum durch die eigene Leistung gerechtfertigt ist, müsse hinsichtlich der gesellschaftlichen Produktion das Gemeineigentum den Vorrang vor dem Privateigentum haben. „Rawls’ Einsicht, dass es keine politische Demokratie ohne Demokratisierung der Wirtschaft gibt“ (212), weise über sich hinaus: „Die Demokratisierung des Eigentums findet seine Fortsetzung im demokratischen Sozialismus, in dem das Wirtschaftseigentum in Gestalt von Gemeineigentum demokratisiert wird“ (ebd.).

In diesem Kapitel zeichnen die Autoren so ein historisch-systematisches Bild von der „Demokratisierung des Eigentums“, das mit Hobbes’ Modell der Garantie des Privateigentums durch den absolutistischen Staat beginnt, das mit Kants republikanischem Modell einer allgemeinen Zustimmung der Eigentumsrechte und mit den Rawls’schen Modellen der beiden sozialen Eigentumsordnungen weitergeführt wird, um schließlich im Modell eines demokratisch organisierten gemeinschaftlichen Eigentums zu münden.

Abschließend werden als „Ausblicke“ noch die weiterreichenden Fragen erörtert, wem die Daten gehören, wem die Stadt und wem die Natur gehört. Dabei machen die Autoren keinen Hehl, dass für sie letztlich Formen des kollektiven Eigentums die angemessenen Rechtsverhältnisse sind, unter denen die Probleme der Digitalisierung, des städtischen Lebens und des Naturschutzes als lösbar erscheinen.

Trotz der formulierten Einwände gibt das Buch durch seine klare Strukturierung einen ausgezeichneten Überblick über die historisch unterschiedlichen Begründungen des Eigentums in ihrer jeweiligen Zeit sowie eine gehaltvolle Einführung in die auch heute relevanten Theoriegebäude über das, was jeweils als Eigentum verstanden wird, und wie es begründet und gerechtfertigt werden kann. Es ist ihm zu wünschen, dass es dazu beiträgt, das Pro und Contra in den gegenwärtigen Debatte ums Eigentum begründeter und argumentativer führen zu können.

Horn – Klima. Eine Wahrnehmungsgeschichte

Eva Horn

Klima. Eine Wahrnehmungsgeschichte

geb., 608 Seiten, 8 Farb- und 23 S/W-Abbildungen, 34,- €

Frankfurt/Main 2024 (Fischer-Verlag)

von Olaf Sanders

Eva Horn beginnt ihre Wahrnehmungsgeschichte mit einer kleinen Erzählung von einem Besuch im PS1, einem Museum für zeitgenössische Kunst im New Yorker Stadtteil Queens, das seit der Jahrtausendwende zum Museum of Modern Art gehört. Schaut man sich das Museum auf Google Maps an, so sieht man das geöffnete Dach, das den Himmel freigibt in James Turrells Installation Meeting von 1986, die im Bildteil von Horns Buch auch abgebildet ist. Als Horn den Raum betritt, sitzt niemand auf den Bänken des „sehr hellen und überraschend kalten Raum[es]“ (9). Horn vermutet, dass die Heizung ausgefallen sei, bis ein Vogel durch das Bild fliegt und ihr auffällt, dass das Bild der blaue Himmel über ihr ist. Wie bei vielen Installation Turrells entpuppt sich das Bild als diffuser Raum. Turrell führt einen gleichsam zwischen die Dimensionen – und dieses Anliegen scheint Horn mit ihm zu teilen, indem sie eine verlorengegangene Dimension wieder hinzuzufügen versucht: „Dieses Buch ist der Versuch, das Klima aus genau jener sinnlichen, kulturellen und historischen Perspektive in den Blick zu nehmen, die dem naturwissenschaftlichen Zugang fehlt“ (16).

Es geht ihr also um die Wiederergänzung dessen, was der auf Messdaten und Evidenz basierenden Klimaforschung fehlt und durch deren Dominanz im Klimadiskurs marginalisiert wurde bzw. aus ihm weitgehend verschwunden ist. Dieses Bild möchte Horn durch eine „Aisthesis des Klimas“ (21) vervollständigen, die „auf ästhetische Darstellungen angewiesen“ ist. Obwohl sie gleich im Anschluss einen Ausspruch des englischen Malers William Turner zitiert, spielen jedoch bildende Kunst, Film, Architektur oder Musik im Vergleich zur Literatur eine deutlich geringere Rolle.

Im ersten Kapitel fragt Horn, was Klima gewesen ist, bevor es das „durchschnittliche Wetter“ wurde. Sie kehrt dafür zu Hippokrates zurück, für den Heilung mit dem Verständnis des Einflusses des Orts auf die ins Gleichgewicht zu bringenden Körpersäfte verbunden gewesen sei, und zu Vitruv, der die medizinische Perspektive mit der geographischen verbunden habe, die sich noch in den „Klimazonen“ ausdrückt. Die Luft erweist sich als planetares Medium. Von der meteorologischen Medizin legt, wie Horn eingangs des zweiten Kapitels zeigt, noch Flauberts Roman Madame Bovery Zeugnis ab. Die Konstanz der klimatischen Verhältnisse werde durch Winde dynamisiert, die „invasiv, gewalttätig, reinigend und zerstörerisch“ (69) sein können und „kulturhistorisch also einen zweischneidigen Ruf“ (71) haben. Winde transportieren Miasmen, „schädliche Ausdünstungen des Bodens oder stehender Gewässer, Produkte von Fäulnisprozessen oder stark riechende Substanzen, Exhalationen von Menschen und Tieren“ (74) , die lange als „‚Befleckung‘ der Luft“ (75) und Verursacher von Epidemien galten. Noch in Manns Novelle Der Tod in Venedig geht Gustav von Aschenbach als „Meteopath“ (75) zugrunde, obwohl Robert Koch den Cholera-Erreger längst als aquatisches Bakterium identifiziert hatte. Dessen ungeachtet zeigt die Covid-19-Pandemie, dass „Luftkrankheiten“ nie ganz verschwunden waren. Im dritten Kapitel rekonstruiert Horn die Genese einer thermischen Anthropologie, die zur Stereotypenbildung bis zum Rassismus in Kultur- und Kolonialgeschichte beigetragen haben.

Im vierten Kapitel wendet sie sich Herder zu, der den Menschen in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit als „‚Zögling‘ des Klimas beeinflusst, aber nicht determiniert“ (163) sah und die „Sklaverei als klimatisches Verbrechen“ (172) bestimmt hatte. Flankiert wird dessen Auffassung durch Alexander von Humboldt, für den, wie er in Kosmos ausführt, „die Einheit des Menschengeschlechts“ (164) in ihrer ganzen Diversität „jeder unerfreulichen Annahme von höheren und niederen Menschenracen [widerstrebt]“ (ebd.). Horn zeigt sich als große Kennerin der Kolonialliteratur, wobei sie vor allem Louis Couperus’ Roman Die stille Kraft, der auf deutsch kaum noch zugänglich ist, einer ausführlichen Analyse unterzieht. In seinem Roman wirkt das „koloniale Klima“ als „anti-kolonialer Widerstand ohne Subjekt“ (191), der die Akklimatisierung der Niederländer in Indonesien verunmöglicht. Als theoretische Zeugen für die Wirkung des Animismus’ ruft Horn vor allem Davi Kopenawa und Eduardo Viveiros de Castro auf. Aus systematischer Hinsicht wäre hier als Anschluss an das Projekt von Herder und Humboldt – auch im Hinblick deren Aktualisierung, die Horn mitbetreibt – ein Bezug auf die großen Bücher von Philippe Descola Jenseits von Kultur und Natur und Die Formen des Sichtbaren wünschenswert gewesen.

Das umfangreichste fünfte Kapitel trägt den Titel „Himmel – Erde – Luft: Die Atmosphäre“ und untergliedert sich in drei Unterkapitel, die bereits behandelte Themen vertiefen. Horn beginnt mit der kontrastierenden Analyse zweier Luftreisen anhand des Gedichts des indischen Dichters Kalidasa Wolkenbote und Jules Vernes Abenteuerroman Fünf Wochen im Ballon. Während das Gedicht „den Himmel mit der Erde, Götter und Göttinnen mit den Menschen, das Wetter mit dem Leben, Liebende und Geliebte“ (213) verbinde, „erscheint die Meteorologie im Roman als ein regelhaftes Feld des Wissens, das man überschauen und beherrschen kann wie die erstaunlich unfallfreie Mechanik des Ballons“ (216). Später (284) bezeichnet sie das Feld auch als „navigierbaren Raum“, den Lev Manovich, der hier nicht als Referenz dient, als symbolische Form auffasst. Auf der Suche nach einer „Lehre vom Schwebenden“ kehrt Horn erst mal zu Aristoteles und Virgil zurück, um die Atmosphäre „als erdgebundene Dampf- oder Gashülle“ (225) zu fassen, in der wir dann Torricelli zufolge „eingetaucht auf dem Grund eines Meeres von elementarer Luft“ leben. „‚Wie die Fische im Wasser“, so der Physiker Otto von Guericke, „leben und bewegen sich die Landwesen in diesem Luftmeer“ (ebd.). Die Metaphorik der Physiker situiert den Menschen „im Inneren eines Mediums, das ihn umfängt“ (229). Als dazu passende „Medientheorie“ führt Horn Barthold Heinrich Brockes Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott ins Feld, die sie ein weiteres Mal zu Herder und Humboldt zurückführt, diesmal im Hinblick auf die Unterscheidung von Mikro und Makro. Während Herder doch eher auf die „Local-Bestimmung“ (238) oder „das Singuläre“ (247) mit dem Menschen als Mittler(em) setzt, führt Humboldts globale Datensammelpraxis zu einer ersten Isothermen-Weltkarte (242), die als wichtige Vorarbeit zur Abstraktion des durchschnittlichen Wetters gelten kann. Später verteidigt Horn Herder auch noch gegen Kants Kritik unzureichender Systematizität und stellt ihn ins Gefolge Spinozas (425 f.).

Die „Mathematisierung der Meteorologie“ (261), so Horn, verunmöglicht zusehends ein Denken von Wolken als Übergänglichem, wie Goethe es noch zu denken versucht und es auch in der Opazität des Dampfes auf Turners Schneesturm-Gemälde (auch im Farbbildteil abgebildet) oder Adalbert Stifters Schneesturm-Beschreibung in Aus dem bairischen Walde zur Darstellung kommt. Turners Freund John Ruskin erkennt im Rauch dreißig Jahre nach Turners Gemälde nur noch ein industrielles Abfallprodukt, das als „Medium nun verdorben, ästhetisch zweideutig und atmosphärisch vergiftet“ (275) erscheint. In dieser Zweideutigkeit verschränken sich Innen- und Außenwelt. Wie dies geschehen kann, illustriert Horn am Beispiel von Zolas Roman Ein Blatt der Liebe. Der Verlauf der unmöglichen Liebe korrespondiert den Jahreszeiten, die Luft bringt den Tod wie bei Mann. Schließlich normalisiert sich das Wetter, während die Welt aus den Fugen gerät, wie Horn am berühmten Anfang von Musils Der Mann ohne Eigenschaften erläutert, der, wie sie zeigt, meteorologisch vollkommen sinnlos ist und so umso trefflicher auf die Sinnlosigkeit des Ersten Weltkriegs vorausweist, nach dem „die planetarische Perspektive“ nicht mehr abgewiesen werden kann.

„Herders und Humboldts Idee vom Klima als Systemzusammenhang wird nun mathematisch modelliert“ (293). Die Erdsystemforschung etabliert sich; und John Lovelock und Lynn Margulis entwickeln die Gaia-Theorie. Die kleine Tour de Force durch das noch vergleichsweise junge Genre der Climate Fiction, kurz: Cli-Fi, die den Menschen das abstrakte Klima-Geschehen wieder sinnlich erfahrbar machen soll, endet bei Philipp Weiss’ fünfbändigem Welt-Roman Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen, dessen Besonderheit darin besteht, das Weiss mit diesem Roman auch ein literarisches Form-Experiment wagt und das „Modell von stabilisierender Selbstregulation“ auflöst, weshalb am Ende wenig zu lachen bleibt.

Mit dem sechsten Kapitel setzt Horn in der Reflexion des Zusammenhangs von Zeit und Klima neu an. Sie beschreibt zunächst, wie die Jahreszeiten ihre ordnende Rolle verloren haben, die sie von der Antike bis zur Aufklärung innegehabt hatten. Hier hätte sich als Vergleich zu Poussins Jahreszeiten-Zyklus (ebenfalls im Bildteil) auch Philipp Otto Runges Die Zeiten angeboten; aber die Romantik spielt in Horns Buch insgesamt eine eher geringe Rolle. Die Zeit reicht, wie sie sehr plausibel schildert, als Tiefenzeit weiter zurück als der Mensch. In ihr treten Menschen- und Naturzeit auseinander. Mit Brechts Gedicht Über das Frühjahr läutet Horn dann die Epoche des Menschen ein, in der die Menschenzeit vorherrschend wird: das Anthropozän, das uns an unsere „Verantwortung für eine tiefe Zukunft“ (396) erinnert. Zu Beginn des siebten Kapitels stellt Horn fest, dass es angesichts des menschengemachten Klimawandels selbstverständlich sei, dass das Klima Gegenstand von Politik wird. Im Anschluss an Latour, der dafür plädiert, „die unausweichliche Verbundenheit des Sozialen mit dem Terrestischen wieder zum Gegenstand von Politik zu machen“ (407), schlägt sie vor: „Statt ‚Erdverbundenheit‘ könnte man also auch ‚Luftverbundenheit‘ sagen“ (407). Diesen Konjunktiv gibt sie jedoch nach und nach auf. Vorher zeigt sie noch nach ausführlicher Analyse von Stifters Brigitta und Wilhelm Raabes Pfisters Mühle wie sich das „Klima als schlechthin Gemeinsames“ (452) – oder mit Canetti, den sie zweimal anführt, die Luft als „letzte[r] Allmende“ (u.a. 506) – sozusagen in Luft aufgelöst habe. Im achten Kapitel rekapituliert Horn erst die Strategien der Klimawandelleugnung und schlägt dann nach einer längeren Auseinandersetzung mit Kim Stanley Robinsons Das Ministerium für die Zukunft vor, auf politische Verhandlungen und leichte Militanz zu setzen, wie es im Kampf der Erdverbundenen vor allem auch Ende Gelände praktiziert und Andreas Malm auch schon in Wie man eine Pipeline in die Luft jagt vorgeschlagen hat. Im letzten Kapitel votiert sie abschließend für Luftverbundenheit als zeitgemäße Form des „Involviert-Sein[s]“ (506): „Luftverbunden zu sein, bedeutet, in einer Welt zu sein in der alles fließt, aber nichts verlorengeht, in der alle einen Atem teilen, gemeinsam wirbelnd in der Strömung des Luftmeeres.“

Horns vorgenommene Ersetzung von Latours Erdverbundenheit durch Luftverbundenheit halte ich für falsch. Meines Erachtens führt Erd- und Luftverbundenheit weiter, und – gemäß des guten alten Und-und-und von Deleuze/Guattari – wie es im „Luftmeer“ auch schon anklingt, Meer- oder Wasserverbundenheit. Diese drei Verbundenheiten bilden einen borromäischen Knoten, dessen zweiten Strang Horn materialreich in Erinnerung ruft und für die Zukunft fassbar macht.

Hier lässt sich weiterdenken. Zwar zitiert sie Gernot Böhmes Plädoyer Für eine ökologische Naturästhetik aus dem Jahr 1989, aber es wird so wenig aktualisiert wie Herders Ideen. So bleibt Horn die angekündigte die Klimaforschung ergänzende Ästhetik bzw. eine umfassendere Aisthetik des Klimas, zu der sie fraglos sehr umfassende und bedeutende Studien vorgelegt hat und mit dem vorliegenden Buch historisch informiert die Richtung weist, noch schuldig.

Hermann Krings – Philosophie zwischen Anpassung und Selbstbehauptung

Die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus wurde bald nach seinem Zusammenbruch kritisch aufgearbeitet. Ebenso die Rolle der Justiz. Über die Anpassung der Philosophie ans Hitler-Regime herrschte dagegen – abgesehen von prominenten Einzelfällen (Heidegger, Rosenberg) – lange Zeit Stillschweigen. Die Behandlung der „Philosophie im Faschismus“ im WIDERSPRUCH (Heft 13, 1987) war damals eine, auch von Massenmedien anerkannte, Pionierleistung. Dokumentiert und kritisiert wurden nicht nur das philosophische Lehrangebot der LMU München (1933-1945), sondern auch die einschlägigen Publikationen zur Philosophie in dieser Zeit. Ergänzt wurden die Beiträge durch ein Interview mit Hermann Krings (1913-2004), der die Vorgänge an der Münchner Universität aus nächster Nähe erlebt hatte.

Hermann Krings war von 1968 bis 1980 Ordinarius des philosophischen Lehrstuhls II an der LMU. Zur selben Zeit war er Vorsitzender des Deutschen Bildungsrats, Generalsekretär der Görres-Gesellschaft und Herausgeber des Philosophischen Jahrbuchs. An die Münchner Universität kam er bereits 1936, als Student. Er folgte seinem Lehrer und späteren Doktorvater Fritz-Joachim Rintelen, der in diesem Jahr auf den Konkordats-Lehrstuhl berufen wurde. Sein soziales Umfeld war die katholische Studentenverbindung Rheno-Bavaria sowie der katholische Hochland-Kreisum den Schöningh-Verlag. In dieser Zeit war Krings auch eng mit dem Psychotherapeuten und katholischen Religionsphilosophen Fritz Leist und dem Mediziner Willi Graf befreundet, über die er in Verbindung zur Widerstandsgruppe der Weißen Rose um die Geschwister Scholl stand. Aus dieser Perspektive beobachtete und beurteilte er die zunehmende Politisierung der Philosophie während des Nationalsozialismus.

Nicht zur Sprache im Interview kam ein Ereignis, das durch den späteren Inhaber des Konkordatslehrstuhls Max Müller und seine Sekretärin Fräulein Ries verbürgt ist. Hermann Krings wohnte nach der Verhaftung von Willi Graf im Februar 1943 in dessen Schwabinger Wohnung in der Mandlstraße. Dort entdeckte im Schlafzimmer unter dem Bett das Gerät, mit dem Hans und Sophie Scholl die Flugblätter gedruckt hatten, die zu ihrer Verhaftung und schnellen Hinrichtung führten. Die Hinrichtung von Willi Graf, der in Gefängnis Stadelheim einsaß, wurde dagegen noch Monate hinausgeschoben, da die Gestapo hoffte, Geständnisse und Hinweise auf die Widerstandsbewegung herauspressen zu können. In dieser Situation ließ Krings das corpus delicti verschwinden: Er zerlegte die Druckerpresse in Einzelteile und versenkte sie im nahegelegenen Eisbach, einem Seitenarm der Isar.

Die Philosophie zwischen Anpassung und Selbstbehauptung. Gespräch mit Prof. Hermann Krings

Widerspruch: Herr Prof. Krings, Sie sind 1936 an die Münchner Universität gekommen. Was war der Grund, dass sie von der Bonner Universität nach München wechselten?

Krings: Der Wechsel von Bonn beruhte darauf, dass Fritz-Joachim von Rintelen, der schon in Bonn den Konkordatslehrstuhl innehatte, hier auf auf den Lehrstuhl von Joseph Geyser berufen wurde, unter anderem aufgrund seines Buches über den Wertbegriff im Mittelalter und auch, weil er auf diesem Lehrstuhl für die Nazis akzeptabel war. Das hatte auch einen familiären Hintergrund bei von Rintelen. Sein Vater war General gewesen; einer seiner Brüder war Leiter der außenpolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt, ein anderer Militärattaché in Rom. Dieser familiäre Hintergrund war sicher auch ein Moment, warum man ihn damals noch akzeptierte. (Das hat dann drei Jahre gedauert.) Ich hatte schon in Bonn in meinen ersten vier Semestern Philosophie bei ihm gehört; wir hatten auch persönlich Kontakt, und er fragte mich dann, ob ich nicht später bei ihm promovieren wolle. So bin ich dann mit ihm hierher gekommen und begann gleich mit der Arbeit an meiner Dissertation.

Hier traf ich eine Gruppe, die sich aus ehemaligen Quickbornern und ehemaligen Mitgliedern des Bundes ,,Neudeutschlands“ zusammensetzte. Der Wortführer dieser Gruppe war Fritz Leist. Im WS 1936/37 haben wir uns kennengelernt. Wir saßen im Bibliotheksraum des philosophischen Seminars I, ich hinter einem Packen von Thomas-Bänden, er hinter einem Packen von Thomas-Bänden, die wir austauschten. Auf diese Weise lernten wir uns kennen.

Widerspruch: War die Möglichkeit, in solch einen schon bestehenden Kreis zu kommen, damals so einfach?

Krings: Das war kein Problem, da gab‘s eine gemeinsame Sprache, das war innerhalb von zehn Minuten klar. Wir kriegten dann hier auch noch Kontakt mit einer Gruppe aus der Kaulbachstraße, aus einer der aufgelösten Gruppen des Bundes „Neudeutschland“. Die Gruppe um Leist rekrutierte sich im großen und ganzen aus dem Saarland und München. Fritz Leist war vorher in Freiburg gewesen, und dieses Dreieck Saarland-Freiburg-München bildete den Rahmen. Innerhalb der Leute aus dem Saarland war auch Willi Graf. Kennengelernt habe ich ihn bei einem Treffen um die Jahreswende 1936/7 auf einer Burg im Odenwald, sie war eine Art Jugendburg; das ging damals noch. (Übrigens der spiritus rector war damals Aloys Goergen.)

Widerspruch: Gab es damals nicht auch die Gruppe „Hochland“?

Krings: Ja, aber das ist ein ganz anderer Zweig. Von Rintelen war gut bekannt mit Franz Joseph Schöningh, dem damaligen Herausgeber von „Hochland“, und der Hochlandkreis traf sich an zwei oder drei Mittagen um 2 Uhr in einem Café am Odeonsplatz. Dahin kamen auch Theodor Haecker, Joseph Bernhart und einige andere Literaten.

Widerspruch: Wie stark wirkte der Hochlandkreis denn auf die Ideenbildung an der Universität?

Krings: Praktisch nicht. „Hochland“ wirkte in die katholischen Akademikerkreise hinein, aber für die Universität ist er kein Faktor gewesen.

Widerspruch: Können Sie über die damalige Situation an der Universität etwas sagen? Sie hatten einmal angedeutet, dass sie für die jüngere Generation nicht mehr recht nachvollziehbar sei.

Krings: Die Universität ist erst durch den NS-Studentenbund politisiert worden. Das hatte ich schon 1935 in Bonn erlebt, wo, wenn sich mal irgendwo ein Protest meldete, der betreffende Student gleich rausgeschmissen wurde. Das waren Massenveranstaltungen; in der Universität selbst war für politische Diskussionen kein Raum. In München bestand noch, und zwar durchaus aktiv, eine Gruppe des Älteren-Bundes ,,Neudeutschland“.

Widerspruch: Hat sich das Lehrangebot an der Universität geändert?

Krings: Praktisch nicht. Von Rintelen hat einmal eine Mittelalter-Vorlesung unter dem Titel ,,Albert der Deutsche“ angekündigt, anstatt ,,Albert der Große“; aber er hat dort mittelalterliche Philosophie vorgetragen. Aloys Wenzl ist ja schon 1936, soviel ich weiß, von der Uni geflogen, wurde dann wieder Studienrat, war dann zuerst in Schwabing am Gymnasium, wurde dann aber auch aus München verwiesen und war dann Lehrer in Ingolstadt. Insofem erscheint sein Name natürlich nicht mehr in den Vorlesungsverzeichnissen.

Widerspruch: Haben Sie noch in Erinnerung, wie von Rintelen ,,beurlaubt“ wurde? Wie hat er das aufgenommen?

Krings: Das wird ein Roman, wenn ich Ihnen das erzähle. Also: von Rintelen hatte gute Beziehungen nach Berlin, und zwar weniger über seine Familie als über eine KV-Verbindung. Da waren ein paar gute Leute in Berlin in höheren Stellungen im Kultusministerium, im Wirtschaftsministerium und so. Er setzte dann seine Verbindungen in Bewegung, um eine Wiederbesetzung seines Lehrstuhls zu verhindern. Es bestanden hier Bestrebungen, aus dem Konkordatslehrstuhl einen Lehrstuhl für nationalsozialistische Weltanschauung zu machen. Ich bin zweimal mit ihm nach Berlin gefahren. Er hat den Gegensatz Preußen – Bayern ausgespielt und den Preußen gesagt, die Bayern wollen da jetzt etwas eigenes machen. Und er hat es tatsächlich fertiggebracht, dass der Lehrstuhl nicht wieder besetzt wurde.

Widerspruch: Eine Frage zur Bibliothek im Institut. Welche Literatur wurde damals angeschafft?

Krings: Da der Lehrstuhl vakant war, mussten die Rechnungen vom Dekan unterschrieben werden. Das war damals der Altphilologe Dirlmeier. Es ist möglich, dass er der Partei angehörte; aber er war ein fabelhafter Mann, der alles gedeckt hat. Darauf war völliger Verlass, auch auf die Sekretärin; das ging prima.

Widerspruch: Gab es keine „Reinigung“ der Bibliothek?

Krings: Nein. Baeumler wurde angeschafft, Rosenberg wurde nicht angeschafft. Die Naziliteratur wurde bei uns nicht angeschafft.

Widerspruch: Trotz Hans Grunsky?

Krings: Das war das andere Seminar und der andere Lehrstuhl; wir waren Konkordatslehrstuhl. Wir haben praktisch nur mittelalterliche Literatur angeschafft. Ich weiß, dass damals die Leibniz-Ausgabe anlief; solche Sachen kosteten schon den halben Etat. Da war überhaupt kein Raum für Nazizeug.

Widerspruch: Haben Sie Grunsky gehört?

Krings: Ja, bei ihm habe ich mehrere Lehrveranstaltungen mitgemacht. Er hat mich auch im Rigorosum geprüft. Grunsky war nicht habilitiert; ob er promoviert war, galt nicht als sicher. Mit der Philosophie hatte er seine Probleme. Übrigens war er behindert, wurde im Rollstuhl gefahren, auch ins Seminar und in sein Zimmer. Er hatte sich zunächst auf Jakob Böhme geworfen und hat dann eine abenteuerliche Vorlesung über Platon gehalten, der im Sinne des Nazi-Führertums interpretiert wurde: der Archont war der Führer, und die Phylakes waren die SS und die SA; dann kam noch der Reichsnährstand. Das trug er in der Vorlesung vor, und so wurde aus Platon der große Philosoph des ,.Dritten Reichs“.

Widerspruch: War das für sie damals schon abenteuerlich?

Krings: Ja, sicher.

Widerspruch; Gab es nicht Äußerungen, dass das nichts mit Platon zu tun hat – wenigstens nach der Vorlesung?

Krings: Ja, unter uns haben wir darüber gesprochen. Ich hatte das große Glück, dass Grunsky, als ich ins Rigorosum kam, gerade dabei war, sich Kant anzueignen. Ich habe Kant dann auch vorgeschlagen und brachte sehr schnell die Rede auf die transzendentale Deduktion. Er ließ mir 20 Minuten Zeit, und ich habe ihm dann die transzendentale Deduktion erläutert. Er hat sich das angehört und mir dann, glaube ich, auch ein ,,sehr gut“ gegeben.

Widerspruch: Es bestand doch ein sehr starkes Interesse, die deutsche Tradition der Philosophie aufzuarbeiten und darzustellen. Haben Sie etwas davon mitbekommen, dass an der Universität mehr und mehr die nicht-deutschen Traditionen, z B. die französische, ausgeblendet wurden, und die deutsche von Meister Eckhardt über Böhme bis zum deutschen Idealismus betont wurde?

Krings: Ja, bei Grunsky war das ganz deutlich, bei den anderen nicht. Kurt Schilling hat eine Vorsokratiker-Vorlesung gehalten, die ganz normal war wie auch die über den deutschen Idealismus. Ich weiß nicht, ob Schilling Parteigenosse war, Es könnte gewesen sein, aber er galt bei uns nicht als Nazi.

Widerspruch: Gab es eigentlich irgendwelche Formen der Auseinandersetzung?

Krings: Nein, die gab’s nicht, sondern es gab eine große Technik der Tarnung.

Widerspruch: Gerade das kann man sich heute nur schlecht vorstellen.

Krings: Ja, aber in dem Moment, wo Sie in irgendeiner Form in eine Auseinandersetzung traten, konnte es sein, dass sie am nächsten Tag schon im KZ waren. – Nun war schon Krieg. Während des Krieges hörten wir ausländische Sender. Es war bekannt, dass Leute wegen Abhörens denunziert worden waren, selbst von Nachbarn, wenn es während der Sendezeiten in den Wohnungen still geworden war. Bei von Rintelen hatten wir einen ganz guten Apparat. Da waren wir zu dritt oder viert, und zwei wurden dann abgeordnet, Krach zu machen, zu streiten, laut zu reden; die anderen saßen unter einer Decke am Apparat und hörten die Nachrichten.

Widerspruch: War das, was die Nazis, was Grunsky oder vielleicht auch Schilling an die Universität bringen wollten, für Sie überhaupt diskussionswürdig?

Krings: Was Grunsky sagte, nicht. Das war nicht diskussionswürdig, das galt bei uns als weltanschaulich nationalsozialistisch. In den Vorlesungen anderer Dozenten kam das Weltanschauliche inhaltlich nicht zur Geltung.

Widerspruch: Hatten Sie Kontakt zu Prof. Kurt Huber?

Krings: Ja. Der Umgang mit ihm war nicht ungefährlich, weil Huber sehr temperamentvoll war. Nach der Vorlesung kam er häufiger ins Seminar, und da gingen dann auch die Diskussionen los, die zum Teil sehr heftig waren. Wir stimmten natürlich mit ihm überein, aber er war dann oft laut. Es gab ja nur eine Tür zum Seminarraum, und wir wussten nie so genau, wer da saß. Es war immer etwas schwierig, ihn auf die Lautstärke herunterzubringen, die nicht gefährlich war. Zum Teil war es auch sehr schwierig, weil er nach unserer Meinung sehr phantastische, irreale Vorstellungen hatte.

Widerspruch: Deutschnationale, idealistische?

Krings: Nein, sondern in Hinblick auf die Möglichkeiten, eine politische Wende herbeizuführen.

Widerspruch: Eine daran anschließende Frage: Heute wird oft gesagt, die Kirchen hätten sich deutlicher angesichts der Judenverfolgungen und anderer Verbrechen zu Wort melden müssen. Hatten Sie damals auch die Vorstellung, dass die noch bestehenden Organisationen Widerstand hätten leisten müssen?

Krings: Organisationen bestanden damals ja nicht mehr. Ich bin einmal beim Katholikentag 1982 gefragt worden – es ging um eine Sache 1940/41 –, warum die Kirchen und die SPD sich denn nicht zusammengetan hätten. Da habe ich gesagt, weil die SPD seit acht Jahren nicht mehr bestand. Ja, aber solche Vorstellungen bestehen heute. Es gab keine Organisation; es gab im Untergrund Kontakte mit Gleichgesinnten. Auch in anderen Schichten bestanden solche Kontakte, in der Arbeiterschaft, auch beim Militär.

Was die Kirche angeht, so kann man zweierlei sagen: erstens, einen lautstarken Protest hätten wir für wenig wirksam gehalten, abgesehen davon, dass solche Proteste sich immer nur auf Gerüchte stützen konnten, außer bei den Euthanasiemaßnahmen. Wichtiger war aber zweitens, dass durch die Hierarchie Kleriker, aber auch Laien zurückgehalten wurden, oder dass es gar als moraltheologisch bedenklich angesehen wurde, Widerstand zu leisten. Das hat uns mehr irritiert, als dass da keine großen Geschichten passierten. Von Aktionen der Kirchen hätten wir uns nichts versprochen. Es wären dann fünfhundert Leute mehr ins KZ gekommen, und die Sache wäre erledigt gewesen. Das ist ja alles für die Nazis kein Problem gewesen. Die Taktik der Kirche war wohl, die Zahl der Opfer in Grenzen zu halten.

Wann man gegen die Judenvernichtung wirklich etwas hätte sagen und machen können oder sollen, ist außerordentlich schwer zu sagen. Ich gehörte zu denen, die, soweit es möglich war, Informationen suchten. Aber die ersten Informationen über Erschießungen von Juden habe ich erst durch Willi Graf erhalten, nachdem er aus Russland zurückgekehrt war. Aber auch er hat nur andeutungsweise davon gesprochen.

Widerspruch: Gab es in den Kreisen, zu denen Sie Zugang hatten, nicht auch Diskussionen über die moralische oder theoretische Begründung von Widerstand?

Krings: Ja, doch muss die Frage wohl für verschiedene Kreise verschieden beantwortet werden. Innerhalb des kleinen Umkreises bei mir in der Siegfriedstraße – das war meine Bude –, war die Diskussion religiös bestimmt. Wir hatten regelmäßige Abende, an denen wir Schriftlesungen machten, das Alte Testament vor allem. Wir haben uns aber auch intensiv mit Literatur beschäftigt; das ist ja auch von Willi Graf und den Geschwister Scholl bekannt. Diese Beschäftigung war auch durch Guardini angeregt worden; sein Hölderlin-Buch war eine wichtige Sache für uns. Dann spielten auch die Sonette von Reinhold Schneider eine Rolle. Sie wurden vervielfältigt herumgereicht, da sie ja damals im Druck nicht erscheinen durften. Jeder hatte sie; es war erstaunlich. Wir haben viele gemeinsame – heute würde man sagen – interne Seminare gemacht.

Widerspruch: Da gab es doch sicher Auslegungs- und Interpretationsfragen …

Krings: Nein, die Texte wurden nicht aktualisiert ( – wie heute allenthalben). Sie waren ein Bollwerk gegen den aktuellen Ungeist. Der Nationalsozialismus war kein Partner für eine geistige Auseinandersetzung.

Widerspruch: Wie kam es eigentlich dazu, dass man dem Nationalsozialismus so freie Hand ließ?

Krings: Dass es keine geistige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gab, hat mehrere Gründe. Zunächst: Es lag uns fern, den Nationalsozialismus auf eine ähnliche Basis zu stellen wie den Sozialismus, obwohl er ja viele sozialistische Züge gehabt hat. Aber man konnte ihn nicht auf die geistigen Grundlagen der sozialistischen Bewegung Anfang des Jahrhunderts zurückführen. – Ferner: Die ganze politische Schubkraft kam aus der negativen Entwicklung der Republik in den zwanziger Jahren. Der Versailler Friedensvertrag galt als das nationale Ärgernis, und die Weimarer Republik war eine Folge dieses Vertrages etc. In den dreißiger Jahren kamen zu den negativen nationalen Emotionen durch die Weltwirtschaftskrise und die riesige Arbeitslosigkeit die wirtschaftliche Not hinzu. Die Auseinandersetzungen fanden zunächst in den Straßenkämpfen zwischen SA und Rotfront statt. Später gingen sie im Massenrausch der Aufmärsche und in der Massenfaszination unter, die von den Reden ausgingen, die unsereiner ohnehin nur mit Qualen anhörte. – Rosenberg spielte in der politischen Bewegung nur eine Randrolle.

Widerspruch: Auch in München?

Krings: Ich habe keine Erinnerung an eine öffentliche Veranstaltung hier mit Rosenberg.

Widerspruch: Es ist ja doch erstaunlich, wie viele Philosophen im Dritten Reich sich den Nazis anschlossen. Wie konnte man dem entgehen? Von Rintelen etwa hat es ja geschafft.

Krings: von Rintelen war von einem nahezu krankhaften Hass auf die Nazis beseelt. Dieser Hass konnte auch gefährlich werden.

Widerspruch: Hat von Rintelen – ebenso wie Sie – damals den Versuch gemacht, den Nationalsozialismus als ,,Herrschaft des Bösen“ zu begreifen?

Krings: Ich kann mich nicht erinnern, dass ich damals die Kategorie des Bösen gebraucht hätte. Das ist ein Interpretationsbegriff, den ich heute im Rückblick auf damals gebraucht habe.

Widerspruch: … aber die Geschwister Scholl hatten in ihren Flugblättern die Nazi-Diktatur mit der ,,Herrschaft des Bösen“ verglichen.

Krings: Ja, das ist schon ein Stück weiter; und es beruhte, wenn ich das recht sehe, auf ihren Erfahrungen im Sommer 1942 in Russland. Ich war nicht in Russland.

Widerspruch: Also gründete ihr Widerstand mehr auf der direkten Erfahrung als auf theoretischer Reflexion …

Krings: Dafür fehlten damals auch Informationen. Man war sich über das Ausmaß von Verbrechertum nicht im Klaren, – das wusste man nicht.

Widerspruch: Und als es bekannt wurde, war die Hauptaufgabe nicht die philosophische Bewältigung.

Krings: Da ging alles schon dem katastrophalen Ende zu: Bombenangriffe, tausendfacher Tod, Hunger … Das Ausmaß der Verbrechen kam erst 1944 heraus, nach dem 20. Juli. Aber dann wusste man auch schon, dass das Ganze in absehbarer Zeit zu Ende sein würde. Und das war das einzige, was einen dann noch beschäftigte.

Widerspruch; Das heißt also, die Frage nach der moralischen oder religiösen Legitimation des Widerstandes wurde nicht gestellt?

Krings: Die Legitimationsfrage spielte in dem Umkreis, in dem ich war, keine Rolle. – Aber abgesehen davon waren wir – hier meine ich wieder den Kreis um Fritz Leist, Emst Müller u. a. – der Meinung, dass jede Aktion sinnlos ist. Ich habe zusammen mit Fritz Leist im Januar 1943 noch ein abendliches Gespräch mit Willi Graf gehabt. Wohlgemerkt: die Flugblätter waren schon da; wir hatten sie auch und wir wussten, woher sie kamen, obwohl es uns niemand gesagt hatte. Auch Willi Graf hatte es uns nicht gesagt, aber er wusste, dass wir es wussten, und wir wussten, dass er es wusste … Dieses Gespräch ist in Schweigen übergegangen, weil er zu der Aktion schon entschlossen war, ja schon mitten in ihr stand. Er hatte ja die bekannte Flugblatt-Reise schon hinter sich, was wir nicht wussten. Wir haben ihm dringend geraten, von diesen Dingen Abstand zu nehmen. Ein Argument war auch, dass wir das Gefühl hatten, dass die Scholls zu wenig Erfahrung mit der Gestapo gehabt hatten. Fritz Leist und auch Willi Graf waren schon 1936 verhaftet gewesen. Es hat einen Prozess in Mannheim gegeben; einige sind verurteilt worden. Durch die Amnestie anlässlich der Besetzung Österreichs kamen sie wieder frei.

Widerspruch: Haben Sie etwas von dem Scholl-Prozess erfahren? Er lief ja innerhalb einer Woche ab.

Krings: Nein. Ich habe nur indirekt etwas mitbekommen, da ich um diese Zeit aus dem Lazarett entlassen wurde und nur sporadisch Kontakt hatte.

Widerspruch: Nach 1945 waren Sie wieder in München. Eine ganze Reihe von Leuten, die an der Universität gelehrt hatten, wie etwa Hans Grunsky, waren wieder da. Empfanden Sie das als selbstverständlich?

Krings: Grunsky war 1946 meines Wissens nicht an der Universität. Einen ausgesprochen ärgerlichen Fall habe ich nicht erlebt. Nun habe ich nur einen relativ kleinen Sektor gesehen. Ich glaube, die auffälligen und gefährlichen Nazis waren weg – also z. B. ein Typ wie Spindler, der Anglist, und auch Wüst, der Nordist. Sie waren nicht mehr da.

Widcrspruch: Fanden Sie Grunsky gefährlich?

Krings: Ja, insofern er ein rückhaltloser Parteigänger gewesen ist. Aber ich glaube nicht, dass er sich die Denunziation zu einer Aufgabe gemacht hat. Das war wohl auch bei seiner körperlichen Verfassung sehr schwierig; er war darauf angewiesen, dass ihm etwas zugetragen wurde. Ich kenne keinen Fall einer Denunziation durch Grunsky.

Widerspruch: Auch von Rintelen hatte Schwierigkeiten, nach München zurückzukehren …

Krings: … das ist ein sehr trauriges Kapitel. Ich habe von Rintelen ja gut gekannt, und er ist wirklich alles andere als ein Nazi gewesen. Aber er hat damals, als er beurlaubt wurde, an das Kultusministerium Verteidigungsschreiben gerichtet und darin auch behauptet, man könne ihm gar nichts vorwerfen, er habe nie etwas gegen den Nationalsozialismus gesagt. Diese Akten wurden dann später herausgeholt. Ich habe noch, ebenso wie auch Fritz Leist, eine eidesstattliche Erklärung für ihn abgegeben. Aber dann kamen unglückliche Umstände dazu, so dass aus seiner Rückkehr nach München nichts wurde. Er war inzwischen Professor der Philosophie an der Universität Mainz geworden.

Widerspruch: Ein Rätsel sind Leute wie Nicolai Hartmann, der bis zum Schluss auf seinem Lehrstuhl in Berlin geblieben war, obwohl aus seinen Schriften nicht erkennbar ist, dass er sich angepasst hätte. Wissen Sie, wie Hartmann das gemacht hat, oder was die Nazis sich davon versprochen hatten, ihn auf dem Lehrstuhl zu belassen?

Krings: Was ich hier geschildert habe, hat sich alles im Umkreis eines Konkordatslehrstuhls abgespielt. An den anderen Lehrstühlen wurde, wenn auch unter starken kriegsbedingten Einschränkungen, weiter gearbeitet, so lange keine antinazistischen Aktivitäten beobachtet wurden. Wenn Kurt Huber nicht in die Aufdeckung des Widerstandes der „Weißen Rose“ hineingekommen wäre, hätte auch er bis zum Ende des Krieges gelesen. Seine Leibniz-Vorlesungen waren qualitative, gute philosophische Vorlesungen ohne irgendeine politische Tendenz, und die hätte er auch noch zwei oder drei Jahre weiter machen können. Für das Militär kam er ohnehin nicht in Betracht. Und so hat es viele gegeben, die einfach dageblieben sind, weil sie nicht aufgefallen sind. Die Berliner Situation habe ich nicht gekannt. Aber Nicolai Hartmann ist sogleich nach dem Krieg Ordinarius in Göttingen geworden; also kann er sich nicht den Nazis angepasst haben.

Widerspruch: Aber was haben sich die Nazis davon versprochen, dass sie ihn oder auch Prof. Huber haben weiterlehren lassen? Sie haben doch auch andere Bereiche der Gesellschaft rigoros auf ihre Linie gebracht.

Krings: Das liegt genau an dem Defizit, warum auch keine Auseinandersetzung mit den Nazis möglich war. Sie hielten diese Art von Philosophie für absolut belanglos und für politisch völlig uninteressant. Wenn die Professoren da von ihrer Metaphysik und Ontologie redeten, so galt das gar nichts. Es musste erst in irgendeiner Form ein anderer, politischer oder weltanschaulicher Faktor da sein, wenn es zu einem Vorgehen kam.

Widerspruch: Heißt das, dass das ursprüngliche Interesse der Nationalsozialisten, die Universitäten in den Griff zu bekommen, scheiterte?

Krings: Ja, aber nicht, weil die Universitäten einen nennenswerten Widerstand geleistet hätten, sondern weil die Universität überhaupt kein Instrument des Nationalsozialismus gewesen ist und auch nicht sein konnte. Nochmals: Der Nationalsozialismus war anders als der Sozialismus. In den sozialistischen Staaten sind die Universitäten und Akademien ein wichtiger Faktor. Für den Nationalsozialismus spielten sie keine Rolle. Sie mussten natürlich ,,gleichgeschaltet“ werden; es kamen nur Leute in Führungspositionen, die Nationalsozialisten waren, und da, wo Weltanschauung hineinspielte, wurde versucht, die nationalsozialistische Weltanschauung zur Geltung zu bringen. Aber auch die Verweisung von Rintelens von der Münchner Universität geschah im Grunde nicht wegen seiner Philosophie, sondern weil er einen Konkordats-Lehrstuhl innehatte.

Widerspruch: Wenn Sie damals eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Ideologie nicht für sinnvoll gehalten haben, würden Sie das heute ebenfalls sagen?

Krings: Für eine philosophische Auseinandersetzung sehe ich nach wie vor keinen Ansatzpunkt. Ich wüsste nicht, auf welche Texte ich mich beziehen sollte. Nennen Sie mir irgendwelche halbwegs ernstzunehmende Texte, die diese absurden Positionen zu begründen versuchen. Das Ganze ist ein historisches Phänomen, mit dem man sich sicher auseinandersetzen muss, auch im Hinblick auf seine politischen, sozialen, auch sozialpsychologischen Gründe. Handelte es sich vielleicht um die Folge einer nicht stattgefundenen Revolution, um den Rückschlag einer Revolutionsbewegung in einer völligen Verquerung? Auch die Hypertrophie des nationalstaatlichen Denkens ist inzwischen ein historisches Phänomen, – wenigstens für Europa.

Widerspruch: Sind Sie also dagegen, philosophiegeschichtliche Traditionslinien in den Nationalsozialismus hineinzuziehen, nach dem Motto: ,,von Hegel bis Hitler“?

Krings: Gewiss gibt es ,,Linien“; das zeigt schon der Name ,,Drittes Reich“. Aber man kann den Nationalsozialismus weder auf Hegel noch auf Nietzsche zurückführen, noch gar einen Kausalzusammenhang herstellen. Der Nationalsozialismus war eine politische Emotion, nicht eine politische Philosophie. – Eine andere Sache ist, dass auch bedeutende Zeitgenossen für diese Emotionen anfällig gewesen sind. Heidegger ist ein Fall und in der Dichtung etwa Gottfried Benn. Doch mit philosophischer Tradition hat das nicht viel zu tun.

Widerspruch: Sind Sie also der Auffassung, die Philosophie habe als geistige Institution die Zeit des Nationalsozialismus passiert, ohne inhaltlich tangiert worden zu sein, – als ,,Philosophia perennis“, die geblieben ist, was sie war?

Krings: Ja, das würde ich schon meinen. Die philosophischen Traditionen, die kantische, nachkantische und neukantianische wie auch die der klassischen Philosophie, sind vom Nationalsozialismus wenig tangiert worden. Der Einbruch in die philosophische Tradition in Deutschland ist nicht von den Nazis gekommen, sondern aus dem angelsächsischen Bereich.

Widerspruch: Nun, wenn man mit geschärftem Auge hinsieht, merkt man doch eine Menge Anpassung und Assimilation.

Krings: Gewiss, da hat sich eine bestimmte Art von Vortrag der Philosophie an den Nationalsozialismus angepasst. Aber es ist nicht so, dass der Nationalsozialismus eine Philosophie im Sinne der europäischen Tradition hervorgebracht oder ihm eine Philosophie zugrunde gelegen hätte.

Widerspruch: Herr Prof. Krings, wir danken für dieses Gespräch.

Für den Widerspruch nahmen an dem Gespräch teil: Wolfhart Henckmann, Alexander von Pechmann und Elmar Treptow.

Fleury – Die Klinik der Würde

Cynthia Fleury

Die Klinik der Würde

geb., 150 Seiten, 24,- €

Berlin 2024 (Suhrkamp Verlag)

von Marianne Rosenfelder

Die westlichen Demokratien haben Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte und Würde verfassungsrechtlich verankert. Doch ist es, wie die Autorin darlegt, besonders um die Würde schlecht bestellt, obgleich der Begriff die sozialen, politischen und ethischen Debatten prägt und seine Anwendung ubiquitär ist.

Die Divergenz von Theorie und Praxis ist eklatant; denn die theoretische Wertschätzung der menschlichen Würde als universeller Grundwert und als Anerkennung der „Singularität und Vulnerabilität der Menschen“ wird konterkariert durch Armut, Prekarisierung und zunehmend entwürdigende Zustände in Institutionen wie Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern, Altenheimen oder Gefängnissen.

Nach Fleury tut sich zudem eine gesellschaftliche Kluft auf zwischen den „Gebern“ von Würde und Fürsorge, die unter saturierten Bedingungen leben, und denjenigen, die ihnen unterbezahlt zu Diensten stehen und dafür meist auch noch unwürdig behandelt werden, – „obgleich alle dieselbe irreduzible und nicht verhandelbare Würde besitzen“ (7). Sowohl in der Arbeitswelt als auch an Orten der sozialen Ausgrenzung gehe es heute primär darum, den mittlerweile üblichen Formen und Methoden der Entwürdigung zu entkommen, die in der Gesellschaft zu einem „gängigen Führungskonzept“ geworden sind.

Fleurys Intention ist es, dem Begriff der Würde wieder zu seinem Recht zu verhelfen. Dazu entwirft sie die Institution einer „Klinik der Unwürde“ (indignité), um die „Ränder und Kehrseite“ der Würde zu untersuchen und Fälle von „Unwürde“ interdisziplinär mittels der Geistes-, Sozial- und medizinischen Humanwissenschaften zu diagnostizieren und zu therapieren.

Würde ist nicht nur eine metaphysische oder ontologische Eigenschaft des Menschen. Der Begriff der Würde bedarf der Materialisierung. Würde bleibt ein leerer Begriff, wird sie nicht an Bedingungen geknüpft wie menschenwürdige Arbeit und Bleibe, Gesundheitsversorgung oder öffentliche und politische Handlungsfähigkeit. Eine Politik der Würde sollte, gestützt auf die Klinik der Würde, Probleme erkennen und ihre Implementierung im Sinne einer sozialphilosophisch verankerten relationalen, auf Interaktion bezogenen Konnotation des Begriffs umsetzen.

Als mögliche Gründe für die Divergenz von Theorie und Praxis des Wertes der Würde nennt Fleury sowohl die Kritik der Aufklärung als auch den westlichen Universalismus. Den Königsweg zur Überwindung des Gegensatzes von formaler und tatsächlicher Würde sieht sie in einer Care- oder Fürsorgeethik, die auf eine höhere Sensibilität für vulnerable Bevölkerungsgruppen sowie für ökologische Gefährdungen durch die industrielle Produktion und Konsumtion ziele.

Fleury umkreist diese Thematik in insgesamt sechs Kapiteln. In Die Zeitalter der Würde skizziert sie die Entwicklung dieses Konzepts. Seit der Antike war dignitas an Verdienst, Ehre, Adel und sozioökonomischen Status gebunden. Pico della Mirandolas Theorie der Selbstbestimmung des Menschen war ein erster Schritt aus dieser Determiniertheit. Die Forderung der Materialisierung der Würde als Zeichen ihrer Gültigkeit erfolgte mit Jacques Benigne Bossuets Traktat De l´éminent dignité des pauvres (1659).

Seit der Aufklärung und der Französischen Revolution steht der Begriff der Würde für die Moderne als Ära des Fortschritts im Sinne würdiger Lebens- und Arbeitsbedingungen. Von der sozialen Herkunft emanzipiert bezeichnet Würde nun den intrinsischen Wert der Person und den Respekt gegenüber den Rechten und der Singularität des Einzelnen. Würde ist daher ein ethischer und relationaler Begriff. Würdevolles Verhalten wird zum moralischen Anspruch. Unwürdig sind nicht diejenigen, „die unter unwürdigen Bedingungen leben, sondern diejenigen, die diese Bedingungen schaffen und tolerieren“ (14).

Derzeit könnte sich das Verständnis von Würde nach Fleury durch die Tendenz zur Verdinglichung des Menschen oder zur Ausklammerung sozialer und rechtlicher Kontexte erneut wandeln. Mit Axel Honneths sozialphilosophischer Theorie der Anerkennung sei der Begriff jedoch wieder relevant geworden, erwachse doch der Kampf um Anerkennung aus der Geringschätzung individueller wie kollektiver Leidensgeschichten und ziele auf die Kongruenz von formaler und realer Würde. Honneth priorisiere jedoch eine auf Singularität ausgerichtete Variante des Begriffs, die nur dann konstruktiv sei, wenn Anerkennung auch als relationaler Begriff verstanden werde und die politisch-ökonomische Frage der Gerechtigkeit der Güterverteilung berücksichtige.

Nach Fleury sollte die Reflexion des Universellen und des Begriffs der Würde den Prozess der De-Kolonisierung mit einbeziehen. Im Kapitel über Die universelle Unwürde definiert sie Unwürde als „Verletzung der physischen und psychischen Integrität“ (29). James Baldwin habe diese Verletzungen realistisch aus der Perspektive der Betroffenen beschrieben und damit seine Gemeinschaft restituiert. Die Würde ders Sklaven sei die des Widerstandes gegen Unfreiheit und symbolisiere die als universell zu interpretierende Würde der Aufklärung samt der oft ausgeklammerten gewaltsamen Kolonialgeschichte. Die Narrative der Klinik der Unwürde basierten auf der Weisheit von Überlebensstrategen, welche die moderner Philosophen überflügele. Mit Baldwin sei das Konstrukt der Klinik der Würde um das Schwarzsein im Sinne der universellen Erfahrung des Menschseins als Vulnerabilität erweitert worden.

Fleury bezeichnet die CareEthik als Phänomenologie des Politischen, die gesellschaftlich Verborgenes zur Sprache bringe. Wie die koloniale Ideologie der „Last des weißen Mannes“ ist care ein ambivalenter Begriff, da er mit dem Paternalismus und der Ungleichheit als Kehrseite des offiziellen Wohlwollens verbunden ist. Im Kapitel Die Klinik des Schmutzigen beschreibt Fleury die dem Begriff care immanente Negation:als dark care, dirty care oder dirty work werden Arbeiten bezeichnet, die als unwürdig gelten, es aber nicht sind. Den care-Arbeitern erscheint ihre Tätigkeit wie „erduldete Gewalt“(51), basiere sie doch auf konsolidierten Herrschaftsverhältnissen und berge Machtbeziehungen, die die Beherrschten zu Komplizen dieser Gewalt machen, indem sie verpflichtet sind, die Herrschenden zu umsorgen. Care sollte daher politisiert und unter Be-Achtung aller Beteiligten öffentlich thematisiert werden. Schließlich basiere unsere Würde auf der „Drecksarbeit der Mehrheit“, deren Innerlichkeit, Propriozeption und physische Intimität als Garanten der Würde verletzt werden. Trotz der psychischen Belastung für die Pflegenden müsse die Beziehung zu vulnerablen Personen menschlich gestaltet werden. Die Klinik der Un-Würde sollte hinterfragen, unter welchen Umständen die Verantwortlichen dirty care veranlassen. Obgleich sie bezüglich care darauf angewiesen sei, verdränge die Gesellschaft den Verkehr mit dem Unwürdigen und ziehe damit ihre Grenze.

Individuen, die der Freiheit beraubt sind, weisen Symptome auf, die Fleury als Pathologien der Würde thematisiert. Franz Fanon hat deren paradoxale Struktur analysiert: mentale Schäden durch unwürdige Zustände in kolonialen psychiatrischen Kliniken, in denen Kranke gerade von den Leiden, die vom Kolonialismus verursacht wurden, geheilt werden sollen – von der Entfremdung und Ich-Spaltung, der Fragmentierung oder, im Extremfall, Nekrotisierung der Existenz durch eine systematisch-institutionelle Verschlechterung der Lebensbedingungen.

Die primäre Erfahrung, der Kolonisierte ausgesetzt sind, ist die Möglichkeit des gewaltsamen Todes oder der Lebens- als Todesgeschichte. Diese Nekropolitik wurde in kolonialen Systemen praktiziert; aber auch nicht- oder de-koloniale Gesellschaften weisen heute solche Strukturen auf. Fleury rekurriert auf Judith Butlers und Frédéric Worms´ Beschreibung des unerträglichen, „unlebbaren“ Lebens „des deklassierten, mehr als prekären, heimatlosen Menschen“ (75), der, ständiger Ungewissheit ausgesetzt, zum Gefangenen seines Kampfes ums tägliche Überleben wird. In diesem Zustand kann das Subjekt sich nicht äußern und findet keine Anerkennung. Daher müsse Fürsorge politisiert, entgendert und Thema der Demokratie werden.

In Fanons Verdammten der Erde wurde, von Sartre sekundiert, die verlorene Würde und damit das Gefühl von Souveränität und Zugehörigkeit mit Gewalt zurückerobert. In dieser Hinsicht hat Würde Bezug zu kollektiver Identität und ist durch die Kategorie des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ in der Erklärung der Menschenrechte (1948) rechtlich verankert..

Die Kritik der globalen Ungleichheit samt ihrer Plutokraten ist überschrieben mit Das Unwürdig-Werden der Welt. Fleury sieht einerseits in der Würde als positives Recht eine Errungenschaft der Moderne, andererseits definiert sie die Moderne als „systematische Fabrik des Würdeverlusts für das Subjekt“. Die Klimakrise als Realität des Anthropozäns zeitige einerseits globale Mobilität, andererseits „entropische Kollapserfahrungen“ (84) und die Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in fossilen Wirtschaftssystemen.

Angesichts dieser Konstellation diagnostiziert Fleury mit Achille Mbembe ein „Brutalistisch-Werden der Welt“. Durch die Exzesse des Neoliberalismus konstituiere sich Macht als Fragmentierung, Erschöpfung, Verarmung und Proletarisierung und sei vergleichbar mit der kolonialen Brutalität gegen Mensch und Natur.

Ein Aspekt dieser gnadenlosen Normalisierung der Entwürdigung ist die systematische Ausgliederung und Entmündigung von Menschen in Lagern, wie sie bereits Zygmunt Bauman analysiert hat.

Solche Zustände provozieren Rückzug, Burnout, Ressentiments und politische Emotionen, allen voran Empörung. Doch mit Stéphane Hessels Aufruf Indignez-vous/Empört Euch (2010) wird, wie Fleury im letzten Kapitel darlegt, so leicht keine politische Schlacht gewonnen. Zwar vermag Empörung durch politisch wirksame performative Aktionen eine gewisse Zeit die öffentliche Meinung und Debatten zu beherrschen, doch oftmals entpuppten sich die Inszenierungen solcher „Empörungsgemeinschaft“ (110) als Selbstzweck, und ihre emotionale Aufladung verhindere Kompromisse und manövriere die Kampagnen ins Abseits.

In der Rhetorik der Empörung überschneiden sich zudem Würde und Ehre, eine Entwicklung, die Fleury den Medien und sozialen Netzwerken zuschreibt, die als panoptische Machtzentren die Würde gefährden, indem sie die Sprache in den Dienst der Entehrung, Diffamierung und Klassifizierung stellen. Ihnen setzt Fleury die Hoffnung auf die Herstellung würdiger zwischenmenschlicher Beziehungen in der Care-Ethik als Handlungstheorie entgegen, die über die Fürsorge Politik neu begründet soll. Diese konzipiert sie im Verbund mit Ansätzen aus John Deweys demokratischer Pädagogik, Ivan Illichs Theorie der konvivialen Gesellschaft sowie der Reanimierung der Commons-Theorie. Eine solche Fokussierung auf das Gemeinsame würde das private Eigentum als Wert relativieren, da dieses Gemeinsame Engagement und Verantwortung verlange und idealiter die soziale und ökologische Gerechtigkeit mit der demokratischen Teilhabe und ökonomischen Gleichheit verbinden könne.

Im Epilog fordert die Autorin die Akteure der „Klinik der Würde“ auf, all die Fälle der Unwürde zu analysieren und zu dokumentieren, da mit der Revitalisierung qualitativer zwischenmenschlicher Beziehungen ein Gegengewicht zum herrschenden quantifizierenden biopolitischen Regime geschaffen werde. Fraglich bleibt freilich, ob durch solche care-ethische Maßnahmen der gleichberechtigte Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, der in den Demokratien während der letzten Jahrzehnten zugunsten der Privatisierung preisgegeben wurden, auch nur annähernd kompensiert werden kann.

Fleurys Analyse des Begriffs der Würde und seine theoretische und praktische Erweiterung ist nachvollziehbar, und ist auch an der Zeit. Der Begriff der Klinik jedoch erscheint mir nur dort plausibel, wo es tatsächlich um die im Argen liegenden Zustände in den realen Institutionen der Pflege etc. geht. Hier wäre darüber hinaus eine ökonomische und eine politische Kritik der zunehmend börsennotierten, gewinnorientierten Organisationsformen dieser Einrichtungen als eine der Hauptursachen des Versagens angebracht.

So mag ihr Fürsorge- oder Care-Ansatz durchaus ein hehres Ziel sein; aber mit ihm allein ist es nicht getan. So sind spätestens seit der Corona-Epidemie die Forderungen der Care-Beschäftigten bekannt; und es ist zudem fraglich, ob ihre aufrichtigen Bemühungen um die Würde und deren Materialisierung wirklich greifen, wenn von ihr die Löhne und Arbeitszeiten kaum thematisiert werden. Zwar lassen sich in der Tat Würde und Selbstwert schwerlich gegen Geld aufrechnen; aber dies kann kein Argument gegen anständige Löhne in der „Klinik der Würde“ sein.

Kohout – Austeilende Ungerechtigkeit

Franz Kohout

Austeilende Ungerechtigkeit. Wie die Wohlhabenden sich am Steuerstaat bereichern

br., 172 Seiten, 24.- €

Potsdam 2023 (edition fatal)

von Bernd M. Malunat

Man muss es sich erst klar machen: Steuern bilden die Dreh- und Angelpunkte eines jeden Staates; Steuern sind seine hauptsächliche Einnahmequelle. Ohne diese Einnahmen ist er machtlos, unfähig, auch nur eine seiner vielfältigen Aufgaben wahrzunehmen. Das gilt seit altersher, und es gilt erst recht in der Gegenwart, da die Aufgaben des modernen Staates immens angewachsen sind. Die sogenannte „Ampel-Koalition“ scheiterte in der jüngeren Vergangenheit vor allem daran, dass sie sich nicht auf einen gemeinsamen Bundeshaushalt, also auf die Verwendung der Steuereinnahmen, verständigen konnte oder wollte.

Blickt man in die Geschichte zurück, zeigt sich, dass selbst die Grundlagen des modernen Parlamentarismus auf dem der Obrigkeit eingeräumten Recht beruhen, von den Untertanen Steuern verlangen zu dürfen. Sehr eindringlich zeigt sich das an der von den nordamerikanischen Kolonien Englands vorgetragenen Forderung: no taxation without representation – die letztlich in die Unabhängigkeit mündete.

Die Schrift des Politikwissenschaftlers Franz Kohout handelt vom Steuer-Staat, davon, wie durch Disruption Gleichheit, Gerechtigkeit und letztlich Demokratie gefährdet werden, weil der Grundsatz, dass alle nach ihren Möglichkeiten in gleicher Weise zum Gelingen beizutragen haben, verletzt wird. Nicht zuletzt aufgrund steuerpolitischer Entscheidungen wird die Kluft zwischen armen und reichen Bürgern immer größer. Es wächst jedoch nicht nur die Einkommens-Schere, sondern zugleich auch die Vermögens-Schere, und sie wachsen seit langer Zeit so stark, dass die Diskrepanz eines Tages unerträglich werden könnte. Dies ist übrigens keineswegs nur ein soziales Problem; vielmehr gestatten es die angehäuften, geradezu gigantischen Vermögen auch, unmittelbar Einfluss auf die Gestaltung der Politik in den Staaten zu nehmen, wie er in der jüngeren Vergangenheit bereits folgenreich praktiziert worden ist. Demokratien werden in autoritäre oligarchische Plutokratien transformiert.

Für diese in höchstem Maß unverträgliche Entwicklung gibt es eine Vielzahl steuerlicher Gründe. Zum einen gibt es in föderativ organisierten Staaten auf den verschiedenen Ebenen das Recht, Steuern zu erheben, zum anderen ist das Steuerrecht so umfangreich und kompliziert, dass der Steuer-Dschungel kaum noch zu durchdringen ist, und schließlich sind auch all die internationalen Möglichkeiten der Steuergestaltung sowohl in der EU als auch in der globalisierten Welt zu beachten. Aus ihnen resultieren die vielfältigen Vorteile insbesondere derjenigen, die es sich leisten können, die fest etablierten Steuerberatungs- und -vermeidungsindustrie in Dienst zu nehmen. Zudem gilt es, den geradezu monströsen Lobbyismus zu betrachten, der es vermag, die Gesetzgeber der verschiedenen Ebenen unter einen erheblichen politischen Druck zu setzen, der sich durch selektiv plazierte Parteispenden noch einmal beträchtlich verstärken lässt.

Wie die ‚austeilende Ungerechtigkeit‘ funktioniert, die der Titel treffend annonciert, zeigt der Autor an einer Reihe konkreter Beispiele. So wurde die Vermögenssteuer auf die geradezu unanständigen Riesenvermögen faktisch abgeschafft. Die Erbschaftssteuer ist zu einer Bagatellsteuer verkommen, die gerade mal die Hälfte der Tabaksteuer einbringt. Keine Erbschaftssteuer zahlen die Erben eines Unternehmens, wenn sie das Unternehmen nur sieben Jahre weiterführen. Gewerbetreibende können die Zahlung der Gewerbesteuer durch die Gründung von Schein- oder Briefkastenfirmen umgehen. Durch völlig legale Gewinnverlagerungen ins Ausland gehen dem Staat jährlich Milliarden Euro an Körperschaftssteuern verloren. Diese wenigen Beispiele zeigen, welche Möglichkeiten die Wohlhabenden genießen.

Im Gegensatz dazu hat der geringverdienende ‚normale‘ Bürger kaum steuersenkende Möglichkeiten. Ihm wird die Lohnsteuer vom Arbeitgeber direkt vom Gehalt abgezogen, und die Möglichkeit der Rückerstattung mittels der Steuererklärung wird häufig nicht genutzt. Die Gruppe dieser Steuerpflichtigen ist allerdings von großer Relevanz, weil die Verbrauchssteuern (v.a. Mehrwert- und Energiesteuern) rund 42 Prozent des Steueraufkommens ausmachen, da deren Einkommen überwiegend in den Konsum (und die Miete) fließt. Schon deshalb ist ihre relative Steuerbelastung deutlich höher als die der Wohlhabenden. Hinzu kommt, dass die Kapitalertragssteuer auf 25 Prozent begrenzt wurde, während die Einkommenssteuer progressiv auf bis zu 42 Prozent steigt.

Diese ‚Ungleichbehandlungen‘ liegen aber auch daran, dass die Finanzverwaltung unterbesetzt und deshalb chronisch überlastet ist. Vor allem mangelt es an Betriebsprüfern und Steuerfahndern, weshalb Unternehmen nicht regelmäßig überprüft werden können. So etwa wurden die obszönen Cum-Ex-Transaktionen, die den Staat nicht nur sehr viel Geld, sondern auch sehr viel Vertrauen kosteten, jahrelang nicht erkannt. Sollte es für einen allzu findigen Steuerbürger aber doch einmal eng werden, erlangt er nach gelungener Selbstanzeige Straffreiheit.

Dem Autor geht es jedoch nicht nur darum, die sozialen Ungerechtigkeiten des Steuersystems aufzuzeigen, vielmehr unterbreitet er auch Vorschläge, wie eine gerechtere Besteuerung gestaltet werden könnte und sollte. Dazu gehöre in erster Linie eine einfachere und klarere Gesetzgebung. Ferner seien eine gerechtere Gestaltung der Freibeträge, die Besteuerung der Einkommen, die aus leistungslos erworbenen Vermögen fließen, sowie eine internationale Steuerharmonisierung, einschließlich einer Finanztransaktionssteuer, sowie vor allem eine drängend notwendige ökologische Steuerreform (etwa durch Streichung umweltschädlicher Subventionen) erforderlich. Diese Maßnahmen würden nicht nur zu mehr – intergenerativer – Gerechtigkeit führen; sie könnten dem Staat auch deutlich höhere Steuereinnahmen bescheren.

Für die Erreichung dieser Ziele setzen sich seit geraumer Zeit einige sehr engagierte zivile Bewegungen ein, deren Erfolge aber begrenzt bleiben müssen, solange die Brisanz der Steuergerechtigkeit für den überwiegenden Teil der Bevölkerung von den staatlichen Akteuren nicht ernst genommen werden. Doch haben einige Parteien wenigstens in Zeiten des Wahlkampfs die Frage der Steuergerechtigkeit zumindest programmatisch erkannt – bleibt zu hoffen, dass sie sich daran erinnern, sollten sie nicht zuletzt dieser Versprechen wegen in die Verantwortung gelangt sein!

Fuchs – Radikaler digitaler Humanismus

Christian Fuchs

Radikaler digitaler Humanismus. Eine Philosophie für die digitale Gesellschaft des 21. Jahrhunderts

br., 165 Seiten, 29,90 €

München 2024 (UVK Verlag)

von Konrad Lotter

Im Zentrum des Buches steht der Gegensatz von liberalem und radikalem Humanismus. Der eine beruht auf der Proklamation der Menschenrechte zur Zeit der Französischen Revolution und war gegen den Feudalismus gerichtet. Er forderte die Gleichheit vor dem Gesetz sowie die Freiheit der Meinung, der Versammlung und der Religion. Vor allem aber schützte er das (Privat-) Eigentum und das Recht des bürgerlichen Individuums, „ohne Beziehung auf andere Menschen … sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren“ (Marx). Damit bildete er die Grundlage für den Aufstieg der kapitalistischen Produktionsweise. Der andere, der radikale Humanismus ist hingegen gegen die bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise mit allen ihren Verwerfungen gerichtet und klagt die Freiheits- und Entwicklungsrechte aller Menschen ein. Diese Produktionsweise kam erst im Zuge der sog. ursprünglichen Akkumulation, d.h. vor allem durch die Ausbeutung der Kolonien und der Versklavung ihrer Bevölkerung, in Schwung und hatte die Unterwerfung des „globalen Südens“ unter die Herrschaft des zivilisierten „Westens“ zur Folge. Die erste Forderung des radikalen Humanismus, so Christian Fuchs, Professor für Medientheorie an der Universität in Paderborn, ist infolgedessen nicht nur die Aufhebung des (Privat-) Eigentums und der Ausbeutungsverhältnisse auf nationaler Ebene, sondern auch die Ent-Kolonialisierung im globalen Maßstab, d.h. die Angleichung der individuellen Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen, nicht nur auf den Gebieten der Bildung und der Wissenschaften, sondern auf allen Gebieten des Lebens.

Martin Heidegger, Günter Anders, Peter Sloterdijk oder Yuval Harari haben den Humanismus für geschichtlich überholt erklärt. Mit der Ausweitung der modernen Massengesellschaft und dem technischen Fortschritt mit seinen Möglichkeiten der genetischen und informationellen Manipulation, so ihr Argument, sei das Maß der individuellen Selbstbestimmung und Autonomie geschrumpft, jede Form des Humanismus an ihr Ende gekommen. Damit, so das Gegenargument von Christian Fuchs, könne freilich nur der alte, liberale Humanismus gemeint sein, dessen Kritik der Ausgangspunkt eines neuen Humanismus sein müsse. Dieser sei nicht mehr auf das Recht und die Freiheit des egoistischen Individuums, sondern auf das Recht und das Gemeinwohl aller Menschen gerichtet. Unter Berufung auf Marx, Rosa Luxemburg, Erich Fromm und Henri Lefebvre, auch auf Adorno und Horkheimer (die umstandslos der Marxschen Tradition zugeordnet werden), entwickelt er so die Grundrisse eines radikalen Humanismus. Weshalb er das Epithteton „radikal“ gewählt hat und nicht den in der Marxschen Tradition üblichen Begriff des „realen“ Humanismus verwendet, ist dabei nicht recht einzusehen. Beide Begriffe besitzen offenbar die gleiche Bedeutung. Wie auch immer: Mit seinem radikalen Humanismus erhebt Fuchs den Anspruch, eine „Philosophie für die digitale Gesellschaft des 21. Jahrhunderts“ zu entwerfen, eine Philosophie, die nicht nur auf ein friedliches Miteinander der Menschen und Nationen gerichtet ist, sondern auch einen Weg aufzeigen soll, wie die gegenwärtigen Probleme der Klimaveränderung, des sozialen Elends und der Armuts-Migrationen behoben werden können.

Unter dem Gesichtspunkt des Humanismus weist die Entwicklung der Technik von jeher in entgegengesetzte Richtungen. Schon die Dampfmaschine, die die industrielle Revolution einläutete, erleichterte zwar die Arbeit und erhöhte ihre Produktivität, erniedrigte aber zugleich (wie seit Adam Smith immer wieder beklagt wurde) die Arbeitenden zu geistlosen Automaten und „Anhängseln“ der Maschine. Mit jeder „Welle“ technischer Innovationen, von der Elektrizität, den neuen Formen der Mobilität, der Nuklear-, Computer- oder Kommunikationstechnologie verschärfte sich dieser Gegensatz. Immer unversöhnlicher standen sich dabei die positiven Möglichkeiten, die das Leben der Menschen erleichterten und bereicherten, den negativen Realitäten gegenüber, die die Selbstbestimmung der Menschen einschränkten, ihre körperliche und psychische Integrität beeinträchtigten und sie an der Entfaltung ihrer Anlagen hinderten. Im Falle der digitalen Technologien und der KI haben die Gefahren zuletzt ein neues Niveau erreicht. Neben der totalen Überwachung und Manipulation der Menschen, der möglichen Herrschaft von Robotern und einem „digitalen Faschismus“ sind Ängste entstanden, die Menschen machten sich selbst überflüssig und schafften sich letztlich ab.

Die großen Industrienationen der USA, Chinas und der EU betrachten, wie Fuchs ausführt, die Entwicklung der KI gleichermaßen als eine „Schlüsseltechnologie“, die mit Steuergeldern großzügig unterstützt wird. Im internationalen Wettkampf geht es um die ökonomische Vorherrschaft, auch wenn die Interessen daran voneinander abweichen. In den USA steht offenbar das Interesse der Manipulation der Konsumenten und Wähler im Vordergrund, im China das der Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung. In Europa wird zwar versucht, die Privatsphäre der Menschen zu schützen, trotzdem, so scheint es, werden auch hier die Risiken der neuen Technologie heruntergespielt. Fuchs zitiert Nida-Rümelins und Natalie Weidenfelsʼ Buch über Digitalen Humanismus (2018) und das Wiener Manifest für digitalen Humanismus (2019). In beiden Schriften werden zwar bestimmte Risiken der digitalen Technologie gesehen und thematisiert, gleichermaßen aber glauben ihre Autoren, diese Risiken durch Ethik und politische Reformen im Rahmen der bestehenden Eigentumsordnung, also unter der Voraussetzung des alten, liberalen Humanismus beherrschen zu können. Diesen Glauben teilt Fuchs nicht. Gegen die sozialdemokratische Naivität der beiden Schriften könnte (in seinem Sinne) der Satz gestellt werden, den Orlando Patterson bei der Verleihung des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart (2024) geäußert hat: „In Amerika … besitzen jetzt drei Milliardäre mehr Vermögen als die untere Hälfte der Bevölkerung zusammen … Unter solchen Bedingungen wird ein ethisches Leben – wird Sittlichkeit – unmöglich.“ Anders formuliert: Unter den genannten Verhältnissen, unter denen sich die Schere von Arm und Reich immer weiter öffnet, hat der alte, liberale Humanismus seine Existenzberechtigung verloren. Zu begrüßen sei daher jede Aktion, die zu seiner Fortentwicklung in Richtung auf eine am „Gemeinwohl“ aller Menschen orientierte Weltordnung führt und uns einer radikal humanistischen, wirklich demokratischen und sozialistischen Gesellschaft näherbringt.

Eher am Rande steht Fuchsʼ ausführliche Diskussion, die sich auf die Verbreitung von Covid-19 (im Zusammenhang mit der „kapitalistischen Nekropolitik“) bezieht. War denn die kommunikative und soziale Vereinsamung, unter der viele Menschen gestorben sind, und waren überhaupt sowohl die Ursache als auch die rasche Verbreitung dieser Krankheit ein spezifisches Problem des Kapitalismus? Als „kapitalistisch“, so scheint es, muss vor allem der Umgang mit der Pandemie, d.h. die Entwicklung und Zulassung der Impfstoffe, die Produktion und Verteilung der Masken, die Organisation von Home-Office etc. bezeichnet werden. Schon in vorkapitalistischen Zeiten grassierten Seuchen wie etwa die Pest, und auch ein zukünftiger „demokratischer Sozialismus“ ist, wie Fuchs selbst einräumt, keine Garantie für das Aussterben tödlicher Seuchen. Richtig ist natürlich, dass digitale Kontakte zu erkrankten und isolierten Menschen via Handy oder Computer eine „direkte Präsenz … nicht ersetzen“ können. Mit dem Problem des digitalen Humanismus aber hängt Covid-19 nur über viele Schritte vermittelt zusammen.

Klar und einleuchtend ist Fuchsʼ Plädoyer für den radikalen Humanismus; etwas redundant erscheint dagegen die Form seiner argumentativen Darstellung. Bereits an den Anfängen der verschiedenen Kapitel stehen „Zusammenfassungen“ dessen, was erst ausgeführt werden soll. Es folgen dann „Einleitungen“, in denen die Fragen gestellt werden, die beantwortet werden sollen. Am Ende der Kapitel stehen dann noch „Schlussfolgerungen“, in denen oftmals gesagt wird, was schon gesagt ist. Viele Wiederholungen, die leicht hätten vermieden werden können, sind die Folge. Von diesen Vorbehalten abgesehen (die von vielen Lesern möglicherweise gar nicht als Mangel empfunden werden) ist der Mut und die Entschiedenheit zu bewundern, mit denen Fuchs über die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise hinausdenkt und gegen viele Widerstände das Programm eines neuen Humanismus entwirft.