Stanley – Wie Faschismus funktioniert

Jason Stanley

Wie Faschismus funktioniert

kart., 216 Seiten, 22,- €, 2024 (Westend-Verlag)

von Bruno Heidlberger

Eine neue geopolitische Ära hat begonnen. Revisionistische Mächte zielen auf die Zerstörung der liberalen Weltordnung. Ihre Feinde haben die Initiative zurückerobert. Der reichste Mann der Welt, Elon Musk, hat sich zum „Chief-Verstärker des globalen Autoritarismus“ gemacht und Donald Trump geholfen die Präsidentschaftswahl 2024 zu gewinnen. „Der Autoritarismus setzt die Methoden der organisierten Kriminalität und des Rowdytums ein, um die Ordnung in der Partei aufrechtzuerhalten und sicherzustellen, dass die Autorität des Führers unangefochten bleibt“, erklärt die US-amerikanische Historikerin Ruth Ben-Ghiat.

„Ich kenne einige Leute, die Trump gewählt haben, Verwandte, Bekannte, Freunde – keine Ultrarechten, eher normale Leute. Viele von ihnen sind warmherzige Menschen, ohne viel politischen Durchblick, eher apolitisch“, sagt der US-Literaturwissenschaftler und Schriftsteller George Saunders. Für fast die Hälfte dieser ‚normalen’ Leute ist „offene Wertschätzung Hitlers akzeptabel“, berichtet die Washington Post.

Wie ist so etwas möglich? Warum wählen „normale, warmherzige Menschen“ diesen Präsidenten? „Was gestern noch arg verstörend war, wird durch stete Wiederholung irgendwann als normal empfunden“, beschreibt die Philosophin Petra Bahr den allmählichen Prozess der Normalisierung. Wiederholungen sind ein mächtiges Stilmittel nationalistischer Propaganda. Im Zeitalter von Social Media ist Propaganda vergleichbar mit der Invasion in Millionen von Gehirnen mit dem Ziel, Faktizität zu vernichten, Krisen zu produzieren, Emotionen zu manipulieren und Ungleichheit zu zementieren. Musk ist der erste globale Oligarch und der einflussreichste Agitator auf X. Er verbreitet Fake-News, antimigrantische Verschwörungstheorien, manipuliert Ängste und setzt Aggressionen frei, ist mit dem einflussreichen neofaschistischen Blogger und Vordenker Curtis Yarvin befreundet und interagiert mit dem britischen Rechtsextremisten Tommy Robinson auf X. Er hat sich „geschworen, den Wokeness-Virus zu zerstören“. Alt-Right beherrscht jetzt die sozialen Medien.

„Droht uns eine Wiederkehr des Faschismus? Befinden sich die liberalen Demokratien heute auf dem Weg in eine neue autoritäre Gesellschaftsform?“ Um diese Frage geht es in dem 2018 erschienen Buch How Fascism Works, das jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt. Jason Stanley, 1969 in Syracuse (New York) geboren, ist ein amerikanischer Philosoph, der bis vor kurzem an der Yale University in New Haven, Connecticut lehrte und schon lange vor dieser „Normalisierung“ warnt. In Wie Faschismus funktioniert analysiert er die Entstehung faschistischer Ideologien mit Bezug auf die USA, Indien und Europa. In einem Interview im polnischen Nachrichtenmagazin Polityka setzte er sich 2022 mit den Mechanismen der Entstehung und Verbreitung faschistischer Ideologien in Mittel- und Osteuropa und den Strategien der polnischen PiS-Partei auseinander.

Stanley kündigte jetzt an, die USA aufgrund des derzeitigen politischen Klimas zu verlassen. „Ich habe Angst, dass mich die Regierung ins Visier nimmt“. Stanley möchte seine schwarzen und schwarz-jüdischen Kinder schützen. Er sieht Angriffe auf DEI und die „Schwarze Geschichte“ als Angriffe auf schwarze Menschen und sagt: „Ich möchte, dass meine Kinder in Freiheit aufwachsen.“ Er folgt damit dem Ehepaar Timothy Snyder und Marci Shore, die beide in Yale Geschichte unterrichten nach Kanada, um an der ‚Munk School of Global Affairs and Public Policy’, zu arbeiten. Trotz seines Umzugs, so Stanley, werde „für die amerikanische Demokratie kämpfen, wo immer ich bin.“

Stanleys Forschung ist biographisch motiviert. Seine Mutter, Sara Stanley, und sein Vater, Manfred Stanley, kamen als Flüchtlinge in die USA. Sie hatten die Schrecken des Antisemitismus in West- und Osteuropa erlebt. Sein Vater ist in Berlin aufgewachsen. Sie waren Deutsche. Am Ende verlor seine Familie alles. „Mein Großvater, Magnus Davidsohn, war Oberkantor an der Synagoge in der Fasanenstraße; mein Vater sah das Haus abbrennen. In der Reichspogromnacht wurde mein Vater brutal zusammengeschlagen, in Folge dessen quälten ihn sein Leben lang epileptische Anfälle“, berichtet Stanley. „Meine Mutter stammt aus Ostpolen und überlebte in einem sibirischen Arbeitslager, bevor sie 1945 nach Warschau zurückgeschickt wurde, wo sie und ihre Eltern die Brutalität des polnischen Nachkriegsantisemitismus erfuhren.“

Faschismus ist für Stanley eine ständige Versuchung. Er sei nicht für Hitler und Mussolini reserviert. Wovor Stanley warnt, ist nicht die Wiederkehr des historischen Faschismus, aber vor „faschistischen Taktiken“. Das Buch handelt von den gemeinsamen Merkmalen faschistischer Bewegungen und Taktiken, von sich wiederholenden Mustern, Weichenstellungen, Tendenzen von Normalisierungen im öffentlichen Raum. Stanley geht es darum, dass wir diesen Sog frühzeitig erkennen – uns dem Sog seiner Normalisierung widersetzen. Normalisierung heißt für ihn, das Unsagbare sagbar, das Undenkbare denkbar zu machen. Die Abstimmung am 29.01.25 im deutschen Bundestag war womöglich so ein Tag der Normalisierung. Ein Tag, wo in autoritärer Anmaßung das Grundgesetz und die Menschenrechte nichts mehr gelten. „Mir ist es völlig gleichgültig, wer diesen Weg politisch mitgeht. Ich gehe keinen anderen“. Migration und Kriminalität bei Flüchtlingen sind die Lieblingsthemen einiger Medien und von Konservativen bis nach rechts außen. Damit zielt man direkt auf Affekte und Ressentiments der Wähler und kann Wahlen gewinnen. Was die Neue Rechte nie geschafft hat, das haben CDUCSU und FDP geschafft, die Spaltung der bürgerlichen Mitte. Die Probleme scheinen jetzt erst richtig anzufangen.

Im aktualisierten Vorwort, noch vor der erneuten Wahl Donald Trumps zum Präsidenten, meint Stanley, seine „Lehren von damals“ hätten heute „eine Dringlichkeit erreicht“, die er „selbst nicht vorhersehen konnte“. Die liberale Demokratie sei „selbst in ihren ehemaligen Bollwerken auf dem Rückzug – seit Mitte des 20. Jahrhunderts“ sei „sie nicht mehr dermaßen gefährdet.“ „Hinter dieser transnationalen, ultranationalistischen Bewegung“, so Stanley, stünden „die Kräfte des Kapitals“. Technologieriesen profitierten ebenso wie die Medien von dem dramatischen Aufeinandertreffen von „Freund und Feind“. Zudem freuten „sich Ölkonzerne, wenn ultranationalistische Bewegungen Klimaschutzvereinbarungen wie das Pariser Abkommen als Bedrohung der staatlichen Souveränität“ darstellten. „Je schwächer einzelne Länder und internationale Verträge werden, desto größer wächst die Macht multinationaler Unternehmen.“ Stanleys These lautet, dass der Faschismus „keine neue Bedrohung darstellt, sondern vielmehr eine ständige Versuchung ist“.

Wenn Stanley von „Faschismus“ spricht, meint er den „Ultranationalismus jeglicher Couleur (ethnisch, religiös, kulturell), … wobei die Nation durch einen autoritären Anführer vertreten wird, der in ihrem Namen spricht.“ „Faschistische Politik“ müsse auch „nicht zwangsläufig zu einem explizit faschistischen Staat führen“; gleichwohl sei sie „gefährlich“. Sie umfasse „eine Vielzahl unterschiedlicher Strategien: die mythische Vergangenheit, Propaganda, Anti-Intellektualismus, Unwirklichkeit, Hierarchie, Opferrollen, Recht und Ordnung, sexuelle Ängste, Appelle an das Vaterland und den Abbau von Gemeinwohl und Einheit.“ Einzelne Elemente auf dieser Liste seien „legitim und manchmal gerechtfertigt“; wenn sie aber in einer Partei oder politischen Bewegung zusammenkämen, seien sie gefährlich, vor allem dann, wenn sie Teile der Bevölkerung entmenschlichen. „Das berechnendste Symptom faschistischer Politik“ sei „die Spaltung“. Kommunisten setzten auf die „Klassenunterschiede, Faschisten auf ethnische oder religiöse Differenzen“. Letztendlich schaffe faschistische Politik mit Hilfe von Geschichtsrevisionismus, mythischer Erzählungen, Propaganda und Anti-Intellektualismus „einen Zustand der Unwirklichkeit, worin Verschwörungstheorien und Fake-News eine vernünftige Debatte“ ersetzten. Im weiteren Verlauf des Textes analysiert Stanley ausführlich diese faschistischen Strategien in Bezugnahme auf ihre Ausprägung in den Vereinigten Staaten, insbesondere vor und während Donald Trumps erster Präsidentschaft.

Epilog

Jason Stanley ist überzeugt, nur wenn wir faschistische Politik erkennen, können wir ihren schädlichen Auswirkungen entgegentreten und zu unseren demokratischen Idealen zurückfinden. Mit seiner Studie will uns Stanley auf die „Gefahr einer Normalisierung des faschistischen Mythos“ hinweisen. Sozialwissenschaftliche Forschungen zeigten, „dass Einschätzungen zur Normalität“ …]„von dem beeinflusst werden, was die Menschen für statistisch unauffällig halten“. Dabei spielen das soziale Umfeld und die Medien eine große Rolle. Der Yale-Philosoph Joshua Knobe und sein Psychologie-Kollege Adam lieferten „eine Erklärung für ein Phänomen, das diejenigen, die den Übergang von der Demokratie zum Faschismus miterlebt haben, regelmäßig aus eigener Erfahrung und mit großer Besorgnis betonen: die Tendenz von Bevölkerungen, das vormals Undenkbare zu normalisieren“. Dies sei auch, so Stanley, „ein zentrales Thema der 1957 erschienenen Memoiren meiner Großmutter Ilse Stanley, Die Unvergessenen.“„Sie blieb bis zum letztmöglichen Moment, im Juli 1939, in Berlin, um im Untergrund weiterarbeiten zu können. Von 1936 bis zur Reichskristallnacht wagte sie sich, als Nazi-Sozialarbeiterin verkleidet, in das Konzentrationslager Sachsenhausen und rettete dort, einen nach dem anderen, Hunderte von Juden (412 Menschen, d. Verf.) vor dem Tod. In ihrem Buch schildert sie das Missverhältnis zwischen den extremen Zuständen, die sie im Konzentrationslager erlebte, einerseits und der Leugnung des Ernstes der Lage und ihrer Normalisierung durch die jüdische Gemeinde in Berlin andererseits. Sie bemühte sich, ihre Nachbarn von der Wahrheit zu überzeugen“.

Stanley macht zum Schluss seiner Studie deutlich, wie weit die Normalisierung bereits vorangeschritten ist. Derzeit erlebten wir, „wie Regierungen weltweit die brutale Behandlung von Flüchtlingen und Arbeitern ohne Papiere zur gängigen Praxis erklären. … Mit der Normalisierung“ werde „das moralisch Außergewöhnliche in das Gewöhnliche verwandelt“. Diese kognitive Verzerrung wirkt höchst politisch. Was gestern noch verstörend war, wird durch immer wieder kehrende Wiederholung als normal empfunden. So würden Migranten „als Quelle von Terrorismus und Gefahr gezeichnet, statt Empathie zu erzeugen.“ Dass selbst die Hilfsbedürftigsten noch als „fundamentale Bedrohung“ dargestellt werden können, zeuge von der „irreführenden Macht des faschistischen Mythos.“ Stanley betont, dass wir trotz unserer Fehler und unterschiedlichen Perspektiven die Fähigkeit zur Empathie und zur Zusammenarbeit besitzen. Sein Buch ist ein Plädoyer für Menschlichkeit und Solidarität, das uns daran erinnert, dass wir nicht in den Extremismus und die Intoleranz verfallen, sondern uns bemühen sollten, Brücken zueinander zu bauen – „aber wir sind keine Teufel.“

Fazit

„Das, was die Trump-Regierung gerade macht, ist Faschismus“, erklärt Stanley. Die politische Entwicklung, insbesondere in den USA, hat Stanleys Befürchtungen bestätigt. Die von ihm untersuchten gemeinsamen Merkmale faschistischer Bewegungen und Strategien faschistischer Politik treffen auf das heutige Amerika weitgehend zu. Laut einer Umfrage von ABC News und Ipos vom Oktober 2024 betrachteten 49% der amerikanischen registrierten Wähler Trump als „Faschisten“, definiert in der Umfrage als „einen politischen Extremisten, der versucht, als Diktator zu agieren, individuelle Rechte missachtet und Gewalt gegen ihre Gegner bedroht oder Gewalt anwendet“. Die Trump-Regierung, die beschuldigt wird, Einwanderer entgegen gerichtlicher Anordnungen abzuschieben, könne nicht mehr, so Stanley, nur als „populistisch“ betrachtet werden. Zudem werde die freie Meinungsäußerung eingeschränkt, indem Universitäten und Bundesbehörden, die die ‚DIE’-Politik (Diversität, Gleichheit und Inklusion) unterstützen, die Finanzierung entzogen wird. Trump setze Antisemitismus ein, um die Hochschulen finanziell und politisch unter Druck zu setzen. Die Columbia University hat sich gefügt und ihre Fakultät für Nahoststudien praktisch unter Zwangsverwaltung gestellt, andere Universitäten haben sich weggeduckt.

„Das Unfassbare geschieht, und wenn wir zunächst nicht reagieren, wird das Unfassbare fassbar und dann normal“ (Saunders). Tatsächlich erscheinen die Reaktionen in den USA auf die Trumpschen Verfassungsbrüche bislang seltsam gedämpft. In der Psychologie gibt es dafür einen Begriff: ‚normalcy bias’, ‚Normalitätsverzerrung’, genauer ‚Drang zur Normalität’. Er beschreibt die Tendenz, angesichts einer Katastrophe deren Ausmaß zu unterschätzen und davon auszugehen, dass die Dinge wie gehabt weiterlaufen.

Auch in Deutschland findet seit Jahren eine Normalisierung rechtsextremen Gedankengutes statt. Dies zeigen die Leipziger Autoritarismus-Studien und die Mitte-Studie. Das gesellschaftliche Tabu, rechtsextreme Parteien zu wählen, ihre Narrative und Begriffe zu übernehmen oder in Talkshows einzuladen, wie es noch bei der NPD galt, ist längst weggefallen. Inzwischen ist es gängige Praxis, dass die Springer-Presse sowie konservative und rechte Medien gegen ‚Cancel culture’, ‚Wokisten’ und ‚Sozialtourismus’ wettern. Seit den Wahlen 2021übernehmen auch CSU und CDU im Rahmen ihres Kulturkampfes die aus Amerika importieren rechtextremistischen Narrative, die sie vor allem gegen die Grünen wenden. Einen Tag, nachdem die AfD eine Landratswahl in Sonneberg gewonnen hatte, erklärte Friedrich Merz die Grünen zum „Hauptgegner“. Am 29.01.24 bediente sich Merz einer faktenfreien Notstandsrhetorik: „Er wollte mit seinem Vorstoß in der Migrationspolitik ‚all in’ gehen“, wie er sagt. Was folgte, war ein gefährliches Pokerspiel mit der parlamentarischen Demokratie. Die AfD feierte das Ergebnis als historisch: jetzt und hier beginne eine neue Epoche. Ihr Parlamentsgeschäftsführer Bernd Baumann sagte, die Abstimmung sei „wahrlich ein historischer Moment“. Wie andere westliche Länder erlebe nun auch Deutschland „das Ende der rot-grünen Dominanz“ – und zwar „für immer“. Wer Rhetorik und Politik der AfD kopiert, zerstört die Demokratie. Zerbricht die CDU wie zuvor schon andere konservative Parteien in Europa, ist die AfD an der Macht. Unreflektierte Verbreitung rechtsextremistischer Begriffe und Narrative führt zur Normalisierung des Rechtsextremismus. Die AfD wird immer größer und immer radikaler. Im neuen Bundestag sitzt sie als zweitstärkste Fraktion mit 152 Abgeordneten, darunter bekennende Neonazis. Wo die AfD große Wahlerfolge feiert, bekennen sich Menschen öffentlich dazu, die Partei zu unterstützen. Zum anderen wirkt die globale Normalisierung von faschistischen oder rechtsextremen Ideen, insbesondere die erneute Präsidentschaft Trumps, auf Deutschland zurück. Die extreme Rechte fühlt sich in ihren Positionen bestätigt.

Jason Stanley warnt uns vor dem Prozess der Normalisierung faschistischer Taktiken, Dynamiken und Muster, dem ‚Es-wird-schon-nicht-so-schlimm werden’ oder ‚Es-war-schon-immer-so’-Modus. Statt sich selbst zu beruhigen, sollte man gegen die Normalisierung ankämpfen – sei es nur, um die eigene Resilienz zu stärken und den Wissens- und Erwartungshorizont zu erweitern. Der Verführungskraft des ‚Normalen’ können wir vor allem durch Wissen begegnen, auch durch die Verteidigung von demokratischen Werten und öffentlichen Protest. Durch den Mut zum Widerspruch. Die deutsche Geschichte lehrt uns: der Wähler hat nicht immer recht. Deshalb wird er von unserem Grundgesetz eingehegt. Über der Mehrheitsregel stehen die Menschenrechte und Art. 1 des Grundgesetzes.

Politik und Journalisten behandeln Bürger oft wie Kinder und nehmen ihnen die Verantwortung; auch aus der Angst, nicht gewählt zu werden. Wie nachsichtige Eltern behandeln wir AfD-Wähler mit unserem ‚Verständnis’, statt ihnen die Stirn zu bieten. Die Wahrheit ist zumutbar. Jeder hat für die Folgen seines Tuns Verantwortung zu tragen. Wir sollten mehr Verantwortung vom Wähler erwarten und den Aufstieg der Autoritären nicht allein auf das Versagen der Politik der demokratischen Parteien zurückführen.

Jason Stanley’s Wie Faschismus funktioniert bietet uns die Möglichkeit, moderne faschistische Tendenzen frühzeitig zu erkennen und ihrer Versuchung zu widerstehen. Dabei gehe es nicht darum, „ob der Begriff perfekt passt. Vielmehr hilft er uns, die Strategien dieser Bewegung zu verstehen.“ Wie Faschismus funktioniert ist das Buch der Stunde.

Govrin – Universalismus von unten

Jule Govrin

Universalismus von unten. Eine Theorie radikaler Gleichheit

br., 498 Seiten, 28,- €, Berlin 2025 (Suhrkamp-Verlag)

von Fritz Reheis

Der Begriff „Gleichheit“ wird üblicherweise entweder mehr „formal“ oder mehr „material“ verstanden. Formal verweist dabei auf den Bezug zu einer formalen Ordnung wie etwa einem System von Verträgen, einem formal gedachten Markt oder Staat. Material hingegen bezieht sich auf Substanzielles, also faktische Eigenheiten von Objekten oder Subjekten, wobei in der Kritischen Theorie in aller Regel soziale Aspekte wie die Verfügung über Ressourcen, vor allem Eigentum und Macht, im Zentrum stehen.

In „Universalismus von unten“ wird materiale Gleichheit nun auf eine andere Weise konkretisiert: Sie wird auf den menschlichen Körper bezogen, also gewissermaßen eine Stufe tiefer als in den üblichen Diskussionen zur materialen Gleichheit. Am Körper ist es seine Verwundbarkeit, aus der heraus Jule Govrin ihre Überlegungen zu Gleichheit und Ungleichheit entwickelt. Govrin ist Philosophin, hat derzeit eine Gastprofessur an der Universität Hildesheim und bekennt sich zu einem feministischen Ansatz in Philosophie und politischer Theorie. In „Universalismus von unten“ will sie hauptsächlich an Judith Butlers Körper-, Rancières Ungleichheits- und Bourdieus Habitusbegriff anknüpfen, um durch ein „lose verflochtenes Gewebe der Denkstränge“ zu einer „Theorie radikalrelationaler Gleichheit“ zu gelangen (378). Präsentiert wird allerdings streckenweise ein fast unübersehbares Geflecht, aus dem heraus Govrin immer wieder eigene theoretische Gedanken und empirische Belege aufblitzen lässt.

Die These des Buches lautet: Körper sind dadurch definiert, dass sie von Anfang an existenziell wechselseitig voneinander abhängig und insofern verwundbar sind. Ausgehend von Körpern muss Ungleichheit deshalb als ungleiche Verwundbarkeit verstanden werden, und zwar als eine Verwundbarkeit, die sozial gezielt hergestellt wird. Zum Beispiel sind es Schulden- und Austeritätspolitiken, die als Formen differentieller Ausbeutung begriffen werden müssen und Menschen ungleich machen. Auf der Suche nach einem Weg zur Gleichheit setzt Govrin nicht auf den Staat, klammert ihn aber auch nicht aus. Sie plädiert für körperliche Gleichheitspraktiken, die sie in Formen gelebter Sorgearbeit und gelebter Solidarität findet. Die „Herausforderung für solidarische Praktiken“ liege darin, „Bewusstsein über asymmetrische Beziehungen zu schaffen und den Blick für Ungleichheit zu schärfen“ (388). Gelebte Sorge und Solidarität, traditionellerweise Grundanliegen der christlichen und kommunistischen Moral, finde sich heute etwa in Streik-, Schuldnerbewegungen, in Initiativen gegen Zwangsräumungen oder für eine „Sorgende Stadt“ – die alle ganz wesentlich von Frauen getragen würden. Dort werde körperlich erfahren, wie es sich anfühlt, aufeinander zu achten, die unterschiedlichen individuellen Lebenssituationen zu berücksichtigen und sich dennoch die gleiche soziale Betroffenheit bewusst zu machen, für deren Überwindung man sich zusammengefunden hat. Versammlungen seien die konkreten Orte, „wo Worte nicht vom Körper getrennt werden können“, „wo die eigene Stimme zu erheben bedeutet, zu gestikulieren, zu atmen, zu schwitzen und zu spüren, dass die Worte gleiten und in den Körpern anderer aufgefangen werden“ (Verónica Gago; 400). Körperlich gelebte Gleichheit ermögliche die „Gegendressur“ (Bourdieu), aus der heraus ein „Universalismus von unten“ begründet werden könne.

Das Buch fasziniert durch seinen Ansatz beim Körper und seiner Verwundbarkeit. Es ist klar gegliedert in I. Körper, II. Ökonomie und III. Gleichheit. Aber die Lektüre der nahezu 500 Seiten lässt den Rezensenten angesichts der Quantität der Anknüpfungspunkte an andere Autoren bisweilen nicht nur den Überblick verlieren. Nicht immer wird klar, was nun eigentlich von der Autorin selbst stammt, und was in diesem Buch nur neu kombiniert wird. Eine etwas systematischere Herangehensweise, etwa an der Unterscheidung zwischen deskriptiven, analytischen und präskriptiven Aussagen zu Gleichheit/Ungleichheit orientiert, hätte die Überzeugungskraft der sozialphilosophischen Argumentation erhöht. Dennoch ist das Buch, wie in der „Süddeutschen Zeitung“ treffend formuliert, ein wirksames „Gegengift“ zum „libertären Autoritarismus“, der derzeit weltweit Konjunktur hat und mit dem Bild der „Kettensäge“ den Bezug zur körperlichen Dimension von Ausbeutung bestens veranschaulicht.

Saar – Was ist Sozialphilosophie?

Martin Saar

Was ist Sozialphilosophie?

br., 175 Seiten, 22,- €, Berlin 2025 (Suhrkamp-Verlag)

von Alexander von Pechmann

Was ist Sozialphilosophie? Eine berechtigte Frage. Denn zu ihr sind derzeit viele Antworten in Umlauf. Sie reichen von einer „Ethik der sozialen Normen“, die ihren Anfang schon in der griechischen Philosophie hatte, über eine „Metaphysik der Sitten“, wie sie exemplarisch von Kant ausgearbeitet wurde, bis hin zu dem, was man mit Ferdinand Tönnies und Max Weber als „Allgemeine Soziologie“ bezeichnen kann. Für Kritiker wie den gefürchteten Positivisten Ernst Topitsch hingegen bewegt Sozialphilosophie sich zwischen Ideologie und Wissenschaft, deren Grundsätze daher nur „Leerformeln“ enthalten.

Unabhängig vom Streit darüber, was Sozialphilosophie ist und was sie kann, erscheint es jedoch sinnvoll, wenn Martin Saar sie in historischer Sicht da beginnen lässt, als die dann so genannte „Gesellschaft“ sich in der frühen Neuzeit von dem vormals religiös-politischen Ordnungsrahmen zu emanzipieren begann und die Frage nach der Verfasstheit der Gesellschaft zu einem theoretischen wie praktischen Problem wurde. Sie provozierte seit Thomas Hobbes unterschiedliche Modelle eines „Gesellschaftsvertrags“.

Interessant aber wird Sozialphilosophie dann, wenn sie nicht nur über die Gesellschaft nachdenkt und ihre Modelle entwickelt, sondern wenn sie ihr Nachdenken selbst als Teil oder Moment der gesellschaftlichen Praxis begreift. Dieser Vorgang der Selbstreflexion setzte mit Hegel und dann explizit mit Marx ein, der der Philosophie nicht nur eine theoretische und interpretierende, sondern eine verändernde und praktische Rolle zuwies.

In dieser Tradition versteht Martin Saar „Sozialphilosophie“ nicht als eine Sparte innerhalb der akademischen Philosophie, die sich dem „Gedöns“ der sozialen Fragen annimmt, sondern als Reflexion darauf, dass die Fragen und Antworten der Philosophie nicht abseits im vermeintlichen „Elfenbeinturm“ gestellt und gegeben werden, sondern dass sie je schon, wie es so schön heißt, „gesellschaftlich vermittelt“ sind.

Saars Buch ist kein Lehrbuch, das schulmäßig abhandelt, was Sozialphilosophie ist und wozu sie gut und nützlich wäre. Es zeichnet vielmehr das weitgefächerte und facettenreiche Panorama dessen, was und wie gegenwärtig von Philosophen und glücklicherweise zunehmend auch von Philosophinnen und nicht-westlichen Philosoph:innen über die Gesellschaft in systematischer Absicht gedacht wird, und wie sich darin zugleich die gesellschaftlichen Konflikte widerspiegeln. Zusammengehalten wird dieses Panorama durch „zentrale Stichworte und Bausteine einer Sozialphilosophie“ (20), die in insgesamt sieben Kapiteln als Einzelbeiträgen verhandelt werden, die sich öfters überschneiden, aber sinnvoll ergänzen.

Das Buch beginnt naheliegenderweise mit der „Kunst, Abstand zu nehmen“. Denn wenn das Nachdenken über Gesellschaft, wie gesagt, je schon „gesellschaftlich vermittelt“ ist, dann besteht der Verdacht, dass dadurch das Bestehende eh nur bestätigt und affirmiert wird. Wie also lässt sich auf dieser Grundlage dennoch eine kritische Distanz zur Gesellschaft gewinnen?

Die entscheidende Technik der Abstandnahme sieht Saar in der Historisierung. Als klassischen Fall solcher Historisierung nennt er Rousseaus Discours über die Ungleichheit der Menschen, der erzählt, wie es zur Herrschaft von Menschen über Menschen gekommen ist. Solche Erzählungen relativieren und kontextualisieren die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse; sie schaffen dadurch einen „Abstand zu geltenden Werten und Einstellungen“ (25) und machen so Alternativen denkbar. Sie verweisen zugleich aber auch auf das Kritik-, Konflikt- und Veränderungspotential in der Gesellschaft und sind oft Symptome und Artikulationen ihrer Krise.

Die Instanz der Abstandnahme ist für Saar nicht die Gesellschaft, sondern „das Selbst“. Er nennt dieses „Selbst“ den Adressaten einer Sozialkritik, der aufgefordert wird, sich aus seinen Verstrickungen in die geltenden Werte und Normen zu lösen. Mir scheint jedoch, dass Saar über diese Adressierung hinaus grundsätzlich annehmen muss, dass ein solches „Selbst“ nicht allein durch die gesellschaftlichen Verhältnisse geprägt ist, sondern dass es in sich auch das Element des „Eigensinns“ und einer Autonomie enthält als Bedingung der Möglichkeit, sich überhaupt aus diesen sozialen Zwängen zu lösen. Auf diesen Doppelcharakter von sozialer Hetero- und individueller Autonomie wird Saar im Weiteren noch ausführlich eingehen.

Der daran anschließende Beitrag wendet sich der Macht und der Machtkritik als zentralen Bausteinen einer kritischen Sozialphilosophie zu. Denn das skizzierte Spannungsverhältnis von „Individuum und sozialer Ordnung (hat) einen eindeutigen Namen: „Macht“ (37). Allerdings habe der Begriff der Macht ein „Doppelgesicht“, das eine lange philosophische Tradition habe, und dem Saar im Folgenden nachgeht. Einmal wird Macht mit „Herrschaft“ identifiziert. Hier korrespondiert der Verfügung über Macht auf der einen Seite die Ohnmacht auf der anderen Seite. Träger der Macht können im sozialphilosophischen Rahmen Individuen oder Personen sein, wie etwa in Max Webers bekannter Definition; sie wird heute jedoch vor allem anonymen gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen zugeschrieben, die Macht über die dadurch Unterworfenen ausüben. Dieses Machtverständnis ordnet Saar der von Hegel, Marx und der Kritischen Theorie geprägten Tradition zu, die bis zu Habermas und Honneth reicht. Hier geht die Kritik der Macht darauf aus, die in den sozialen Beziehungen und Praktiken wirksamen Herrschaftsverhältnisse aufzudecken, um sie letztlich zugunsten dessen aufzulösen, was man als „Assoziation von Freien und Gleichen“ bezeichnet hat. In dieser Tradition wird also „die Macht als Abwesenheit von Freiheit gedacht“ (48) – und, umgekehrt, die Freiheit als Abwesenheit von Macht.

Das andere Verständnis lässt Saar mit Aristoteles und Spinoza beginnen. Die Macht wird hier nicht negativ als Verhinderungsgrund, sondern positiv als Ermöglichungsbedingung und Konstitutionsprinzip sozialen Handelns gedacht. In dieser Perspektive formiert die Macht, als dynamis oder potentia, den „Konstitutionsraum von interpersonalen Verhältnissen, sie ist das Medium des Sozialen“ (44). „Macht“, schreibt etwa Hannah Arendt, „besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammenhandeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen“ (43).

Dieses „Doppelgesicht“ der Macht stellt freilich eine sich kritisch verstehende Sozialphilosophie „vor ein folgenreiches Problem“ (45). Denn wenn man der Linie von Spinoza bis Arendt folgt, so lässt sich die Macht nicht kritisieren, da sie ja als konstitutiv für einen zwanglosen Zusammenschluss von Menschen gilt. Hier gilt letztlich die Demokratie oder Republik als diejenige politische Ordnung, die den menschlichen Handlungsfähigkeiten am angemessensten ist. Saar wird darauf später zurückkommen. Zum anderen ist nach diesem Verständnis die Macht ubiquitär; es kennt keinen machtfreien sozialen Raum, kein „absolutes Außen der Macht“ (51). Was daher der Machtkritik bleibt, ist eine sorgfältige und detaillierte Beschreibung und Analyse der komplexen Machtstrukturen, wie sie vor allem Foucault vorgenommen hat. Hier ist es die Macht, die einerseits die gesellschaftlichen Diskurse prägt, formt und normiert, die andererseits jedoch damit zugleich die Subjekte zur Handlungsfähigkeit ermächtigt. Damit aber werde das, so formuliert Saar das Problem, was die Kritik der Macht evoziert, zu dem, was diese Kritik erst ermöglicht. „Was die Kritik nötig gemacht hat, hat sie zugleich erst möglich gemacht“ (53).

Eine solche Sozialphilosophie, so verstehe ich Saar, vermag zwar all die Machtverhältnisse in den sozialen Beziehungen und deren Verschiebungen gut beschreiben und erhellen, sie kann jedoch keine Alternative jenseits der Macht formulieren. Für sie ist Kritik letztlich die Kunst des erforderlichen Unterscheidens und Differenzierens, aber nicht des notwendigen Hinterfragens und Problematisierens.

Nach dem methodischen Problem der Abstandnahme und dem inhaltlichen Problem der Macht als Medium des Sozialen formuliert Saar im dritten Beitrag eine Systematik des Gesellschaftlichen. Er unterscheidet drei Ebenen: Ordnung – Praxis – Subjekt. Fragt man, was Gesellschaft ist, so wäre das erste, dass sie – im Unterschied zur bloßen Menge – eine „Form von Ordnung, ein Geordnetsein (ist), das sich aus der Vergesellschaftung ergibt.“ (57).

Auf der zweiten Ebene, der Praxis, wird diese Vergesellschaftung thematisch. Die Ordnung fußt auf sozialen Prozessen, auf Praktiken der Kommunikation und Kooperation, der Konfliktaustragung etc., die ihrerseits sozial sind. In diesem Sinne von Gesellschaft zu reden, heißt, über all die Formen und Widersprüchlichkeiten des „doing society“ (59) zu reden.

Auf der dritten (und kleinsten) Ebene schließlich fragt man nach den Agenten. Diese sind zwar die kleinsten Einheiten des Sozialen, aber sie sind – im sozialphilosophischen Rahmen – „nicht dessen Fundament; sie sind Selbst, aber vergesellschaftete Selbst“ (60). Ohne dieses „Selbst“ wäre Sozialphilosophie bloß Systemtheorie. Wie dieses „vergesellschaftete Selbst“ näher zu verstehen ist, thematisiert Saar im Weiteren da, wo es um Kritik und Widerstand gehen wird.

Diese drei Ebenen des Sozialen sind, in Übernahme des Vorigen, zugleich Felder der Macht. Hier nimmt die Ordnung die Form der Herrschaft an, in dem sie die Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten der Subjekte systematisch strukturiert und eindeutig verteilt. Sie bildet den institutionellen Rahmen, innerhalb dessen sich die Gesellschaft bewegt. Auf der Ebene der Praxis drückt die Macht sich in Form der „Normalisierung“ aus, wie Saar dies mit Bezug auf Foucaults Diskursanalysen nennt. Und auf der untersten Ebene tritt sie im Vorgang der „Subjektivierung“ auf; hier ist, wie schon oben verhandelt, das Subjektwerden und die Entwicklung der Handlungsfähigkeiten auf Engste verzahnt mit der Unterordnung und Anpassung an die geltenden Normen.

Die sozialphilosophische Analyse dieser vorhandenen Machtstrukturen des Sozialen fragt nun nicht nur nach den Kosten und Opfern, die diese Formen der Vergesellschaftung erzeugen, sondern richtet den Blick zugleich auch auf die Potentiale einer Gegen-Macht, „man könnte auch sagen: von Momenten der Selbstbestimmung“ (66). Auf der Ebene der Ordnung formiert sich diese Gegen-Macht im Kampf um eine (radikale) Demokratie, die von der Fähigkeit „zur kollektiven Selbstverfassung“ lebt. Vielleicht, so Saar, sei dies „die fundamentale Prämisse noch der düstersten Zeitdiagnosen (von Marcuse bis Agamben): dass gesellschaftliche Selbstbestimmung trotz allem möglich sei“ (67). Auf der sozialen Ebene der Praxis richtet sie sich auf den Widerstand, der sich in den vielfältigsten Formen der Subversion und des Protestes, den kreativen Umdeutungen und Transformationen des Sozialen zeigt, sowie schließlich auf der kleinsten Ebene in Akten der Selbsttransformation, die sich aus denjenigen Abweichungen von sozialen Normen ergeben, die für das Selbst „existentielle Relevanz und soziale Sprengkraft“ (69) haben.

Dieser Verortung von Macht und Gegenmacht im sozialen Ganzen schließt sich nun eine nähere Untersuchung der Kritik und des Widerstands an. Eine Form der Kritik und des Widerstands lässt sich in der Formel Adornos zusammenfassen, wonach ein „richtiges Leben im falschen“ nicht möglich sei, die in jüngerer Zeit von Geoffrey de Lagasnerie in „Denken in einer schlechten Welt“ (2018) erneuert wurde. Nach ihr ist Kritik Totalkritik, und der Widerstand richtet sich letztlich auf den ‚Sturz des Systems’. Einem solchen fundamentalen theoretischen wie praktischen Nonkonformismus hält Saar, wenn ich recht sehe, entgegen, dass in diesem Fall der Ort der Kritik und der Widerständigkeit allein das existentielle Selbst ist, das sich jedoch nicht mehr im Sozialen verorten kann. „Der Verweis auf die Einzelnen und ihre gewissenhafte Selbstbefragung klingt dann nach genau dem politischen Existenzialismus, der ja gerade keine Gegenposition anbieten will“ (79).

So gesehen bewegt sich eine kritische Sozialphilosophie also in dem Dilemma, dass eine fundamentale Herrschaft- und Machtkritik diese Kritik nicht mehr im Sozialen verorten kann, dass aber umgekehrt eine Verortung der Kritik im sozialen Raum sich dem Verdikt der ‚Pseudokritik’ aussetzt, weil sie darin der Anpassung, Teilhabe und Affirmation der bestehenden Machtstrukturen unterliegt.

Dem setzt Saar das Konzept einer „demokratischen Widerständigkeit“ (80) als Ausweg entgegen, das er vor allem in Bezug auf Etienne Balibars Idee der „Gleichfreiheit“ entwickelt. Diese verankert die Kritik und den Widerstand im sozialen Raum selbst. Demnach ist die Demokratie weder das bloße Etikett einer herrschaftsdurchsetzten Ordnung noch ist sie ein herrschaftsfreier politischer Raum. Vielmehr existiere die Demokratie „von Beginn an“ in der Spannung zwischen „Aufstand“, der revolutionären Erkämpfung von Freiheit und Teilhabe, und der „Verfassung“ im Sinne einer nationalstaatlichen Rechtsordnung. Durch diese Kombination von „Konflikt und Institution“ sei der Demokratie ihre radikale Selbstkritik und Selbstdynamisierung eingeschrieben. Deshalb gehören sowohl die (wenigen) revolutionären Momente als auch die vielen Akte der Gehorsamverweigerung oder des zivilen Widerstands zum ‚Wesen’ der Demokratie. Sie ist daher als in sich widersprüchlich zu verstehen, da in diesem sozialen Raum die institutionellen Ungleichheiten und Diskriminierungen mit den entgegengesetzten emanzipatorischen Akten der Selbstbestimmung einher gehen.

Allerdings ist dieser aufgespannte Rahmen einer „demokratischen Widerständigkeit“ für Saar doch recht unterbestimmt. Es sei daher auf der einen Seite das „diagnostische Kerngeschäft einer Kritischen Theorie“, die prägenden Herrschaftsmuster genauer zu analysieren, nach denen die Gesellschaft in Gruppen und Klassen gespalten ist, ohne sich dabei freilich schon vorab festzulegen, ob diese Spaltungen „entlang von Besitz, Klasse, Identität, Geschlecht oder anderen Markierungen“ (90) verlaufen. Auf der anderen Seite aber ist festzustellen, dass es den so diskriminierten und marginalisierten Gruppen schwerfällt, sich im öffentlichen Raum zu artikulieren. Daher kommt der Kritischen Theorie neben der Diagnose die Aufgabe zu, den Platz „im Dickicht der oft unübersichtlichen, manchmal unsichtbaren Widersetzungen gegen das Unsichtbar- und Stummgemachtwerden“ (94) einzunehmen.

Diesen Überlegungen zur Verortung des Widerstands und einer kritischen Sozialphilosophie im sozialen Raum schließt sich ein Beitrag zu ihrer Verortung in der Zeit an. Die – zumindest akademische – Philosophie erscheine einerseits als „aus der Zeit gefallen“ (95), da sie vorwiegend mit ihrer eigenen Vergangenheit beschäftigt ist, und sich, oft selbstgefällig, als Erbin und Wahrerin einer langen und großen Tradition der Wahrheitssuche versteht. Andererseits aber bewegt sie sich faktisch durchaus in all den Abhängigkeiten, die sie mit den sozialen, politischen und wissenschaftlichen Mächten ihrer Gegenwart verbindet: das Gerangel um die Besetzung der Lehrstühle, die Erfordernisse des Arbeitsmarkts, die Mitwirkung in Kommissionen etc. In dieser Hinsicht ist sie völlig „Kind ihrer Zeit“, deren Besonderheit, so der ideologiekritische Verdacht böser Zungen, in ihrer „Harmlosigkeit“ (101) besteht, weil sie nichts bringt, was über ihre Zeit hinausgeht. Philosophie, so Saars Schlussfolgerung, muss sich in ihrer Zeit gegen ihre Zeit positionieren.

Ein solches „unzeitgemäße“ Denken lässt Saar mit Nietzsche am Ende des 19. Jahrhunderts beginnen. Er verkörperte gleichsam den Ennui gegenüber einer steril und kraftlos gewordenen Philosophie, deren Traditionspflege sich häuslich und kritiklos im Machtgefüge ihrer Zeit eingerichtet hatte. Dem setzte Nietzsche ein wahrhaft freies Denken entgegen, das die ausgetretenen Pfade verlässt, sich aufs „offne Meer“ wagt und Neues denkt. Seine radikale Umwertung der Werte, seine Einsprüche gegen die starre und lebensfeindliche Moral seiner Zeit oder die erstarrten Gegensätze von Körper und Geist, von Natur und Kultur etc. deutet Saar als das „Herauswinden aus der eigenen Zeit“ (103), das Nietzsche freilich in einer allzu heroischen und selbstbezüglichen Sprache vorbrachte, und das nicht recht anschlussfähig war.

Diesem „Traum des Herausspringens aus der eigenen Geschichte“ (114) setzt Saar eine andere Option der philosophischen Kritik entgegen. Diese negiert nicht abstrakt und pauschal das gesamte Heute, sondern richtet sich, in Form der „bestimmten Negation“ (109), gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse und verbündet sich „mit den bisher unterlegenen Elementen gegen diese Herrschaft“ (105). Ein solches Denken ist ideologiekritisch in dem Sinne, dass sie die herrschenden Gedanken, in Anknüpfung an Marx, zugleich als ideellen Ausdruck der materiellen Verhältnisse begreift. „An der Frage der Herrschaft entscheidet sich, was zu verwerfen ist, und was nicht“ (106).

Ein solches Denken, so mag man einwendet, ist nicht ‚frei’, sondern in der Gegenwart verankert; aber es zielt in den Kämpfen der Gegenwart „in Richtung Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts“ (107). Damit aber denken, so Saar, beide Optionen, sowohl jenes „unzeitgemäße“ als auch das herrschaftskritische Denken, die Probleme der Gegenwart von einer Zukunft her, die nicht nur die Verlängerung des Gegenwärtigen ist.

Im nächsten Schritt hält Saar nun freilich fest, dass „die Gegenwart“ eine falsche Abstraktion sei, dass es vielmehr „viele Gegenwarten“ gebe. Auch die Philosophie habe, „ganz in Übereinstimmung mit neueren Zeit- und Geschichtstheorien“ (112), die Gegenwart im Plural zu denken, als eine „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, wie sie schon Ernst Bloch gefasst hatte. Dem entsprechend ist aber auch das gesellschaftliche Machtgefüge vielfältig. Das heißt, dass die These vom Denken im „totalen Verblendungszusammenhang“ bestenfalls eine gezielte Übertreibung ist. Denn das tatsächliche Denken vollziehe sich nicht schlicht in eingefahrenen Gleisen, sondern in mehr oder weniger kleinen Abweichungen, in denen Unbefragtes hinterfragt wird oder subversive Gegenargumente formuliert werden. Zwar bestehe der Konformismusverdacht zu Recht; aber ebenso sehr auch das Vertrauen in die Kraft eines Denkens, das in den Abweichungen „Erweiterungen und Auswege sichtbar macht“ (113).

Ein solches Denken entspricht einem „Denken ohne Geländer“ (114), das aber nicht haltlos ist, sondern das das Bewusstsein von der Nichtabschließbarkeit und der Nichtnotwendigkeit hat, für das also die Idee der Kontingenz bestimmend ist. Die Gegenwart philosophisch zu denken, bedeute daher auch immer, die Offenheit der Zukunft zuzulassen.

Dem entsprechend könne aber auch die Herrschaft nicht als ein monolithischer Block aufgefasst, sondern müsse in ihrer Vielfalt gedacht und bestimmt werden. Welche Mächte dominieren und die Handlungsfähigkeiten ungleich und ungerecht verteilen, ergebe sich daher nur aus der Analyse der gegenwärtigen Machtverhältnisse. Denn eine Philosophie, die sich weder der Vergangenheit ausliefert noch die Gegenwart nur als „Durchgangsstation zu einer vorbestimmten Zukunft“ (116) versteht, habe die Aufgabe zu bestimmen, welche Mächte sich jeweils ballen und Zukünftiges verhindern.

Philosophie in ihrer Zeit, so Saars Fazit, ist der Raum, in dem die eigene Tradition durchaus ihren Platz hat, die im Denken aber der Komplizenschaft mit den herrschenden Mächten widersteht. „Sie träumt von Befreiungen und Loslösungen, aber ohne Illusion“ (117). Ihr Widerstand ist eine Unruhe im Denken, das, wie die Zeit auch, nicht stillsteht.

Woher aber nimmt eine solche kritische Philosophie die Normen ihrer Gesellschaftskritik? Von innen oder von außen? Der Ausgangspunkt von Saars Überlegungen zu solchen Normen im folgenden Kapitel ist zunächst die Differenz zwischen ihrer Genesis und ihrer Geltung. Gewönne man sie deskriptiv durch Beschreibung der gesellschaftlich geltenden Normen und ihrer Herkunft, so wäre ein solches Verfahren zwar immanent; aber man verfehlte so den normativen Gehalt, der ihnen zukommt. Versteht man das Normative hingegen als etwas, das ganz unabhängig von ihrer faktischen Geltung gilt, so wendet man auf die Gesellschaft gleichsam von außen wie ein unparteiischer Schiedsrichter normative Maßstäbe an. Da nun aber die Sozialphilosophie, wie gesehen, ausdrücklich kein soziales „Außen“ kennt, sie die soziale Ordnung aber dennoch der normativen Kritik unterzieht, stellt sich für sie notgedrungen die Frage nach Formen einer „immanenten Kritik“ (124).

Der Ausgangspunkt von Saars Überlegungen zu einer „immanenten Normativität“ ist zunächst die Feststellung, dass in modernen Gesellschaften der Rekurs auf außermenschliche Instanzen wie Gott oder die Natur keine allgemeine Verbindlichkeit mehr herstellen. „Eine Moral (oder Geltungsstruktur im Allgemeinen), die für Menschen gelten soll, sollte auch auf menschengemäße Autorisierungsquellen verweisen … der Grund der Autorität muss den Charakter eines intern Verbindlichen annehmen, sonst droht normative Heteronomie“ (122).

Die erste und wohl auch klassisch zu nennende Konzeption immanenter Normativität besteht in der Annahme, dass in der Gesellschaft je schon verbindliche Werte und Normen verankert sind als notwendige Bedingungen ihrer Reproduktion. Hier setzt eine immanente Kritik da an, „wo eine Lücke bleibt zwischen Norm und Realität“ (124). Die Kritik hält den gesellschaftlichen Realitäten gewissermaßen den eigenen Spiegel vor Augen.

Problematisch allerdings wird es, wenn man, wie etwa Foucault, annimmt, dass diese die Gesellschaft tragenden und verbindenden Werte und Normen ihrerseits machtvermittelt sind, so dass sie „zum Kriterium für die Unterteilung der Individuen“ (127) werden. Ein solches Normensystem konstituiert das Bild vom „guten Subjekt“, das auf vielfältige Weise den Ansprüchen auf Rationalität, Gesundheit, Leistungsbereitschaft etc. unterliegt. Erst die Einhaltung solcher sozialer Normen erlaubt es den Subjekten zwar zu leben; sie zwingt zugleich jedoch, so zu leben. Die Normen schaffen, paradox, subjektive Handlungsfähigkeit durch Unterwerfung. Hier erweist sich die zunächst moralisch konnotierte Normativität als soziologisch beschreib- und analysierbare „Normalität“.

Saar führt schließlich ein drittes und, wie mir scheint, das interessanteste Konzept einer „immanenten Normativität“ an, das die Immanenz der Normativität konsequent zu Ende denkt. Denn während man in der ersten Konzeption zur Normenbegründung gezwungen ist, kontrafaktisch an eine Apriori-Instanz der Vernunft zu appellieren, und in der zweiten Konzeption die Normengeltung letztlich auf Zwang und Heteronomie gründet, wird die Normengeltung in diesem Modell strikt immanent aus der Handlungsmacht der Subjekte selbst hergeleitet. Eine Norm ist in diesem Sinne die sowohl situationsabhängige als auch lebensdienliche Ausrichtung von Verhaltensweisen, die „sich allerdings immer wieder bewähren und als korrekturfähig erweisen muss“ (133). Normen haben hier nicht den Charakter von Verpflichtungen, sondern sind Regeln zur Realisierung der eigenen Natur, zur ‚Entfaltung der Persönlichkeit’. Hier konvergieren das Gute und Angemessene mit dem Nützlichen, weil „der Grund der Normgebung im Vollzug der menschlichen Existenz selbst liegt“ (137).

Diese auf den ersten Blick „biologistisch“ anmutende Normenbegründung erweist sich jedoch sozialphilosophisch dann als äußerst attraktiv, wenn man von der, schon von Spinoza formulierten, These ausgeht, dass „nichts dem Menschen nützlicher (ist) als ein (anderer) Mensch“ (138). Denn so wird erstens das sozial Normative weder als moralisch Allgemeines noch als eine fremde bestimmende Macht den einzelnen Handlungssubjekten entgegengesetzt, sondern wird aus der Existenzweise des Menschen selbst hergeleitet. Und zum zweiten wird hier die Existenzweise des Menschen nicht individualistisch gedacht, sodass er der Normen als Ge- oder Verbote bedarf, sondern sie wird von Haus aus als sozial, als „strikt relational oder transindividuell“ (158) gedacht. Das philosophische Unterfangen, solche Normen aufzufinden und zu konstruieren, in denen das individuell Nützliche mit dem allgemein Guten zusammenfällt, wäre, so schließt Saar, die „Erforschung der Bedingungen dessen, heute menschlich zu sein“ (139).

Nach Saars Ausblick auf ein solches sozialphilosophisches Unterfangen habe ich allerdings mit dem letzten Kapitel seines Buches große Schwierigkeiten. In ihm wird nicht der sozialphilosophische Diskurs expliziert, sondern auf die Kritik eingegangen, die am „Anthropo-“ oder „Soziozentrismus“ einer solchen Philosophie des Sozialen geübt wird. Denn angesichts der ökologischen Gegenwarts- wie Zukunftsprobleme sei, wie Saar einräumt, ein „Neuansatz, der den Blick vom Menschen weg in die ihn umgebende Welt richtet, wo es noch vieles andere Seiende gibt, unmittelbar einleuchtend“ (141). Die Aufmerksamkeit darauf könne eine „sinnvolle Ergänzung, vielleicht sogar Ersetzung (!?) des fast exklusiven Fokus auf die menschliche Gesellschaft sein“ (141). Doch wenn es ein, vielleicht der Kerngedanke der bislang dargelegten Sozialphilosophie ist, dass alles Denken und Reden „gesellschaftlich vermittelt“ ist, und sie daher kein „Außen“ kennt, wie soll dann über das geredet werden, das außerhalb des Gesellschaftlichen, als Nicht-Gesellschaftliches existiert? Saar beschreibt diese Problemlage als: „Kritische Theorie nach der ontologischen Wende“.

Zunächst stellt Saar fest, dass sich die Kritische Theorie mit der ontologischen Rede vom „Sein“ und von der „Existenz“ der Dinge nicht nur recht schwer getan hat, sondern dass sie sich in großem Maße auch in der Gegnerschaft zu ihr konstituiert hat. Er geht ausführlich auf Adornos Kritik an Heideggers Ontologie und dessen vermeintlich unmittelbarem Zugang zum Sein der Dinge ein. Er erwähnt jedoch nicht die vorausgegangene Frontstellung der Kritischen Theorie zum so genannten „dialektischen Materialismus“, die sich an der Frage nach einer „Dialektik der Natur“ festgemacht, und der Georg Lukacs in „Geschichte und Klassenbewusstsein“ widersprochen hatte. Die Ablehnung eines solch ontologischen Redens über Natur und Materie sollte ja verbindlich für den „westlichen Marxismus“ in Absetzung zum „östlichen“ werden.

Was Saar nun unter den Stichworten „Ontologie“ und „Materialismus“ versammelt, scheint mir höchst disparat zu sein, was wohl auch aus dem vielfältigen Gebrauch dieser Wörter in der gegenwärtigen Diskussion herrührt. Jedenfalls ist es sein Anliegen, die Kritische Theorie bzw. die dargelegte kritische Sozialphilosophie in diesen Kontroversen stark zu machen.

Er unternimmt es zu zeigen, dass die Kritische Theorie schon immer auch eine Ontologie des Sozialen war, die die gesellschaftlichen Phänomene nicht nur wahrgenommen, analysiert und kritisiert hat, sondern die Aufmerksamkeit gerade auf die dahinterliegenden und bleibenden, festen und harten Machtstrukturen gelenkt hat, die eben nicht dadurch verschwinden, dass sie der Kritik und dem Widerstand ausgesetzt werden. Was Saar hier unter dem Stichwort einer „Ontologie des Sozialen“ versammelt, erinnert mich an das, was Hegel unter dem Begriff des „objektiven Geistes“ zusammengefasst hatte und in der „Neuen Marx-Lektüre“ dann als „Realabstraktion“ diskutiert wurde. In diesem Sinne kann ich Saar problemlos folgen, wenn er der Kritischen Theorie auch eine Ontologie des Sozialen zuschreibt.

Die eigentliche Herausforderung an die kritische Sozialphilosophie richtet sich allerdings nicht auf die „Seinsstruktur“ des Sozialen, sondern auf das Verhältnis der Gesellschaft zur äußeren Natur oder, in allgemeinerer Weise, des Geistigen zum Materiellen. Angesichts dieser klassischen philosophischen Frage regiert bei Saar, soweit ich sehe, das bloße „Auch“: Dass Gesellschaften funktionieren, hängt auch davon ab, „welche materiellen Eigenschaften ihre Elemente haben“ (152); „Reflexionen des Sozialen sind darin ontologisch, dass sie die Realität oder Wirklichkeit des Sozialen betreffen als eine Sphäre, die sich immer auch auf Materialität und Verkörperung beziehen lassen muss“ (153). Adornos bekannte Formel vom „Vorrang des Objekts“ deutet Saar dahingehend aus, „bei allem Interesse an Subjekten nicht davon abzusehen, dass es sie nur in einer Welt gibt, die auch von (sehr viel) Objekthaftigkeit und Materialität konstituiert und geprägt ist“ (154 f.). Während für Hegel allerdings das bloße „Auch“ der Tod der Philosophie war, erhebt Saar dieses plurale Auch umgekehrt zu einer „postfundamentalistischen“ Tugend, weil man über das Verhältnis von Geistigem und Materiellen gar nichts genaueres wissen kann oder will. Er beruhigt sich schließlich bei der neo-spinozistischen (und letztlich pantheistischen) Theorie, wonach Geist und Materie eben „zwei irreduzible und heterogene Seiten oder Ansichten desselben, derselben Wirklichkeit oder Immanenzebene“ (155 f.) sind. Ob freilich dieses beziehungslose Auch hinreicht, um der Herausforderung der ökologischen Probleme philosophisch gerecht zu werden, erscheint mir mehr als fraglich.

Saar erwähnt denn auch nirgends, dass in Marx’ Theorie, die ihm doch als „das Urbild einer Kritischen Theorie“ (160) gilt, der Begriff der Arbeit, den Marx in Auseinandersetzung sowohl mit Hegels ‚Geistphilosophie’ als auch mit Feuerbachs Materialismus gewonnen hatte, von zentraler Bedeutung war. In ihm stehen das zweckhaft Geistige und das materiell Natürliche nicht unverbunden nebeneinander, sondern bilden eine innere Einheit und Verbindung. Seel belässt es denn auch beim bloßen Hinweis auf eine „solche dialektische Perspektive auf die Beziehung zwischen Natur und Geist oder Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte“ (162). Bei dieser Dialektik der Beziehung sei freilich zu bedenken, fügt er hinzu, „dass das Naturverhältnis immer auch Herrschaftsverhältnis bleibt“, dass allerdings das Bedenken der vom Menschen geschlagenen Wunden in der Natur zu keinem verklärenden Traum von natürlicher Ganzheit führen sollte“ (164).

In einer so gefassten, letztlich doch anthropozentrisch als Täter-Opfer-Verhältnis gedachten Beziehung von Mensch und Natur hat freilich der sich aufdrängende ketzerische Gedanke keinen Platz, dass die Natur oder, näher, der Planet Erde keineswegs unter „den vom Menschen geschlagenen Wunden“ leidet, sondern dass es ihm völlig egal ist, ob die Menschen die Vielfalt der Arten vernichten oder sie die Erdtemperatur erhöhen. Die Erde wird, ganz stoisch, weiterhin ihre Bahn um die Sonne zieht. Ließe man diesen Gedanken zu, müsste man jedoch in der Tat ontologisch, wie Adorno, vom „Vorrang des Objekts“ sprechen, was Saar jedoch, wie gesehen, abweist.

Fasse ich abschließend die Besprechung von Martins Saars Buch „Was ist Sozialphilosophie?“ zusammen, so gibt es meines Erachtens einen ausgezeichneten Über- und Einblick in die gegenwärtigen und weit vernetzten Diskurse der Macht- und der Herrschaftskritik; was freilich fehlt, ist, wie denn der von der Kritischen Theorie so angestrebte Freiheitsraum unter den Bedingungen der planetaren Grenzen – über das bloße Auch hinaus – zu denken wäre.

Chaouat – Ist Theorie gut für die Juden?

Bruno Chauoat

Ist Theorie gut für die Juden?

br., 439 Seiten, 30,00 €, Edition Tiamat, Berlin 2024

von Olaf Sanders

Bruno Chauoat legt ein wichtiges Buch vor, das von der Beobachtung ausgeht, dass gerade die Behauptung der Einzigartigkeit des Holocausts, die „die Besonderheit jüdischen Leids hervorheben sollte, … die Entjudaisierung des Holocausts in einem Maß befördert“ habe, so dass „nun jede Opfergruppe ihr Leid als einzigartig anerkannt wissen will. Der Anspruch auf Singularität des Holocausts birgt zugleich die Gefahr, diesen zu universalisieren und seiner historischen und moralischen Bedeutung zu berauben“ (40 f.). Der Holocaust relativiert sich in dieser Bewegung zu einem Holocaust unter anderen.

Das „französische Holocaust-Trauerspiel“, dem Chaouat vor allem seine Aufmerksamkeit widmet, sei in philosophischer Hinsicht durch ein Verständnis des Juden befördert worden, zu dem Denker wie Maurice Blanchot, Jacques Derrida und Jean-François Lyotard wesentlich beigetragen hätten, ohne dies freilich zu wollen. Es sei zudem „keine postmoderne Erfindung“ (42). Dennoch habe die spezifisch postmoderne Dialektik dieser Denker, so lässt sich mit Chaouat weiter folgern, den neuen Antisemitismus mit hervorgebracht, den er auch in den Arbeiten von Giorgio Agamben, Alain Badiou oder Judith Butler am Werke sieht. Der „neue Antisemitismus“, so Chauoat, „bediene sich selbst der Rhetorik des Antirassismus“ (44), wodurch dann die „mit Israel verbundenen Juden“ als „neue Rassisten und Neokolonialisten“ erscheinen. Als ‚gute Juden‘ gelten nur Juden in der Diaspora.

Für Chaouat – die englischsprachige Originalausgabe erschien bereits 2016 – markieren die Morde in Toulouse und Montauban an vier Fallschirmjägern, einem Rabbiner, zwei seiner Kinder sowie einem weiteren Kind im März 2012 einen Wendepunkt. Der 7. Oktober 2023 markiert fraglos einen weiteren. In Anspielung an ein Gedicht der avantgardistischen (jüdischen) Autorin Gertrude Stein schreibt er: „Ein Antisemit ist ein Antisemit ist ein Antisemit“ (63).

Ist Theorie gut für die Juden? gliedert sich in vier umfangreiche Kapitel, die von einem Vorwort zur deutschen Ausgabe, einem Prolog und einer Einleitung sowie einem Postskriptum mit Epilog eingerahmt werden. Sein Vorwort aus dem Jahr 2024 beendet Chaouat mit der Feststellung, dass das Ende der Theorie schlecht für Juden sei. Den Prolog überschreibt er mit Abschied von der Theorie, worin er sich als einstiger Doktorand Lyotards zu erkennen gibt, der mit seinem philosemitischen Buch Heidegger und die Juden „in die Falle einer abstrakten, universalistischen Interpretation des Judentums“ (17) geraten sei. Sie habe Maurice Blanchot mitkonstruiert, weil er jüdisch zu sein als „einen Zustand des Exils, des Nomadentums und des Leids“ (16) charakterisiert habe. Letztlich, so schließt Chaouat, der diese Beschreibung als Karikatur einer glücklichen Epoche kennzeichnet, sei die „jüdische Differenz irgendwie mit der Derrida’schen différance“ (25) zusammengefallen. Die glückliche Epoche der Theorie endet für Chaouat spätestens mit Enzo Traversos Buch Das Ende der jüdischen Moderne (2017, frz. 2013), das „Judenspalterei“ (26) betreibe wie Bulter in Am Scheideweg (2013), Badiou in Paulus (2002) oder Said in Orientalismus (1981/2009). Hier werde der Jude gespalten „in den universalistischen Gegner von Staatlichkeit einerseits und den partikularistischen Zionisten andererseits“ (26 f.). Genau diese oben bereits angedeutete Spaltung befördere Chaouat zufolge den neuen Antisemitismus, sie fungiert als die Leitdifferenz seines Buches.

Im ersten Kapitel widmet er sich „dem postheideggerianischen Denken und dem unerträglichen Vermächtnis Heideggers in Frankreich und anderswo“ (73). Darunter fasst er neben der „Dezentrierung des Subjekts“ auch „die Feier von Nomadismus und Deterritorialisierung“ (74). Chaouat erinnert daran, dass Gilles Deleuze die Palästinenser parteiergreifend in der Tageszeitung Libération „Indianer Palästinas“ genannt habe. Ausgehend von Frankreich blickt Chaouat auch nach Italien. In Agambens Dekonstrution des Begriffs ‚Volk‘ „verwandeln sich die einstigen Opfer des [deutschen] Reichs geradezu schematisch in die Henker der Palästinenser“ (122). Am Beispiel des von Gianni Vattimo und Michael Marder herausgegebenen Sammelbandes Deconstructing Zionism (2014) zeichnet Chaouat nach, wie der Band die Intentionen Derridas verkehrt, und beklagt die Unaufrichtigkeit, die für ihn darin liegt, „die Dekonstruktion in eine Kriegsmaschine gegen Israel zu verwandeln“ (139).

Im zweiten Kapitel untersucht Chaouat die von Georges Bataille, Jean Genet oder Marguerite Duras durch die Verwischung der Grenze von Tätern und Opfern eingeleitete moralische Wende, die in einen Moralismus geführt habe, der das Ergebnis der „Reduktion von Ethik auf Ideologie“ (174) gewesen sei. „Für den Menschen“, so Chaouat, „gibt es kein Jenseits der Menschheit“ (158). SS-Männer wie Klaus Barbie seien keine Über- und die KZ-Häftlinge keine Untermenschen gewesen. Wenn daher Agamben das Konzentrationslager zum Nomos der Moderne erklärt, dann mache er die Ausnahme zur Norm, und das Böse werde als Grenzüberschreitung gefeiert.

Das dritte Kapitel fragt nach den Effekten des colonial turn. Chaouat erinnert daran, dass Emmanuel Levinas schon 1968 davor gewarnt habe, die Situation von Fabrikarbeitern mit dem Holocaust zu vergleichen. Er zeichnet in diesem Kapitel nach, wie sich die Kämpfe gegen den Antisemitismus und gegen den Antirassismus immer weiter auseinanderentwickelt haben, beschleunigt durch den Algerienkrieg, aber auch die Anschläge vom 11. September 2001.

Im vierten Kapitel setzt Chaouat, ausgehend von einer Passage aus Philip Roths Buch Operation Shylock. Ein Bekenntnis, zur Kritik an den Arbeiten von Enzo Traverso, Judith Butler und anderen an. Dabei will er zeigen, dass das Ideal des marginalen, kritischen, subversiven und revolutionären Juden nichts anderes sei als eine narzistische Projektion. Schließlich verteidigt Chaouat Levinas gegen Butlers Fehllektüre.

Auch wenn das Buch sich vor allem auf die uns weniger geläufige Debatte in Frankreich bezieht, so gibt das Buch in vielerlei Hinsichten zu denken. Es wirft ein neues und sehr differenziertes Licht auf die so genannte french theory, die es, ihre Nebenwirkungen ausleuchtend, neu rahmt.

Stapelfeldt – Warum Krieg?

Gerhard Stapelfeldt

Warum Krieg? Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und das Ende der Globalisierung

geb., 792 Seiten, 149,80 €, Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2024

von Paul Stegemann

Die Einschätzungen und Beurteilungen des im Februar 2022 begonnenen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine gehen in der politischen Linken weit auseinander. So werden alte Interpretationsmuster aufgewärmt, die in einem antiimperialistischen Reflex USA und NATO als Schuldige ausmachen. Die Linke war schon immer gut darin, die fortgeschrittenste kapitalistische Macht und deren Hegemonie zum Feindbild zu erklären und sich unreflektiert auf die Gegenseite zu beziehen, mag diese noch so reaktionär sein. Aber auch die gegensätzliche Position, die Russland als autoritären Staat brandmarkt und den Westen als Hort der Freiheit und wertebasierte Demokratie darstellt, geht schnellen Schrittes über grundsätzliche Probleme hinweg. Beide Sichtweisen offenbaren eine mangelhafte Gesellschaftskritik, weil sie sich entweder historisch unreflektiert bei veralteten Interpretationsmustern bedienen oder auf einer ideologischen Ebene argumentieren und machtpolitische Positionen reproduzieren.

Der aktuelle Krieg Russlands gegen die Ukraine wäre vielmehr aus einer Selbstzerstörung der Globalisierung zu verstehen, so legt es Gerhard Stapelfeldt in seiner neuen Publikation dar. Die Explikation seiner Theorie der Dialektik der ökonomischen Rationalisierung (2014) ermöglicht es, die Entwicklungen hin zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht auf einer vordergründigen Ebene zu erklären. Ziel ist vielmehr eine genetische Aufklärung, die nicht individualisierend, psychologisierend oder marktpropagandistisch verfährt, sondern die globale Krise des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gesellschaftsgeschichtlich aufklären will. Dabei stehen insbesondere die Übergänge vom Staatsinterventionismus zum Neoliberalismus und innerhalb des letzteren die sich durchsetzende Globalisierung im Zentrum. Die dem zugrundeliegende Theorie Stapelfeldts kann kurz so zusammengefasst werden, dass die kapitalistische Produktionsweise in ihrem historischen Verlauf verschiedene Formen angenommen hat. Auf den Liberalismus, die bürgerliche Ökonomie in der Epoche der Aufklärung und des Insdustriekapitalismus (1765-1870/80) folgte der Imperialismus als Form, die die bürgerliche Ökonomie in der Epoche von Krise und Krieg annahm (1873-1918/29). Diese wiederum wurde durch den systemrationalen Staatsinterventionismus abgelöst (1929/33-1973/81), um schließlich nach 1973/81 in den Neoliberalismus überzugehen. Dieser historische Verlauf resultiert aus der krisenhaften Verfasstheit der kapitalistischen Gesellschaftsform. Die gegenwärtige Form des Kapitalismus ist seit der Weltwirtschaftskrise von 1973/75 die des neoliberalen Kapitalismus. Dieser ist nicht nur durch eine Politik der Liberalisierung und Privatisierung gekennzeichnet, sondern hat vor allem nach 1990 zu Prozessen geführt, die als „Globalisierung“ bezeichnet wurden. In dieser Zeit wurde der Systemgegensatz zwischen den geopolitischen Machtblöcken um die USA und die UdSSR durch den Zusammenbruch des „Ostblocks“ überwunden. Damit hat sich nicht nur der Aufstieg der USA zur weltweiten Führungsmacht fortgesetzt, sondern der Neoliberalismus konnte sich ab 1990 auch zur Weltwirtschaftsordnung verallgemeinern. In die Staaten des ehemaligen „Ostblock“ kam es zu schweren und tiefgreifenden Transformationsprozessen – zu krisenhaften Prozessen der Umstrukturierung dieser Staaten und deren Gesellschaften. Deren Eingliederung in die neoliberale kapitalistische Weltökonomie wird im allgemeinen Bewusstsein verkürzt als Globalisierung aufgefasst – und als Vorgang der ökonomischen und politischen Befreiung gefeiert. Es sollte ein globales Zeitalter des Friedens und der wirtschaftlichen Entwicklung anbrechen. Die Menschheit sollte – dem ideologischen Anspruch folgend – in einer Welt zusammengeführt werden. 1990/91 sprach der US-Präsident George Busch von einer „pax universalis“ und einer „New World Order“. Mit diesen Begriffen wurde in diesen Jahren ein System der globalen und kollektiven Sicherheit beschrieben, während die inneren Widersprüche des Neoliberalismus in solchen ideologischen Vorstellungen ausgeblendet wurden. Sie haben sich aber weiterentwickelt: „Die neoliberale Welt-Integration erwies sich als Einheit durch Desintegration. Kriege und Massenelend wurden in alten wie in neuen Formen reproduziert. Seit 2008 treten diese Krisen in immer schnellerer Folge auf. Die schöne Welt des Neuen Liberalismus offenbart sich seither als weltgeschichtlicher bellum omnium contra omnes“. Die Jahre zwischen 1989/91 und 2021/22 können als Epoche gelten, in der der Neoliberalismus seine Vollendung als Globalisierung erlangt hat – und damit aufgrund seiner inneren Logik auf seine Selbstzerstörung zutrieb. Mit der Vollendung der Globalisierung sind die äußeren Feinde und Gegenspieler, gegen die weltweite Antiterror-Kriege geführt wurden, weggefallen. Dieser Prozess der widerspruchsvollen Vollendung der Globalisierung kann, weil er weiterhin durch die unaufgeklärte neoliberale Logik der „spontanen Ordnung“ bestimmt ist, nur, so legt es Stapelfeldt dar, einen modifizierten neoliberalen Zustand hervorbringen. Dieser findet seinen Ausdruck in einer neoliberal gespaltenen Welt. Damit haben sich die inneren Widersprüche dieser Gesellschaftsordnung auf eine neue Ebene transponiert: Der Neoliberalismus basiert auf dem Dogma, dass der ökonomische Wettbewerb nur Sieger und Verlierer kennt; er fasst ihn als ein Verhältnis von Freund und Feind. Weil der Weltordnung so das neoliberale Freund-Feind-Verhältnis eingeschrieben ist, kann die Konsequenz eines solch universalisierten Neoliberalismus nur im Übergang in einen feindlichen Gegensatz zwischen neoliberalen Staaten bestehen: „Russland, dessen Eintritt in die Weltordnung des Neoliberalismus die Vollendung der Globalisierung erst begründete, vollzieht somit durch den Krieg gegen die Ukraine und die Androhung eines mit Nuklearwaffen geführten Weltkrieges die Zerstörung der Globalisierung. Die Föderation kündigt, durch den Krieg, ihre Integration in diese Welt der Neuen Freiheit auf und bringt dadurch die New World Order zum Einsturz“. Ist, so Stapelfeldts These, die Welt erst neoliberal vermeintlich geeint, muss ein neuer äußerer Gegensatz aufbrechen – und einen globalen Kriegszustand hervorbringen, in dem innergesellschaftlich die autoritären Tendenzen der neoliberalen Ideologie ihren Ausdruck in der Formierung von Volksgemeinschaften finden. Die Abgrenzung vom Fremden und die Homogenisierung des Eigenen gehen dabei ineinander.

Die Konsequenz der neoliberalen Welteinheit und der vollständigen Globalisierung ist daher der Fortgang zu einer entzweiten Welt, der zur Restitution des um 1990 überwunden geglaubten „klassischen Staatenkriegs“ führt. War die Zeit zwischen 1990 und 2022 durch Staatszerfalls- und Antiterror-Kriege bestimmt, findet mit dem militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine ein Umbruch statt. Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine dokumentiert das Ende der „New World Order“ und vollzieht die Selbstzerstörung der Globalisierung. Darin liegt nach Stapelfeldt „die weltgeschichtliche Bedeutung dieses Krieges, durch die er sich unterscheidet von den zahllosen Kriegen, die nach 1945 weltweit geführt wurden“.

So kehrt als Resultat der politisch-ökonomischen Selbstdestruktivität nach Jahren der asymmetrischen Kriege der Staatenkrieg zurück. Die Welt teilt sich in neue disparate Lager und der globale Kriegszustand wird zum Normalfall. Während die Friedensillusionen der Globalisierung zerfallen, werden die Ökonomien und Gesellschaften wieder auf die neue Realität eines Kriegszustandes zwischen Staaten ausgerichtet. Damit aber erzwingt der Krieg die Abkehr von einer Weltwirtschaftsordnung, die allein der ökonomischen Logik des Kapitals folgte, hin zu einer Logik, die die Ökonomie sicherheitspolitischen und militärischen Imperativen unterstellt. So werden die Ökonomien und Gesellschaften militarisiert, und die ökonomischen Abhängigkeiten, die sich mit der Globalisierung und ihrer weltweiten Arbeitsteilung ergaben, werden gekappt. Der im Februar 2022 begonnene Krieg Russlands gegen die Ukraine markiert damit, so Stapelfeldt, einen epochalen Umbruch: Die Vollendung der Globalisierung, die Verallgemeinerung des Neoliberalismus zur Weltordnung, zerstört sich selbst und geht in einem globalen Kriegszustand über.

Der russische Angriffskrieg löst so die Weltwirtschaftsordnung des globalisierten Neoliberalismus auf. Der freie Verkehr von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften wird nun unter sicherheitspolitische Imperative gestellt. Diese sind teilweise schon durch die Corona-Krise eingeleitet worden, aber nun wird der politisch-ökonomische Autoritarismus des Neoliberalismus, der sich schon seit 1973/75 in unzähligen Umstrukturierungen und Kriseninterventionen deutlich gezeigt hatte, in immer offenere autoritäre Versionen transformiert: Der Konformismus des Neoliberalismus formierte die Gesellschaften zu neoliberalen Volksgemeinschaften: Diese befinden sich nicht länger nur in ökonomischer Konkurrenz; vielmehr geht dieser Konkurrenzkampf zunehmend in einen offenen Krieg aller gegen alle über, in einen Zustand, in dem sich nationale Kollektive wieder im Kriegszustand gegenüberstehen. Dies zeigt sich auch an den autoritären und mitunter wieder faschistischen Tendenzen, die weltweit an politischem Einfluss gewinnen.

Gegen diese Entwicklung ist die Kritik und Reflexion, so hilflos sie auch angesichts der überwältigenden Realität ist, gerichtet. Daher müsse sich die Aufklärung über die gesellschaftsgeschichtlichen Hintergründe dieses neuen Kriegszustands, so Stapelfeldt, mit der Frage „Warum Krieg?“ beschäftigen: „Eine dialektische Theorie der Gesellschaft hat die notwendig utopisch auf die bewußtlosen Verhältnisse der Weltgesellschaft, der kriegsführenden und in den Krieg involvierten nationalen Gesellschaften gerichtete Frage: Warum Krieg? als Frage nach den inneren Verhältnissen der kriegsführenden sowie der in den Krieg involvierten Staaten, die sich in den Kriegen als deren Außenverhältnis spiegeln, aufzuklären. In Kriegen manifestiert sich ein innen- und außengerichtetes Freund-Feind-Verhältnis von Gemeinschaften“. Ziel bleibt die Aufklärung, das „Bewußtwerden der Ursachen von Kriegen als Begründung einer vernünftigen Hoffnung auf ewigen Frieden“. Kritik und Reflexion richten sich gegen die Hoffnungslosigkeit und Zumutungen des neoliberalen Zeitalters. Diese gesellschafts- und ökonomiegeschichtliche Aufklärung stellt eine bedeutende Leistung dar.

Stapelfeldt klärt Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine durch seine Analyse der gesellschaftsgeschichtlichen Epoche auf, die diesen Krieg hervorbringt. Das umfangreiche Buch formuliert eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, die zugleich von der Hoffnung lebt, durch sie die Aussicht auf eine Utopie des Friedens zu ermöglichen. Das Ende der Globalisierung hingegen sieht er als den Beginn einer Epoche, in der autoritäre Staaten sich in einem globalen Kriegszustand gegenüberstehen und wieder offen zwischenstaatliche Kriege geführt werden. Das Buch Warum Krieg? ist so eine umfassende Kritik dieses Epochenwechsels.

Lotter – Realer Humanismus

Konrad Lotter

Realer Humanismus. Eine geschichtliche Betrachtung

Pb., 270 Seiten, 25,- €, Mangroven-Verlag, Kassel 2024

von Reinhard Jellen

Humanistische Gedanken und Überzeugungen stehen gegenwärtig nicht gerade hoch im Kurs. Die Utopie einer Gesellschaft, in der jeder Einzelne „in Gemeinschaft mit Anderen“ die eigenen Anlagen „nach allen Seiten hin ausbilden kann“, so wird eingewandt, habe der Realität nicht standgehalten. Sie sei von der geschichtlichen Entwicklung überholt. Zur Begründung werden dabei vor allem drei Argumente ins Feld geführt. Erstens erfordere die Arbeitsteilung eine zunehmende Spezialisierung und damit eine einseitige Ausbildung der eigenen Fähigkeiten. Wer weiterkommen wolle, brauche keine Bildung, sondern eine solide Ausbildung, die sich an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts orientiert. Zweitens hätte durch die Konformität des Konsums, der medialen Information oder der Kommunikation eine Nivellierung auch der Menschen stattgefunden. Die Massengesellschaft hätte Massenmenschen hervorgebracht, deren Persönlichkeitsentwicklung außen- und fremdbestimmt sei. Mitunter wird sogar vom „Verschwinden“ des Menschen gesprochen, dessen individuelle Konturen sich auflösten „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Drittens habe sich die Technik dem Menschen gegenüber verselbständigt und Macht über ihn gewonnen. Durch die Verschmelzung von Info- und Biotechnologie sowie die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz sei der Mensch zu einem weithin fremdbestimmten und manipulierten Wesen erniedrigt worden. Post- und Transhumanismus haben sich zuletzt die „Überwindung“ des Menschen und die Erzeugung eines „Übermenschen“ zum Ziel gesetzt.

Eine Stärke von Konrad Lotters Buch liegt darin, dass es diese Argumente nicht nur aufgreift und ernstnimmt, sondern auch in ihrer eigenen Dialektik darstellt. Aus den vermeintlichen Grenzen des Humanismus werden auf diese Weise Übergänge zu neuen, erweiterten Formen des Humanismus. Erst die Teilung der Arbeit nämlich offenbart die vielfältigen Potenzen des Menschen und erzeugt die Möglichkeit, sich in verschiedensten Bereichen zu versuchen und ein reiches Leben zu leben. Erst die technischen Fortschritte haben die Entlastung der Menschen ermöglicht, die von der Arbeit freigestellt die Verwirklichung ihrer Anlagen auch „als Selbstzweck“ betreiben können. Und auch die „Masse“ muss nicht nur als Verlust, sondern auch als Vorstufe einer (neuen) Humanität begriffen werden, in der die Menschen solidarisch ihre gemeinsamen Interessen durchsetzen können.

Eine andere Stärke des Buches liegt in seinen klaren Begriffen und Aussagen. Im Fortschritt des klassischen Humanismus zur Zeit der Renaissance und der Goethezeit zum realen Humanismus, den Marx in Auseinandersetzung mit Hegel, den Junghegelianern und Feuerbach entwickelt, so wird gezeigt, vollzieht sich ein mehrfacher Wechsel der Perspektive. Aus der Kritik an der Religion wird die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Nicht mehr an der idealisierten Antike orientiert sich der reale Humanismus, sondern an den geschichtlichen Möglichkeiten, die sich durch den Grad der Naturbeherrschung und den gesellschaftlichen Reichtum eröffnen. Aus der Bildung einzelner Individuen, einer Elite von Humanisten jenseits der „Masse“, entsteht die Forderung nach menschlichen Institutionen, die nicht nur allen Menschen die gleichen Chancen einräumen, sondern auch Frieden mit der Natur geschlossen haben. Was den realen Humanismus zuletzt von den früheren Formen des Humanismus unterscheidet, ist seine praktische Ausrichtung: dem „kategorischen Imperativ“, alle Verhältnisse zu beseitigen, die die Menschen fremdbestimmen und ihre menschliche Würde verletzen.

Etwas abschreckend an Lotters Buch könnten die vielen Bezüge auf philosophische, soziologische, ökonomische und psychologische Werke sein, auf die sich seine Argumentationen stützen. Wer sich von diesem par force-Ritt durch die Geistesgeschichte nicht einschüchtern lässt und sich darauf einlässt, wird das Buch mit Gewinn studieren.

Eilenberger – Geister der Gegenwart

­Wolfram Eilenberger

Geister der Gegenwart. Die letzten Jahre der Philosophie und der Beginn einer neuen Aufklärung

geb., 492 Seiten, 28.- €, Klett-Cotta, Stuttgart 2024

von Konrad Lotter

Unter dem Titel Geister der Gegenwart präsentiert Wolfram Eilenberger eine weitere Philosophiegeschichte der besonderen Art. Zum einen beginnt seine Erzählung 1948, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und endet bereits im Jahr 1984, umfasst also noch nicht einmal die Epoche der Nachkriegszeit, die erst 1989 endet. Die gewählte Zeitspanne wird (nicht ganz einsichtig) durch die Rückkehr Adornos aus dem kalifornischen Exil nach Frankfurt einerseits und den Tod Foucaults andererseits begrenzt. Zudem gehört die Epoche, die als „Gegenwart“ vorgestellt wird, schon seit über 40 Jahren der Vergangenheit an, auch wenn diese „Geister“ in der Gegenwart immer noch herumspuken und die Sekundärliteratur bevölkern. Zum anderen werden die genannten 36 Jahre nicht linear, als Kontinuum erzählt, sondern in der Abfolge von vier Sprüngen und den Stationen oder „Zuständen“ in den Jahren 1948/50, 1957/58, 1968/69 und 1984. Schließlich konzentriert sich Eilenberger, wie schon in seinen Büchern Zeit der Zauberer (mit Heidegger, Cassirer, Benjamin und Wittgenstein) und Feuer der Freiheit (mit Simone de Beauvoir, Hannah Arendt, Simone Weil und Ayn Rand) auf vier „Leitgestalten“, die zwar in ihrem theoretischen Umfeld, aber doch wesentlich als Individuen gewürdigt werden: Theodor W. Adorno, Michel Foucault, Susan Sontag und Paul Feyerabend. Obwohl sie nicht der gleichen Generation angehören, in keiner persönlichen Beziehung zueinanderstehen und auch in ihren Theorien und in ihrem Leben ganz verschiedene Wege eingeschlagen haben, stellt sie Eilenberger als „beispielhafte Verkörperungen eines Lebens im Sinne der Aufklärung“ vor: als die wahren Nachfolger von Kant und seiner Aufklärungsschrift.

Als Adorno nach Frankfurt zurückkehrt, ist zumindest eines seiner Hauptwerke bereits veröffentlicht. In der mit Horkheimer gemeinsam verfassten Dialektik der Aufklärung hat er sich von Marxʼ politischer Ökonomie, die die Grundlage der Kritischen Theorie der Vorkriegszeit gewesen war, verabschiedet. Ähnliche Abgrenzungen werden von Eilenberger auch bei den anderen „Leitgestalten“ angedeutet, die zur selben Zeit noch Studenten waren. Foucault folgt weder seinem marxistisch orientierten Freund Louis Althusser noch Jean-Paul Sartre, der gerade dabei ist, seinen Existentialismus als „Moment“ in die Marxsche Gesellschaftstheorie aufzuheben. Feyerabend schließt sich während der Alpbacher „Hochschulwochen“ an Karl Popper und Friedrich August von Hayek an, die das Projekt einer „offenen Gesellschaft“ auf der Grundlage einer neoliberalen Wirtschaftspolitik verfolgen und sich von den sozialistischen und austro-marxistischen Mitgliedern des „Wiener Kreises“ (Neurath, Carnap) losgesagt haben. Eilenberger nennt zwar die Fakten, stellt aber keine Verbindung zur Ideologie des Kalten Krieges her, der sich die Philosophen gleichermaßen unterordneten und den Marxismus mehr oder weniger mit der stalinistischen Realität des Ostblocks gleichsetzten. Eine Ausnahme bildet Susan Sontag, die 1933 geboren, in den Nachkriegszeiten noch kaum 20 Jahre alt, mit der Entdeckung ihrer Bi-Sexualität beschäftigt ist und sich mit Freuds Psychoanalyse und mit moderner Literatur (Th. Mann, Rilke, Brecht u.a.) auseinandersetzt.

1957/58 werden als die Jahre behandelt, in denen die vier „Leitgestalten“ zu sich selbst und ihrer Philosophie finden. Nur Adorno hat bereits eine feste Stellung innerhalb der Universität, leitet das Institut für Sozialforschung und arbeitet an seiner Negativen Dialektik und seiner Ästhetik. Foucault steht als Leiter des französischen Kulturinstituts in Upsala noch außerhalb der universitären Institution. Dort entdeckt er den „Wahnsinn“ bzw. die „Vernunft“ (als fortschreitenden Ausschluss des Wahnsinns, der selbst in eine Form des Wahnsinns umschlägt) als sein Thema. Feyerabend arbeitet noch als Lektor für Wissenschaftstheorie, Susan Sontag als Redakteurin beim jüdischen Kulturmagazin Commentary und der Partisan Review. Als Stipendiatin studiert sie an der Universität in Oxford. In zunehmender Weise gerät das Denken derer, die Eilenberger als „neue Aufklärung“ behandelt, in diesen Jahren unter den Einfluss von Wittgenstein und der englischen Sprachphilosophie (Gilbert Ryle, John Austin, Nelson Goodman) einerseits, von Nietzsche und Heidegger andererseits.

Weshalb gerade Susan Sontag zu den vier größten „Geistern der Gegenwart“ gerechnet wird, ist nicht recht einzusehen. Sie schreibt Romane und Kurzgeschichten, dreht späterhin Filme und dokumentiert ihre Reisen nach Nordvietnam oder Kuba. Größeres Aufsehen erregt sie mit ihren Essays wie etwa Against Interpretation oder Notes on Camp, in denen sie sich für eine Aufwertung der sinnlichen (Kunst-)Erfahrung stark macht und mit ihrem Eintreten für „Trash“ die Grenze zwischen Hoch- und Popkultur einreißt. Sie entwickelt sich zu einer umtriebigen und glamourösen „öffentlichen Intellektuellen“, deren Werk aber doch weit hinter dem umfassenden und weitverzweigten Œuvre von Adorno oder Foucault zurücksteht. Auch hinter dem Werk von Ernst Bloch und Georg Lukács, die in der behandelten Zeitspanne von 1948 bis 1984 im philosophischen Diskurs ganz oben stehen, von Eilenberger aber nur an Rande erwähnt bzw. überhaupt nicht genannt werden. Sie zählen für ihn nicht zum Kreis der „neuen Aufklärer“.

Der größte Teil des Buches ist den Jahren 1968/69 gewidmet, in denen die Philosophie vor ihrem „Praxis“-Test steht und sich zum Teil radikalisiert. Detailliert berichtet Eilenberger über die politischen Aktionen der rebellierenden Studenten und die verschiedenartigen Reaktionen ihrer Professoren. Adorno ruft nach der Besetzung des soziologischen Instituts die Polizei. Nach der „Sprengung“ seiner Lehrveranstaltung und dem „Busenattentat“ bricht er seine Vorlesungen ab. Foucault, der zuerst als „Gaullist“ verschrieen und angefeindet wird, solidarisiert sich mit den Studenten und wirft am Ende Fernsehgeräte vom Dach der Universität von Vincennes auf die anrückende Polizei. Feyerabend, der zwischen Berkeley und Berlin pendelt und Vorlesungen abhält, radikalisiert sich, sympathisiert mit Cohn-Bendit und vermittelt dem aus dem Frankfurter Institut geworfenen Hans-Jürgen Krahl an der TU in Berlin eine Stelle. Theoretisch entfernt er sich immer weiter von Popper, entdeckt (horribile dictu für einen analytischen Philosophen) Hegel und entwickelt seine anarchistische Erkenntnistheorie, die er später in seinem Buch Wider den Methodenzwang unter dem Motto „anything goes“ veröffentlicht. Susan Sontag, die dem universitären Leben trotz verschiedener Stipendien fernesteht, prangert die brutalen Kriegseinsätze der USA in Vietnam an und verteidigt die Interessen des vietnamesischen und kubanischen Volks. Bezeichnend für Eilenbergers Buch ist, dass er den Schwerpunkt auf die politischen Ereignisse von 1968/69 legt. Kaum ein Wort verliert er dagegen über die breite Rezeption der Marxschen Theorie, die in diesen Jahren einsetzt, viele Diskussionen dominiert und ihre Kritik nicht zuletzt auch gegen die „Leitfiguren“ richtet.

Zwischen 1970 und 1984 erscheinen die vielleicht wichtigsten Werke von Foucault (Archäologie des Wissens, Sexualität und Wahrheit, Überwachen und Strafen) und Feyerabend (neben Wider den Methodenzwang auch Erkenntnis für freie Menschen), allerdings auch von Jürgen Habermas (Theorie des kommunikativen Handelns), der der gleichen Generation wie Foucault und Feyerabend angehört. Während der Zeit der Studentenrebellion hatte er eine wichtige Rolle gespielt, nach dem Tod von Adorno die Leitung des soziologischen Instituts in Frankfurt und 1971, zusammen mit C.F.von Weizsäcker, das Starnberger Max-Planck-Institut übernommen. Von Seiten Eilenbergers wird ihm aber offenbar nicht der gleiche Rang wie den großen Vier zugestanden.

Über viele Seiten hinweg ist Eilenbergers Buch nicht nur informativ, sondern auch unterhaltsam. Es berichtet über theoretische und politische Positionen, aber auch über eine Menge Persönliches und Intimes: über Freund- und Feindschaften, Ehebrüche und Scheidungen, Selbstmordversuche und sexuelle Präferenzen. Neben theoretischen Werken wird nicht selten aus der Schlüssellochperspektive aus persönlichen Briefen oder Tagebüchern zitiert. Gut zu lesen ist das Buch auch wegen seiner straffen Gliederung, seinen kurzen Abschnitten und bezeichnenden Überschriften. Am Ende fragt man sich allerdings, ob Eilenberger und die von ihm präparierten „Leitgestalten“ Kategorien zur Verfügung stellen und Einsichten vermitteln, die es erlauben, die Welt von heute mit ihren ökonomischen und ökologischen, politischen und sozialen Problemen und Konflikten angemessen zu begreifen.

Robeyens – Limitarismus

Ingrid Robeyens

Limitarismus. Warum Reichtum begrenzt werden muss

geb., 377 Seiten., 26,- €, S. Fischer-Verlag, Frankfurt/Main 2024

von Fritz Reheis

Auf einem endlichen Planeten kann es kein unendliches Wachstum geben. Diese Binsenweisheit wird meist auf physische Objekte oder auch auf die Realwirtschaft insgesamt bezogen. Seit einiger Zeit taucht dieser Gedanke jedoch auch im Rahmen eines mathematisch-physikalischen Ansatzes zum Verständnis von Nachhaltigkeit auf. Gemäß der Faltungstheorie von Anders Levermann vom Potsdam Institut für Klimaforschung stoße Wachstum ohne Richtungswechsel notwendigerweise an Grenzen, müssten quantitative Veränderungen notwendigerweise in qualitative münden, die den Grad der Komplexität erhöhen, wenn der Anspruch der Nachhaltigkeit erfüllt werden soll. Ohne auf Levermann Bezug zu nehmen, greift nun auch Ingrid Robeyens, Professorin für Ethik an der Universität Utrecht, diesen Gedanken in Bezug auf das Vermögen einzelner Personen auf. Sie nennt das Prinzip „Limitarismus“.

Um die Dimensionen der sozialen Ungleichheit vor Augen zu führen, beginnt Robeyens mit einem Gedankenexperiment. Wie hoch, so fragt sie, müsste der Stundenlohn des reichsten Menschen im Vereinigten Königreich sein, damit er am Ende eines 45 Jahre währenden Arbeitslebens ein Vermögen von 23 Milliarden Pfund angesammelt hat. Die Antwort: 196.581 Pfund pro Stunde, ein Stundensatz, der ausreichen würde, um sich jeden Tag eine Drei-Zimmer-Wohnung mitten in London zu kaufen (9). Robeyens erinnert mit spürbarer Sympathie an die Occupy-Bewegung 2011 und deren Parole „Wir sind die 99 Prozent“, die der Welt bewusst machen wollte, dass es das übrige „eine Prozent“ sei, das fast all die Probleme bereitet, mit denen wir heute konfrontiert sind. Robeyens berichtet über die Reaktionen einiger ihrer Professorenkollegen aus Philosophie, Ökonomie und verwandten Disziplinen, die sich anfangs amüsierten, als sie von ihrem Forschungsvorhaben erfuhren; einige hätten ihr gar Neid auf die Reichen als Motiv unterstellt. Tatsächlich sei das Buch das Resultat einer im Laufe eines zehnjährigen Projekts herangereiften Überzeugung, „dass wir eine Welt schaffen müssen, in der niemand superreich ist – dass es eine Obergrenze des Reichtums geben muss, den eine Einzelperson haben darf“ (14). Der von ihr geprägte Begriff des Limitarismus verstehe sich als „regulatives Ideal“.

In ihrer Einleitung listet Robeyens die gängigen Einwände gegen eine solche Begrenzung von hohen Vermögen auf und versucht, sie zu entkräften. Das erste Kapitel fragt anschließend: „Wie viel ist zu viel?“ Die Antwort unterscheidet eine politische und eine ethische Obergrenze. Politisch solle das Vermögen einer Person bei „etwa“ zehn Millionen abgeriegelt werden. Ethisch schlägt sie eine Grenze von „etwa“ einer Million vor. Mit dem Wörtchen „etwa“ will sie sagen, dass diese Grenzen für Pfund, Euro und Dollar gleichermaßen gelten könnten.

Die Folgekapitel legen die Gründe für die Notwendigkeit des Limitarismus dar. Die Überschriften lauten: „Extremer Reichtum hält die Armen in Armut, während die Ungleichheit wächst.“ „Extremer Reichtum stammt aus schmutzigem Geld.“ „Extremer Reichtum untergräbt die Demokratie.“ „Extremer Reichtum steckt die Welt in Brand.“ „Niemand verdient es, Multimillionär zu sein.“ „Mit dem Geld lässt sich so viel machen.“ „Philanthropie ist nicht die Lösung.“ Und: „Auch die Reichen werden profitieren.“

Das Schlusskapitel thematisiert Strategien der Umsetzung des limitaristischen Ideals: den Ausbau der sozialen Infrastruktur, fiskalische Maßnahmen, einen fundamentalen Umbau der Wirtschaftsordnung, eine neue Ausbalancierung von Markt und Staat und ethisches Handeln. Anschließend geht es um Wege der Vermögensbegrenzung. Die Stichworte lauten: Demontage der neoliberalen Ideologie („der Kern des Problems“), Reduktion der sozialen Spaltung, Sorge für ein wirtschaftliches Machtgleichgewicht, Wiederherstellung der fiskalischen Handlungsfähigkeit des Staates, Konfiszierung schmutzigen Geldes einschließlich der Entschädigung der Opfer, Umbau der internationalen Wirtschaftsarchitektur mit dem Ziel der Herstellung von globaler Gerechtigkeit, Begrenzung der Managergehälter und fundamentale Veränderung des Erbschaftsrechts. „Letztlich ist die wichtigste Veränderung“, so die Autorin, „dass wir die Mantras ‚Gier ist gut’ und ‚Der Himmel ist die Grenze’ aufgeben“ (319).

Auch wenn die vorgeschlagenen Vermögensgrenzen ziemlich willkürlich wirken, die politökonomische und die ethische Argumentation relativ unverbunden bleiben, eine fundierte politökonomische Analyse fehlt und die eigentlich naheliegende Anbindung des Limitarismus an die Nachhaltigkeitsdiskussion nur ansatzweise erfolgt, handelt es sich um ein wichtiges Buch, dem eine weite Verbreitung zu wünschen ist.

Fleury – Hier liegt Bitterkeit begraben

Cynthia Fleury
Hier liegt Bitterkeit begraben
Über Ressentiments und ihre Heilung
geb, 316 Seiten., 28,– €, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2023

von Ottmar Mareis

Das Problem des RechtspopuIismus grassiert heute in ganz Europa. Die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury widmet sich in ihrem Buch dem ihm zugrundeliegenden Ressentiment. Im ersten Teil beschreibt sie das Bittere als das, was der Mensch des Ressentiments erlebt. Um sich diesem Thema zu nähern, stellt sie der Reihe nach die bekannten Philosophen und Psychoanalytiker vor, die sich mit dem Ressentiment auseinandergesetzt haben.
Den Auftakt bildet Max Scheler. 1912 veröffentlichte er einen Essay, in dem er bei den Ressentimentgeladenen ein „wiederholtes Durch- und Nachleben einer bestimmten emotionalen Antwortreaktion gegen einen anderen“ beobachtet, „durch die jene Emotion eine gesteigerte Vertiefung und Einsenkung in das Zentrum der Persönlichkeit erhält.“ Für Fleury wird die Verstärkung des permanenten „Durchkauens und Wiederkäuens mit der charakteristischen Bitterkeit einer vom Kauen ausgelutschten Speise“ zentral für ihre Analyse. Die ersten Reaktionen des Ressentiments könnten noch auf konkreten Erfahrungen des “Haters“ beruhen, denen er als Kind oder Jugendliche/r nicht adäquat antworten konnte. Doch mit zunehmender Erfahrung seiner Ohnmacht gegen unüberwindliche gesellschaftliche Autoritäten wandelt sich die Bitterkeit zu jenem gefährlichen universellen Ressentiment, das heute wieder die westlichen Demokratien bedroht.
Das Ressentiment breitet sich im Volk aus, beide werden letztlich von ihm komplett besessen und geleitet. Es ist die andere Seite der Ohnmacht, die den Hater seine Handlungsfähigkeit und Kreativität einbüßen lässt. Er wird immer träger und verliert sein Differenzierungsvermögen, indem er auf ein primitives Reiz-Reaktionsschema regrediert, während sein Groll anwächst. Grollen und Donnern zeichnen die Gesellschaften aus, in denen die Hater reüssieren.
Anschließend stellt Fleury Nietzsches Schriften in seiner Phase der Aufklärung ausführlich vor. Sie erwähnt zwar, dass er auch der Philosoph der europäischen Rechten ist. Aber interessanterweise liest, versteht und verteidigt sie ihn fast vollends als Aufklärer. Der Ressentimentbesessene sei Träger der Sklavenmoral. Nietzsche spricht von den Missratenen, Kranken, Schwachsinnigen, Mittelmäßigen: „Seine Seele schielt, sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hintertüren, alles Versteckte muthet ihn als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demüthigen.“ Sie werden zur Herde, die dem Herdentrieb verfällt, indem sie ihre Beschränkungen und ihre Ressentiments zur Norm erheben. Bemerkenswert ist, dass Nietzsche die Missratenen auch als Labile darstellt, die Kränkungen nicht verarbeiten können. Darauf postuliert er, dass sie generell Verdauungsstörungen haben. Sie können nicht richtig oder gar nicht verdauen; sie sind diejenigen, die einen üblen Geruch verbreiten. Gleichzeitig will der Ressentimentbesessene das Fieber seiner Verbitterung ständig nach- oder wiedererleben und die “Magie“ des großen Führers, der seine Rache vollstreckt, indem er ihn in Kriegen verheizt.
Gegen ihn setze Nietzsche den Edlen und dessen Herrenmoral, die von Großzügigkeit bestimmt sei. Jedoch befremdet, dass Fleury die dunkle Triade der Herrenmoral, die Macht zu unterdrücken, auszubeuten und zu versklaven verschweigt. Denn es würde ihr sympathisierendes Leseschema brechen. Den Edlen zeichne ihrer Meinung nach vor allen anderen aus, dass er nicht längst vergangene, oft imaginäre Beleidigungen wiederkäut, die ihn ständig im Zustand des Grolls, der Missgunst und der Rancune gefangen halten. Stattdessen praktiziere er das freiwillige, resiliente, große Vergessen. Es ist ein wesentlicher Zug seiner Mahatma. Deshalb kann seine große Seele stets aufs Neue den Anderen völlig unvoreingenommen offen begegnen. Ihn umgibt die Aura der grandiosen Positivität, die flirrende Offenheit gegenüber der Welt. Um diese Aura zu erläutern, schließt Fleury Rilkes Gedichte über das Offene an. Sie spricht begeistert von Nietzsche, Mallarmé und Rilke, gleichfalls von einer Reihe von Dichtern wie Hölderlin u. a., die das Offene im Bund mit der Großzügigkeit thematisierten. Daran knüpft sie ihre Erfahrungen mit der Heilkunst in Psychoanalysen. Es zeugt vom Gelingen, wenn ein Klient nach langer Therapie reflexiv wahrnehmen respektive verdauen gelernt hat. Ob es ihm gelingt, in der Therapie, in der er sich lange als krasses Opfer präsentierte, die Erfahrung zu machen, sich von seinem selbstquälerischen, destruktiven, narzisstischen Opfertum zu lösen und sich davon zu befreien, nicht mehr dieses Opfer sein zu müssen. Nur wenn er diese Stufe erreicht, könne er wieder handlungsfähig und offen für die Welt werden.
Leider wird zu wenig thematisiert, welche sozialisatorische Bedingungen vonnöten sind, um solch große Seelen, Edelmütige und Offene hervorzubringen. Nur vereinzelt erwähnt sie, dass diese Aufgabe Schulen und Bildungsanstalten zukomme. Fleury liefert zwar eine stupende Analyse des Ressentiments; aber der nächste Schritt wäre definitiv, ein Buch über die Bedingungen und Methoden einer solchen Erziehung zur Offenheit zu schreiben. Hier würden sich wohl die Schwierigkeiten in den heutigen unterfinanzierten, selektiven, darwinistischen deutschen Schulen und im Bildungssystem in extenso offenbaren. Die Mahatma-Pädagogik ist, wenn überhaupt, wenigen teuren Elite-Internaten vorbehalten.
Ein weiteres Kapitel widmet Fleury Adorno und Wilhelm Reich. Hier führt sie hauptsächlich die Minima Moralia und die Negative Dialektik an, von Reich die Schriften zur Massenpsychologie des Faschismus und zu seinen Charakteranalysen der undurchdringlichen, verhärteten Charakterpanzer. Diese Analysen sind nicht nur dadurch, dass sie ihnen Referenz und Anerkennung zollt, aktueller denn je, obwohl sie lange aus dem Spektrum der politischen Kulturkritik verdrängt waren. Wenn man sich von Fleurys poetischem französischen Duktus nicht blenden lässt, der auf der Schwelle zur Trance balanciert, fällt im Gegensatz zu den anderen Kapiteln auf, dass sie hier keine eigene, geschweige denn neuartige Interpretation vornimmt. Vermutlich weil sie gegen diese Schriften kaum bestehen könnte.
In dem letzten, umfangreichsten Teil des Buches wendet sie sich Frantz Fanon zu. Fanon war ein maßgeblicher psychoanalytischer Psychiater und Theoretiker der Postcolonial Studies. Mit „die Verdammten dieser Erde“, und „Schwarze Haut, weiße Masken“ trug er wesentlich zur Analyse des Verhältnisses von Kolonisatoren und Kolonisierten bei. Fleury referiert diese Schriften nicht nur, sondern erklärt und interpretiert wichtige Passagen gründlich. Fanon habe ausführlich dargestellt, dass die Kolonisatoren sowohl die Kultur als auch die Singularität der Kolonisierten ausradierten, indem sie Jahrhunderte auf einen krassen, gewalttätigen Rassismus setzten. Nach dieser langen, brutalen kolonialen Ausbeutung analysierte Fanon minutiös, wie sich diese Gewalt der physischen und kulturellen Auslöschung in der Psyche der überlebenden Indigenen spiegelt. Ihr Schicksal bestehe in einer ebenso großen Verbitterung wie Ressentiment gegenüber sich selbst, ihrer eigenen Kultur und der Welt, solange sie sich nicht in großen Befreiungsbewegungen durch resiliente, nachhaltige (Guerilla-) Kämpfe davon befreien. Der Befreiungskampf, so Fanon, ist dann aber nicht das Ende; denn in postkolonialen Zeiten werde der Rassismus latent und weniger offensichtlich. Es bedarf daher größerer intellektueller Anstrengung zu seiner Entlarvung. Fanon postuliert, dass die emanzipatorische Arbeit des Psychiaters nun erst beginne oder weiterzuführen sei, besonders wenn der Kampf erfolgreich war.
Fleury bespricht weiter Fanons einflussreichste sozial- und ethnopsychiatrische Studien. Sie hebt hervor, dass Fanon vollends bewusst war, mehr noch, herausarbeitete, was es heißt, ein/e Arzt:in respektive Psychiater:in zu sein, der/die in einem kolonialen staatlichen oder konfessionellen Krankenhaus des globalen Südens arbeitet. Die weiße Schulmedizin sei besonders dort ein Medium sowohl der Unterdrückung als auch der Unterwerfung, auch wenn der Arzt jetzt öfter eine PoC ist. Fanon analysierte zudem scharfsinnig, was es bedeutet, als weißer oder PoC-Arzt zu praktizieren. Fleury verstärkt Fanons Fokus auf eine umfangreiche Sozialtherapie, in der es immer auch auf die Institution ankommt, in der er oder sie arbeitet. Es mache keinen Sinn, nur individuell zu therapieren. Man sollte als Arzt:in die Institution und letztlich die postkoloniale Gesellschaft im selben Maße behandeln, mehr noch, erziehen. Das große Wagnis bestehe darin zu versuchen, die Institution von einem Instrument der Unterwerfung in eines der Öffnung zur Bevölkerung und ihren Bedürfnissen hin zu verwandeln. Fleury spricht oft von der Fanonschen Deklosion, der Öffnung der Institutionen. Sie würdigt seinen großen Einfluss, den er auf die 68/70er Jahre, vor allem auf Basaglia, Laing, Foucault und viele PoC-Psychiater:innen hatte. Zudem weist sie darauf hin, dass Fanon nicht der Meinung war, wie heutige postkoloniale Aktivist:innen, auf seinem Schwarzsein bestehen zu müssen.
Es käme zuerst sowohl bei Weißen als auch bei PoC auf den Prozess der Entpersönlichung an, was Fleury an Mallarmé und anderen Dichtern illustriert. Dieser Prozess befördere die Reflexion. Erst nach der reflexiven Entpersönlichung, dh. der Abweisung aller zugeschriebenen Rollen, könne wieder auf die Singularität des Individuums geblickt werden wie auf seine spezifische Individuation. Die persönlichen Gegenstände, auf die Psychiatrisierte teils vehement beharren, wie (Ehe-)Ringe, Schmuck oder Haarspangen seien als ein bedeutendes Element in der Behandlung zu betrachten. Nur singuläre, personale Sichtweisen auf die Klienten könnten der Entmenschlichung respektive Dehumanisierung entgegenwirken, die bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts in den Psychiatrien herrschten. Fleury betont zum Schluss, nicht bei der therapeutischen Singularität der Psychiatrisierten respektive der Hater stehen zu bleiben. Die Demokratie und ihre Institutionen müssten dahingehend wirken, dass sie die ressentimentbessesenen „Ich-verengten“ zur „Ich-Erweiterung“ anregen. Hier zeigt sich ihr therapeutischer Idealismus, der den Ton ihres Buchs bestimmt, am deutlichsten; denn kaum einer von ihnen wird sich einer Psychoanalyse unterziehen. Auch tragen die heutigen starren Institutionen mehr zur Ressentimentproduktion bei als sie aufzuheben. Außerdem war Freud klar, dass der Mensch aus so krummen Holz geschnitzt ist, dass man beim Erziehen, Regieren und Therapieren meist mit mangelndem Erfolg zu rechnen hat.
Dennoch schleudert Fleury ihr Buch als einen intellektuellen Molotow Cocktail aufklärerisch gegen den Trend des Rechtspopulismus in Europa. Das Buch verdient breite Rezeption. Vermutlich kann es jedoch die von ihm Adressierten nur als originaler treffen. Ce la vie.

Beckert – Verkaufte Zukunft

Jens Beckert

Verkaufte Zukunft

Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht

geb., 238 Seiten, 28,– €, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024

von Frank Beiler

Das Cover von Jens Beckerts Buch ist eine Adaption des „This is fine“-Memes aus dem Jahr 2016. Es sitzt jedoch kein lächelnder Comic Hund in einem brennenden Haus, der sich selig selbst versichert, dass alles in bester Ordnung sei, sondern man erkennt ein Paar mittleren Alters auf einer Couchgarnitur in einem Wohnzimmer, das sich einem entspannten Alltag widmet, während vor dem Wohnzimmerfenster ein Erdglobus in Flammen steht.

Das Cover steht in einer gewissen Spannung zu dem sachlichen, nachdenklichen Realismus, der das gesamte Buch prägt. Die grundlegende These ist, dass die Macht- und Anreizstrukturen der kapitalistischen Moderne und ihre Steuerungsmechanismen Lösungen zu den globalen Problemen des Klimawandels blockieren. Dies wird in neun Kapiteln in erster Linie empirisch mit dem Verweis auf zahlreiche Beispiele belegt. Gestützt werden die Verweise durch ein einfaches analytisches Modell, das die Wirkmacht des Geflechts aus Macht- und Anreizstrukturen zwischen Wirtschaft, Staat und Bevölkerung veranschaulicht.

Der Staat liefert beispielsweise den regulatorischen Rahmen für die Wirtschaft und kann im Gegenzug mit Steuereinnahmen rechnen. Die Unternehmen verfügen über eine enorme Handlungsmacht, die sich durch den Lobbyismus und die globale Reichweite des Wirtschaftssystems abzeichnet. Politische Entscheidung können dadurch aktiv beeinflusst werden, während Staat und Bevölkerung strukturell auf wirtschaftliches Wachstum angewiesen sind.

Da die Verflochtenheit der unterschiedlichen Handlungslogiken allein nicht ausreicht, um klären zu können, wie ein derartiges Versagen im Kampf gegen die Klimakrise auf allen Ebenen fortbesteht, ergänzt Beckert skizzenhaft drei kulturelle Transformationen: eine neue Definition des Verhältnisses von Mensch und Natur in der kapitalistischen Moderne, die Idee des Fortschritts und der fortwährenden Wohlstandssteigerung und eine Durchsetzung einer Moral des Individualismus.

In den Kapitel drei bis sechs führt Beckert für Wirtschaft, Staat und Konsumenten anschaulich aus, wie die verhängnisvollen Verflechtungen zum Scheitern im Kampf gegen die Klimakrise führen. Wenn es um das zögerliche Handeln des Staates in Sachen Klimaschutz geht, dann greift Beckert auch auf Probleme jenseits der Einflussnahme von Unternehmen zurück und führt aus, wie der langfristige Nutzen der Klimainvestitionen für die Bürger unerfahrbar bleibt und zudem einkommensschwächere Haushalte überproportional belastet. Er spricht im Folgekapitel die Ausbeutung des globalen Südens und die Fortschritts- und Zukunftsversprechen der Wirtschaft an. Auch koloniale Muster und deren Folgen der Naturzerstörung werden hier erkennbar. Eine grundlegende Umgestaltung des globalen Wirtschaftssystems ist zwar unumgänglich – so die Schlussfolgerung – wird allerdings aufgrund der angeführten Verflochtenheit der Handlungslogiken nicht eingeleitet. Die Verflochtenheit zeigt sich auch an dem Anteil des Privatkonsums an der Wirtschaftskraft, der in Deutschland etwas mehr als die Hälfte der Wirtschaftsleistung ausmacht und in den USA über zwei Drittel. Das wiederum führt zu einer Verantwortungsverlagerung auf individuelle Konsumententscheidungen, die – eingebettet in eine politische Ökonomie des Wachstums – kaum zu einer Lösung des Klimaproblems beitragen können.

Die Klimakrise wird sich weiter zuspitzen und massive wirtschaftliche, politische und soziale Verwerfungen mit sich bringen. Der zivilisatorischen Zusammenbruch, für den beispielsweise Rupert Read und Samuel Alexander in Diese Zivilisation ist gescheitert (Meiner, 2020) argumentieren, sieht Beckert dennoch nicht kommen. Viel Leid, extreme Ungleichheit und eine insgesamt ärmere Welt werden die Folge des kapitalistischen Systems sein, für das – aller Widersprüche zum Trotz – kein Ende in Sicht ist, denn die Klimakrise ist für Beckert keine Wirtschaftskrise. Neue Geschäftsmöglichkeiten lassen sich zynischerweise auch unter diesen Bedingungen finden.

Eine Kehrtwende, d.i. eine schnelle Reduzierung der verschiedenen Ressourcenbelastungen unter die planetaren Grenzen, ist unter den gegebenen Bedingungen des Wachstumsimperativs der Wirtschaft kaum möglich. Dem grünen Wachstum gegenüber zeigt sich Beckert nachvollziehbar skeptisch. Geoengineering-Maßnahmen sind mit einem schier unumstößlichen Optimismus verbunden. So ist beispielsweise die CO2-Entnahme in den 2-Grad-Szenarien des UNO-Klimarates bereits fest einberechnet, obwohl es an konkreten Umsetzungsplänen für eine globale Entnahme fehlt und die bisherigen Entwicklungen nicht darauf hindeuten, dass sich daran etwas ändern würde.

Beckerts Arbeit entfaltet ihre Stärken in der sachlichen und schlüssigen Schilderung der gesellschaftlichen Problemlage zur Klimakrise und bietet einen Einblick in die systemischen Barrieren an, die nachhaltiges Handeln so erschweren. Es wird schonungslos herausgearbeitet, warum der Klimawandel ein „tückisches“ Problem ist.

Wer bereits mit den einschlägigen Arbeiten dieses Diskurses, auf die Beckert fundiert zurückgreift, vertraut ist, könnte enttäuscht sein, hier nicht viel Neues vorzufinden. Die theoretische Analyse zentraler Begriffe (Kapitalismus, Macht, Konsum) verbleibt recht oberflächlich, was zu einer Vereinfachung komplexer Zusammenhänge und folglich auch zu wenig konkreten Lösungsansätzen führt. Das Buch ist dennoch als ein Einstieg in die Problemlage zu empfehlen.