Angebauer/Wesche – Theorien des Eigentums

Niklas Angebauer/Tilo Wesche

Theorien des Eigentums. Zur Einführung

br., 304 Seiten, 17,90 €

Hamburg 2024 (Junius-Verlag)

von Alexander von Pechmann

Nach Jahrzehnten des Stillschweigens ist seit einiger Zeit in den Sozialwissenschaften, aber auch in der Ethik die Debatte um das Eigentum intensiver geworden. Die Wohnungsnot in den Städten, die zunehmende Ungleichverteilung des globalen Reichtums sowie die vielfältigen ökologischen Krisen werden vermehrt in einen Zusammenhang mit der Eigentumsfrage und der damit verbundenen Verfügungsmacht über den gesellschaftlichen Reichtum gestellt.

Ausdruck dieses wiedererweckten Interesses ist die Einführung in die „Theorien des Eigentums“ der Oldenburger Philosophen Niklas Angebauer und Tilo Wesche, die auch an dem universitätsübergreifenden DFG-Forschungsprojekt über den „Strukturwandel des Eigentums“ beteiligt sind. Sie haben ihr Buch in insgesamt sechs „Positionen“ gegliedert, die die historisch wie systematisch wesentlichen Theorien über das Eigentum abdecken. Sie reichen – innerhalb der europäischen Denktradition – von Aristoteles bis zu John Rawls; und die einzelnen Kapitel sind nach den Prinzipien geordnet, die das Eigentum als Rechtsinstitut in der jeweiligen Theorie begründen.

Unter der Idee der „Gemeinschaft und des Gemeinwohls“ fassen die Autoren im ersten Kapitel die Eigentumstheorien des Aristoteles, der christlichen – m.E. eher katholischen – Soziallehre sowie des Kommunitarismus zusammen. Und in der Tat diskutieren diese Theorien – trotz unterschiedlicher Begründungen – die Fragen nach der Rolle und der Funktion des Eigentums in einem umfassenderen gesellschaftlichen Kontext, in dessen Rahmen die je private Verfügung über die Dinge und Güter eingeordnet und -gebettet sein soll. Für Aristoteles war dieser Rahmen die Polis, für das Christentum die religiöse und für den Kommunitarismus die säkulare Gemeinschaft. Was mir allerdings bei dieser Vor- und Darstellungsweise als unterbelichtet erscheint, ist, dass Aristoteles – gegenüber Platon – große Schwierigkeiten hatte, das individuelle Recht auf private Verfügung über die Dinge, damals vor allem über den Boden, mit der Verantwortung und der Verpflichtung des Bürgers gegenüber der Polis zu vermitteln. Aristoteles weiß zwar, dass das Eigeninteresse der (sklavenhaltenden) Grundbesitzer dem Gemeinwohlinteresse der Polis durchaus entgegensteht. Aber er hoffte angesichts dessen – letztlich vergeblich – auf die Erziehung jenes griechischen ‚maßvollen Tugendbürgers’, der beides, sein privates und das öffentliche Wohl, in seiner Seele zu verbinden vermag.

Auch die Darstellung der „christlichen Soziallehre“ erscheint mir allzu glatt. Nicht erwähnt wird die ‚Feindschaft’ des Christentums gegen das „Habenwollen“ als Reich des Bösen über nahezu ein Jahrtausend („eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich“), die im kirchlichen „Armutsstreit“ mündete und erst durch Thomas von Aquins Rezeption des ‚Heiden’ Aristoteles ermäßigt wurde. Thomas sah das private Eigentum, nach dem „Sündenfall“, unter gewissen Umständen und unter Beachtung ethischer Regeln als gerechtfertigt an. Und noch bis heute schwelt in der katholischen Soziallehre der Streit um die Legitimität des Privateigentums, wie er nicht zuletzt jüngst von Papst Franziskus wieder befeuert wurde („Diese Wirtschaft tötet.“). Meines Erachtens hätte die Darstellung dieser Begründungsaporien und Kontroversen zwischen Privateigentum und Seelenheil dem Leser die christliche Soziallehre durchaus nähergebracht.

Höchst informativ hingegen ist das Kapitel über die „Arbeitstheorie“, die John Locke und den Libertarismus umfasst. Die Autoren zeigen, dass Lockes Theorie, das Privateigentum auf die Arbeit zu gründen, durchaus komplexer und voraussetzungsreicher ist, als sie üblicherweise verstanden wird. Überzeugend jedenfalls ist die Deutung, dass Locke sowohl die Arbeit als auch den Genuss ihrer Früchte als eine ethisch-religiöse Veranstaltung verstanden hatte, um das Gute und Gerechte in der Welt zu mehren. Sie macht damit nicht nur die ethischen Regeln deutlich, denen der Eigentumserwerb bei Locke unterliegt, sondern auch den kulturellen Hintergrund seiner Eigentumstheorie, der es den „heidnischen Wilden“ schlicht absprach, überhaupt Eigentümer ihres Grund und Bodens sein zu können. Diese ethischen Gemeinwohlziele und -schranken sind jedoch bei den heute wieder populär gewordenen Libertaristen gefallen. Für sie bedeutet Eigentum das Recht, alles zu tun, was die Rechte anderer nicht verletzt. Eingriffe des Staates zugunsten des Gemeinwohls etwa durch Steuern sind daher schlicht Diebstahl. Mit Recht konstatieren die Autoren, dass die gegenwärtige Eigentumstheorie solch reflexionslosen Behauptungen nur „mit großer Skepsis“ (68) begegnet.

Ähnliche Vorbehalte durchzieht auch die Darstellung der utilitaristischen Theorien, die gleichfalls simpel, aber wirkungsvoll das Recht aufs Privateigentum mit dem „Wohlstand“ verbinden. Sie greifen dabei auf Aristoteles’ umstrittenes Argument zurück, dass eine Ordnung des Privateigentums effektiver als eine des Gemeineigentums sei. Und da nach Jeremy Bentham Maß und Ziel alles menschlichen Strebens der Nutzen oder die Wohlstandsmehrung sei, sei das Recht auf Privateigentum das beste Mittel, diesen Wohlstand zu befördern. Diesem Kurzschluss halten die Autoren die Einsichten der „Neuen Institutionenökonomik“ entgegen, die hinsichtlich der unterschiedlichen Güter durchaus differenzierter argumentiert und die Effizienz von privaten, gemeinschaftlichen und öffentlichen Eigentumsformen untersucht und diskutiert.

Originell und zugleich gründlich ist die Darstellung der Theorie von Hegel unter dem Titel „Eigentum als Widerspruch“. Sie zeigt, wie sehr für Hegel die Eigentumsfrage in seine Gesamtphilosophie eingebettet ist, in der das Vernünftige wirklich, das Wirkliche aber – letztlich – auch vernünftig ist. Ausgangspunkt seiner Eigentumstheorie ist die „Idee der Freiheit“. Freiheit, das Prinzip des Geistigen, aber ist für ihn nicht nur ein Inneres, sondern hat notwendig auch eine äußere Sphäre ihres Daseins. Eigentum ist insofern die Verfügungsmacht der (freien) Person über Äußeres. Doch diese „Person“ ist für Hegel nichts Fertiges, sondern schreitet durch ihre inneren Widersprüche vom abstrakten Ich zum konkreteren Wir fort. In diesem Sinne beginnt Hegel mit der einfachen und abstrakten Form des Rechts als Privateigentum, als des exklusiven Rechts des Individuums, von seiner Sache einen freien Gebrauch zu machen. Jedoch weist der innere Gegensatz dieses Rechts von privater Inklusion und sozialer Exklusion über diese Eigentumsform hinaus. Im Familieneigentum als höherer Form des Sittlichen sieht Hegel diesen Gegensatz aufgehoben: an die Stelle des abstrakten Individuums tritt das Kollektiv der Familie als Rechtsperson und Eigentümer. Doch auch diese partikulare Form löst sich schließlich auf in der höheren Form eines gesellschaftlichen Eigentums. Für Hegel ist also letztlich die ‚bürgerliche Gesellschaft’ erst die wahrhaft freie Rechtsperson, die, gleichsam als ‚Obereigentümer’, durch die staatliche Gesetzgebung sowohl den Inhalt als auch die Grenzen des privaten Eigentums und des Erbrechts – möglichst widerspruchfrei – regelt.

Diese logisch-systematische Entwicklung des Eigentums als „Idee der Freiheit“ verbindet Hegel zugleich mit der historischen Genese, nach der zunächst Einer, der Despot, freier Eigentümer war, dann Einige, die Adligen, frei waren und schließlich wir alle, als Bürger, frei geworden sind. Die Freiheit der Person, so Hegel, habe vor anderthalbtausend Jahren „durch das Christentum zu erblühen angefangen … Die Freiheit des Eigentums aber ist seit gestern … Ein Beispiel aus der Weltgeschichte über die Länge der Zeit, die der Geist braucht, um in seinem Selbstbewusstsein fortzuschreiten – gegen die Ungeduld des Meinens“ (129).

Bekanntermaßen hat sich auch Karl Marx gegen jene „Ungeduld des Meinens“ gewandt, die als „utopische Sozialisten“ das bestehende Privateigentum kritisierten, um die „wahre“ oder „menschliche“ Eigentumsordnung zu ersinnen. Doch von diesem Vorbehalt ist in der Darstellung von Marx’ „Kritik des Eigentums“ nichts zu spüren. Er wird recht umstandslos eingereiht in eine ethisch motivierte Kritik des Privateigentums, die zugleich Konzepte eines „wahren Sozialismus“ entwarf. Und in der Tat gibt der junge Marx mit seiner Kritik der Entfremdung und Ausbeutung genügend Stoff für eine solche Lesart. Doch für den Verfasser des „Kapitals“ trifft sie nicht mehr zu. Man sollte es meines Erachtens ernst nehmen, wenn Marx dort die „Ausbeutung“ durchaus nicht moralisch bewertet, sondern sie analytisch erklärt. Die zentrale Einsicht für diese Erklärung – um die er lange gerungen hatte – war, dass dem Arbeiter nicht – ungerechter Weise – der Lohn für seine Arbeit vorenthalten wird, sondern dass er – gerechter Weise – für den Wert seiner Arbeitskraft bezahlt wird. Daher gehe auf dem Arbeitsmarkt alles mit rechten Dingen zu: Der Arbeiter erhält den Lohn für die Erhaltung seiner Arbeitskraft – der Kapitalist erwirbt den Gebrauch seiner Arbeitskraft. Dass der Wert, den ihr tatsächlicher Gebrauch dann schafft, größer ist als ihr eigener Wert, „ist ein besondres Glück für ihren Käufer, aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer“ (208) … die Gesetze des Warentauschs (sind) in keiner Weise verletzt. Äquivalent wurde gegen Äquivalent ausgetauscht“ (209).

Die Aneignung der Mehrarbeit oder des Mehrwerts durch den Kapitalisten ist für Marx also „durchaus kein Unrecht“. Ja, er begreift diese kapitalistische Eigentumsform geschichtlich als progressives Element zur Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, die jedoch ihre immanenten Gegensätze und Widersprüche hervorbringt, die erst im Rahmen einer geschichtlich ‚höheren Gesellschaftsformation’ gelöst werden können. Wie sich eine solche Gesellschaftsformation freilich in concreto organisieren wird, das könne nicht, so betonte Marx immer wieder, sein eigenes (theoretisches) Werk, sondern müsse das (praktische) Werk der Arbeiterklasse selbst sein, das er bestenfalls, zeit seines Lebens, beratend begleiten könne.

Wenn die Autoren daher die Auffassung vertreten, Marx’ „emanzipatorische Bedeutung des Eigentums“ bestehe darin, dass der Mehrweit „zu Unrecht angeeignet (wird), weil er das Eigentum des Arbeiters ist, der ihn produziert“ (154), dann wird der historische Materialist Marx flugs in einen naturrechtlichen Lockeaner, vielleicht auch Smithianer, umgedeutet. Die geschichtsphilosophische Pointe seiner Eigentums- und Kapitaltheorie wird damit jedoch verfehlt.

Überraschend, aber durchaus nachvollziehbar ist im Folgenden die Einordnung der Theorien von Hobbes, Kant und Rawls unter dem Begriff der „Demokratisierung des Eigentums“, da doch der Hobbes’sche „Leviathan“ auf den ersten Blick nichts mit Demokratie zu tun hat. Doch die Autoren arbeiten heraus, dass für Hobbes das Recht auf privates Eigentum kein natürliches Recht ist, sondern dass es auf einem ursprünglichen Gesellschaftsvertrag gründet, in dem die Menschen ihr natürliches, aber bedrohtes Recht auf alles zugunsten des Schutzes ihres privaten Eigentums durch den starken Staat aufgeben. Es ist damit zwar der Staat, der souverän über „Gestalt, Grenzen und Schranken der Eigentumsrechte“ (180) bestimmt, aber er muss zugleich den Schutz dieser Rechte garantieren. Die Autoren nennen Hobbes einen „Wegbereiter der Demokratie wider Willen“ (182), weil für ihn jeder Bürger das Recht auf Eigentum und dessen Schutz hat. Ähnlich argumentiert Immanuel Kant insofern, als für ihn das Recht auf „das Meine“ zwar der reinen Vernunft entspringt, dass aber seine Geltung auf dem „vereinigten Willen des Volkes“ (195) gegründet ist. Denn weil „das Meine“ zugleich den Zugang anderer ausschließt, kann diese Ausschließung nur gerechtfertigt sein, wenn ihr alle zustimmen. Dies aber bedeutet, so die Autoren, dass für Kant das Recht auf privates Eigentum seine Legitimität nur dann besitzt, wenn alle – im Unterschied zu Hobbes – demokratisch an der Gesetzgebung teilhaben können. So gesehen macht Kant also die Legitimität der Eigentumsrechte von der demokratischen Verfassung des Staates abhängig. Über diese Argumentation hinaus geht John Rawls, der diesen vertragschließenden und gesetzgebenden Willen seinerseits an Prinzipien der Gerechtigkeit bindet. Für ihn ist eine Eigentumsordnung nur dann gerechtfertigt, wenn sie diese Prinzipien nicht verletzt bzw. ihnen entspricht. Dies gilt nach Rawls zum einen für eine privatwirtschaftliche Eigentumsordnung, insofern sie mit einer effektiven staatlichen Sozialgesetzgebung verbunden ist, und zum anderen für eine gemeinwirtschaftliche Eigentumsordnung, die zugleich mit demokratischer Mitbestimmung verbunden ist. Rawls, entgegnen die Autoren, mache so den Eindruck, als wären in gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht eine ‚soziale Marktwirtschaft’ und ein ‚demokratischer Sozialismus’ „gleichwertig“ (211). Argumentiere man jedoch „werttheoretisch“, wonach das Eigentum durch die eigene Leistung gerechtfertigt ist, müsse hinsichtlich der gesellschaftlichen Produktion das Gemeineigentum den Vorrang vor dem Privateigentum haben. „Rawls’ Einsicht, dass es keine politische Demokratie ohne Demokratisierung der Wirtschaft gibt“ (212), weise über sich hinaus: „Die Demokratisierung des Eigentums findet seine Fortsetzung im demokratischen Sozialismus, in dem das Wirtschaftseigentum in Gestalt von Gemeineigentum demokratisiert wird“ (ebd.).

In diesem Kapitel zeichnen die Autoren so ein historisch-systematisches Bild von der „Demokratisierung des Eigentums“, das mit Hobbes’ Modell der Garantie des Privateigentums durch den absolutistischen Staat beginnt, das mit Kants republikanischem Modell einer allgemeinen Zustimmung der Eigentumsrechte und mit den Rawls’schen Modellen der beiden sozialen Eigentumsordnungen weitergeführt wird, um schließlich im Modell eines demokratisch organisierten gemeinschaftlichen Eigentums zu münden.

Abschließend werden als „Ausblicke“ noch die weiterreichenden Fragen erörtert, wem die Daten gehören, wem die Stadt und wem die Natur gehört. Dabei machen die Autoren keinen Hehl, dass für sie letztlich Formen des kollektiven Eigentums die angemessenen Rechtsverhältnisse sind, unter denen die Probleme der Digitalisierung, des städtischen Lebens und des Naturschutzes als lösbar erscheinen.

Trotz der formulierten Einwände gibt das Buch durch seine klare Strukturierung einen ausgezeichneten Überblick über die historisch unterschiedlichen Begründungen des Eigentums in ihrer jeweiligen Zeit sowie eine gehaltvolle Einführung in die auch heute relevanten Theoriegebäude über das, was jeweils als Eigentum verstanden wird, und wie es begründet und gerechtfertigt werden kann. Es ist ihm zu wünschen, dass es dazu beiträgt, das Pro und Contra in den gegenwärtigen Debatte ums Eigentum begründeter und argumentativer führen zu können.

Horn – Klima. Eine Wahrnehmungsgeschichte

Eva Horn

Klima. Eine Wahrnehmungsgeschichte

geb., 608 Seiten, 8 Farb- und 23 S/W-Abbildungen, 34,- €

Frankfurt/Main 2024 (Fischer-Verlag)

von Olaf Sanders

Eva Horn beginnt ihre Wahrnehmungsgeschichte mit einer kleinen Erzählung von einem Besuch im PS1, einem Museum für zeitgenössische Kunst im New Yorker Stadtteil Queens, das seit der Jahrtausendwende zum Museum of Modern Art gehört. Schaut man sich das Museum auf Google Maps an, so sieht man das geöffnete Dach, das den Himmel freigibt in James Turrells Installation Meeting von 1986, die im Bildteil von Horns Buch auch abgebildet ist. Als Horn den Raum betritt, sitzt niemand auf den Bänken des „sehr hellen und überraschend kalten Raum[es]“ (9). Horn vermutet, dass die Heizung ausgefallen sei, bis ein Vogel durch das Bild fliegt und ihr auffällt, dass das Bild der blaue Himmel über ihr ist. Wie bei vielen Installation Turrells entpuppt sich das Bild als diffuser Raum. Turrell führt einen gleichsam zwischen die Dimensionen – und dieses Anliegen scheint Horn mit ihm zu teilen, indem sie eine verlorengegangene Dimension wieder hinzuzufügen versucht: „Dieses Buch ist der Versuch, das Klima aus genau jener sinnlichen, kulturellen und historischen Perspektive in den Blick zu nehmen, die dem naturwissenschaftlichen Zugang fehlt“ (16).

Es geht ihr also um die Wiederergänzung dessen, was der auf Messdaten und Evidenz basierenden Klimaforschung fehlt und durch deren Dominanz im Klimadiskurs marginalisiert wurde bzw. aus ihm weitgehend verschwunden ist. Dieses Bild möchte Horn durch eine „Aisthesis des Klimas“ (21) vervollständigen, die „auf ästhetische Darstellungen angewiesen“ ist. Obwohl sie gleich im Anschluss einen Ausspruch des englischen Malers William Turner zitiert, spielen jedoch bildende Kunst, Film, Architektur oder Musik im Vergleich zur Literatur eine deutlich geringere Rolle.

Im ersten Kapitel fragt Horn, was Klima gewesen ist, bevor es das „durchschnittliche Wetter“ wurde. Sie kehrt dafür zu Hippokrates zurück, für den Heilung mit dem Verständnis des Einflusses des Orts auf die ins Gleichgewicht zu bringenden Körpersäfte verbunden gewesen sei, und zu Vitruv, der die medizinische Perspektive mit der geographischen verbunden habe, die sich noch in den „Klimazonen“ ausdrückt. Die Luft erweist sich als planetares Medium. Von der meteorologischen Medizin legt, wie Horn eingangs des zweiten Kapitels zeigt, noch Flauberts Roman Madame Bovery Zeugnis ab. Die Konstanz der klimatischen Verhältnisse werde durch Winde dynamisiert, die „invasiv, gewalttätig, reinigend und zerstörerisch“ (69) sein können und „kulturhistorisch also einen zweischneidigen Ruf“ (71) haben. Winde transportieren Miasmen, „schädliche Ausdünstungen des Bodens oder stehender Gewässer, Produkte von Fäulnisprozessen oder stark riechende Substanzen, Exhalationen von Menschen und Tieren“ (74) , die lange als „‚Befleckung‘ der Luft“ (75) und Verursacher von Epidemien galten. Noch in Manns Novelle Der Tod in Venedig geht Gustav von Aschenbach als „Meteopath“ (75) zugrunde, obwohl Robert Koch den Cholera-Erreger längst als aquatisches Bakterium identifiziert hatte. Dessen ungeachtet zeigt die Covid-19-Pandemie, dass „Luftkrankheiten“ nie ganz verschwunden waren. Im dritten Kapitel rekonstruiert Horn die Genese einer thermischen Anthropologie, die zur Stereotypenbildung bis zum Rassismus in Kultur- und Kolonialgeschichte beigetragen haben.

Im vierten Kapitel wendet sie sich Herder zu, der den Menschen in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit als „‚Zögling‘ des Klimas beeinflusst, aber nicht determiniert“ (163) sah und die „Sklaverei als klimatisches Verbrechen“ (172) bestimmt hatte. Flankiert wird dessen Auffassung durch Alexander von Humboldt, für den, wie er in Kosmos ausführt, „die Einheit des Menschengeschlechts“ (164) in ihrer ganzen Diversität „jeder unerfreulichen Annahme von höheren und niederen Menschenracen [widerstrebt]“ (ebd.). Horn zeigt sich als große Kennerin der Kolonialliteratur, wobei sie vor allem Louis Couperus’ Roman Die stille Kraft, der auf deutsch kaum noch zugänglich ist, einer ausführlichen Analyse unterzieht. In seinem Roman wirkt das „koloniale Klima“ als „anti-kolonialer Widerstand ohne Subjekt“ (191), der die Akklimatisierung der Niederländer in Indonesien verunmöglicht. Als theoretische Zeugen für die Wirkung des Animismus’ ruft Horn vor allem Davi Kopenawa und Eduardo Viveiros de Castro auf. Aus systematischer Hinsicht wäre hier als Anschluss an das Projekt von Herder und Humboldt – auch im Hinblick deren Aktualisierung, die Horn mitbetreibt – ein Bezug auf die großen Bücher von Philippe Descola Jenseits von Kultur und Natur und Die Formen des Sichtbaren wünschenswert gewesen.

Das umfangreichste fünfte Kapitel trägt den Titel „Himmel – Erde – Luft: Die Atmosphäre“ und untergliedert sich in drei Unterkapitel, die bereits behandelte Themen vertiefen. Horn beginnt mit der kontrastierenden Analyse zweier Luftreisen anhand des Gedichts des indischen Dichters Kalidasa Wolkenbote und Jules Vernes Abenteuerroman Fünf Wochen im Ballon. Während das Gedicht „den Himmel mit der Erde, Götter und Göttinnen mit den Menschen, das Wetter mit dem Leben, Liebende und Geliebte“ (213) verbinde, „erscheint die Meteorologie im Roman als ein regelhaftes Feld des Wissens, das man überschauen und beherrschen kann wie die erstaunlich unfallfreie Mechanik des Ballons“ (216). Später (284) bezeichnet sie das Feld auch als „navigierbaren Raum“, den Lev Manovich, der hier nicht als Referenz dient, als symbolische Form auffasst. Auf der Suche nach einer „Lehre vom Schwebenden“ kehrt Horn erst mal zu Aristoteles und Virgil zurück, um die Atmosphäre „als erdgebundene Dampf- oder Gashülle“ (225) zu fassen, in der wir dann Torricelli zufolge „eingetaucht auf dem Grund eines Meeres von elementarer Luft“ leben. „‚Wie die Fische im Wasser“, so der Physiker Otto von Guericke, „leben und bewegen sich die Landwesen in diesem Luftmeer“ (ebd.). Die Metaphorik der Physiker situiert den Menschen „im Inneren eines Mediums, das ihn umfängt“ (229). Als dazu passende „Medientheorie“ führt Horn Barthold Heinrich Brockes Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott ins Feld, die sie ein weiteres Mal zu Herder und Humboldt zurückführt, diesmal im Hinblick auf die Unterscheidung von Mikro und Makro. Während Herder doch eher auf die „Local-Bestimmung“ (238) oder „das Singuläre“ (247) mit dem Menschen als Mittler(em) setzt, führt Humboldts globale Datensammelpraxis zu einer ersten Isothermen-Weltkarte (242), die als wichtige Vorarbeit zur Abstraktion des durchschnittlichen Wetters gelten kann. Später verteidigt Horn Herder auch noch gegen Kants Kritik unzureichender Systematizität und stellt ihn ins Gefolge Spinozas (425 f.).

Die „Mathematisierung der Meteorologie“ (261), so Horn, verunmöglicht zusehends ein Denken von Wolken als Übergänglichem, wie Goethe es noch zu denken versucht und es auch in der Opazität des Dampfes auf Turners Schneesturm-Gemälde (auch im Farbbildteil abgebildet) oder Adalbert Stifters Schneesturm-Beschreibung in Aus dem bairischen Walde zur Darstellung kommt. Turners Freund John Ruskin erkennt im Rauch dreißig Jahre nach Turners Gemälde nur noch ein industrielles Abfallprodukt, das als „Medium nun verdorben, ästhetisch zweideutig und atmosphärisch vergiftet“ (275) erscheint. In dieser Zweideutigkeit verschränken sich Innen- und Außenwelt. Wie dies geschehen kann, illustriert Horn am Beispiel von Zolas Roman Ein Blatt der Liebe. Der Verlauf der unmöglichen Liebe korrespondiert den Jahreszeiten, die Luft bringt den Tod wie bei Mann. Schließlich normalisiert sich das Wetter, während die Welt aus den Fugen gerät, wie Horn am berühmten Anfang von Musils Der Mann ohne Eigenschaften erläutert, der, wie sie zeigt, meteorologisch vollkommen sinnlos ist und so umso trefflicher auf die Sinnlosigkeit des Ersten Weltkriegs vorausweist, nach dem „die planetarische Perspektive“ nicht mehr abgewiesen werden kann.

„Herders und Humboldts Idee vom Klima als Systemzusammenhang wird nun mathematisch modelliert“ (293). Die Erdsystemforschung etabliert sich; und John Lovelock und Lynn Margulis entwickeln die Gaia-Theorie. Die kleine Tour de Force durch das noch vergleichsweise junge Genre der Climate Fiction, kurz: Cli-Fi, die den Menschen das abstrakte Klima-Geschehen wieder sinnlich erfahrbar machen soll, endet bei Philipp Weiss’ fünfbändigem Welt-Roman Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen, dessen Besonderheit darin besteht, das Weiss mit diesem Roman auch ein literarisches Form-Experiment wagt und das „Modell von stabilisierender Selbstregulation“ auflöst, weshalb am Ende wenig zu lachen bleibt.

Mit dem sechsten Kapitel setzt Horn in der Reflexion des Zusammenhangs von Zeit und Klima neu an. Sie beschreibt zunächst, wie die Jahreszeiten ihre ordnende Rolle verloren haben, die sie von der Antike bis zur Aufklärung innegehabt hatten. Hier hätte sich als Vergleich zu Poussins Jahreszeiten-Zyklus (ebenfalls im Bildteil) auch Philipp Otto Runges Die Zeiten angeboten; aber die Romantik spielt in Horns Buch insgesamt eine eher geringe Rolle. Die Zeit reicht, wie sie sehr plausibel schildert, als Tiefenzeit weiter zurück als der Mensch. In ihr treten Menschen- und Naturzeit auseinander. Mit Brechts Gedicht Über das Frühjahr läutet Horn dann die Epoche des Menschen ein, in der die Menschenzeit vorherrschend wird: das Anthropozän, das uns an unsere „Verantwortung für eine tiefe Zukunft“ (396) erinnert. Zu Beginn des siebten Kapitels stellt Horn fest, dass es angesichts des menschengemachten Klimawandels selbstverständlich sei, dass das Klima Gegenstand von Politik wird. Im Anschluss an Latour, der dafür plädiert, „die unausweichliche Verbundenheit des Sozialen mit dem Terrestischen wieder zum Gegenstand von Politik zu machen“ (407), schlägt sie vor: „Statt ‚Erdverbundenheit‘ könnte man also auch ‚Luftverbundenheit‘ sagen“ (407). Diesen Konjunktiv gibt sie jedoch nach und nach auf. Vorher zeigt sie noch nach ausführlicher Analyse von Stifters Brigitta und Wilhelm Raabes Pfisters Mühle wie sich das „Klima als schlechthin Gemeinsames“ (452) – oder mit Canetti, den sie zweimal anführt, die Luft als „letzte[r] Allmende“ (u.a. 506) – sozusagen in Luft aufgelöst habe. Im achten Kapitel rekapituliert Horn erst die Strategien der Klimawandelleugnung und schlägt dann nach einer längeren Auseinandersetzung mit Kim Stanley Robinsons Das Ministerium für die Zukunft vor, auf politische Verhandlungen und leichte Militanz zu setzen, wie es im Kampf der Erdverbundenen vor allem auch Ende Gelände praktiziert und Andreas Malm auch schon in Wie man eine Pipeline in die Luft jagt vorgeschlagen hat. Im letzten Kapitel votiert sie abschließend für Luftverbundenheit als zeitgemäße Form des „Involviert-Sein[s]“ (506): „Luftverbunden zu sein, bedeutet, in einer Welt zu sein in der alles fließt, aber nichts verlorengeht, in der alle einen Atem teilen, gemeinsam wirbelnd in der Strömung des Luftmeeres.“

Horns vorgenommene Ersetzung von Latours Erdverbundenheit durch Luftverbundenheit halte ich für falsch. Meines Erachtens führt Erd- und Luftverbundenheit weiter, und – gemäß des guten alten Und-und-und von Deleuze/Guattari – wie es im „Luftmeer“ auch schon anklingt, Meer- oder Wasserverbundenheit. Diese drei Verbundenheiten bilden einen borromäischen Knoten, dessen zweiten Strang Horn materialreich in Erinnerung ruft und für die Zukunft fassbar macht.

Hier lässt sich weiterdenken. Zwar zitiert sie Gernot Böhmes Plädoyer Für eine ökologische Naturästhetik aus dem Jahr 1989, aber es wird so wenig aktualisiert wie Herders Ideen. So bleibt Horn die angekündigte die Klimaforschung ergänzende Ästhetik bzw. eine umfassendere Aisthetik des Klimas, zu der sie fraglos sehr umfassende und bedeutende Studien vorgelegt hat und mit dem vorliegenden Buch historisch informiert die Richtung weist, noch schuldig.

Hermann Krings – Philosophie zwischen Anpassung und Selbstbehauptung

Die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus wurde bald nach seinem Zusammenbruch kritisch aufgearbeitet. Ebenso die Rolle der Justiz. Über die Anpassung der Philosophie ans Hitler-Regime herrschte dagegen – abgesehen von prominenten Einzelfällen (Heidegger, Rosenberg) – lange Zeit Stillschweigen. Die Behandlung der „Philosophie im Faschismus“ im WIDERSPRUCH (Heft 13, 1987) war damals eine, auch von Massenmedien anerkannte, Pionierleistung. Dokumentiert und kritisiert wurden nicht nur das philosophische Lehrangebot der LMU München (1933-1945), sondern auch die einschlägigen Publikationen zur Philosophie in dieser Zeit. Ergänzt wurden die Beiträge durch ein Interview mit Hermann Krings (1913-2004), der die Vorgänge an der Münchner Universität aus nächster Nähe erlebt hatte.

Hermann Krings war von 1968 bis 1980 Ordinarius des philosophischen Lehrstuhls II an der LMU. Zur selben Zeit war er Vorsitzender des Deutschen Bildungsrats, Generalsekretär der Görres-Gesellschaft und Herausgeber des Philosophischen Jahrbuchs. An die Münchner Universität kam er bereits 1936, als Student. Er folgte seinem Lehrer und späteren Doktorvater Fritz-Joachim Rintelen, der in diesem Jahr auf den Konkordats-Lehrstuhl berufen wurde. Sein soziales Umfeld war die katholische Studentenverbindung Rheno-Bavaria sowie der katholische Hochland-Kreisum den Schöningh-Verlag. In dieser Zeit war Krings auch eng mit dem Psychotherapeuten und katholischen Religionsphilosophen Fritz Leist und dem Mediziner Willi Graf befreundet, über die er in Verbindung zur Widerstandsgruppe der Weißen Rose um die Geschwister Scholl stand. Aus dieser Perspektive beobachtete und beurteilte er die zunehmende Politisierung der Philosophie während des Nationalsozialismus.

Nicht zur Sprache im Interview kam ein Ereignis, das durch den späteren Inhaber des Konkordatslehrstuhls Max Müller und seine Sekretärin Fräulein Ries verbürgt ist. Hermann Krings wohnte nach der Verhaftung von Willi Graf im Februar 1943 in dessen Schwabinger Wohnung in der Mandlstraße. Dort entdeckte im Schlafzimmer unter dem Bett das Gerät, mit dem Hans und Sophie Scholl die Flugblätter gedruckt hatten, die zu ihrer Verhaftung und schnellen Hinrichtung führten. Die Hinrichtung von Willi Graf, der in Gefängnis Stadelheim einsaß, wurde dagegen noch Monate hinausgeschoben, da die Gestapo hoffte, Geständnisse und Hinweise auf die Widerstandsbewegung herauspressen zu können. In dieser Situation ließ Krings das corpus delicti verschwinden: Er zerlegte die Druckerpresse in Einzelteile und versenkte sie im nahegelegenen Eisbach, einem Seitenarm der Isar.

Die Philosophie zwischen Anpassung und Selbstbehauptung. Gespräch mit Prof. Hermann Krings

Widerspruch: Herr Prof. Krings, Sie sind 1936 an die Münchner Universität gekommen. Was war der Grund, dass sie von der Bonner Universität nach München wechselten?

Krings: Der Wechsel von Bonn beruhte darauf, dass Fritz-Joachim von Rintelen, der schon in Bonn den Konkordatslehrstuhl innehatte, hier auf auf den Lehrstuhl von Joseph Geyser berufen wurde, unter anderem aufgrund seines Buches über den Wertbegriff im Mittelalter und auch, weil er auf diesem Lehrstuhl für die Nazis akzeptabel war. Das hatte auch einen familiären Hintergrund bei von Rintelen. Sein Vater war General gewesen; einer seiner Brüder war Leiter der außenpolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt, ein anderer Militärattaché in Rom. Dieser familiäre Hintergrund war sicher auch ein Moment, warum man ihn damals noch akzeptierte. (Das hat dann drei Jahre gedauert.) Ich hatte schon in Bonn in meinen ersten vier Semestern Philosophie bei ihm gehört; wir hatten auch persönlich Kontakt, und er fragte mich dann, ob ich nicht später bei ihm promovieren wolle. So bin ich dann mit ihm hierher gekommen und begann gleich mit der Arbeit an meiner Dissertation.

Hier traf ich eine Gruppe, die sich aus ehemaligen Quickbornern und ehemaligen Mitgliedern des Bundes ,,Neudeutschlands“ zusammensetzte. Der Wortführer dieser Gruppe war Fritz Leist. Im WS 1936/37 haben wir uns kennengelernt. Wir saßen im Bibliotheksraum des philosophischen Seminars I, ich hinter einem Packen von Thomas-Bänden, er hinter einem Packen von Thomas-Bänden, die wir austauschten. Auf diese Weise lernten wir uns kennen.

Widerspruch: War die Möglichkeit, in solch einen schon bestehenden Kreis zu kommen, damals so einfach?

Krings: Das war kein Problem, da gab‘s eine gemeinsame Sprache, das war innerhalb von zehn Minuten klar. Wir kriegten dann hier auch noch Kontakt mit einer Gruppe aus der Kaulbachstraße, aus einer der aufgelösten Gruppen des Bundes „Neudeutschland“. Die Gruppe um Leist rekrutierte sich im großen und ganzen aus dem Saarland und München. Fritz Leist war vorher in Freiburg gewesen, und dieses Dreieck Saarland-Freiburg-München bildete den Rahmen. Innerhalb der Leute aus dem Saarland war auch Willi Graf. Kennengelernt habe ich ihn bei einem Treffen um die Jahreswende 1936/7 auf einer Burg im Odenwald, sie war eine Art Jugendburg; das ging damals noch. (Übrigens der spiritus rector war damals Aloys Goergen.)

Widerspruch: Gab es damals nicht auch die Gruppe „Hochland“?

Krings: Ja, aber das ist ein ganz anderer Zweig. Von Rintelen war gut bekannt mit Franz Joseph Schöningh, dem damaligen Herausgeber von „Hochland“, und der Hochlandkreis traf sich an zwei oder drei Mittagen um 2 Uhr in einem Café am Odeonsplatz. Dahin kamen auch Theodor Haecker, Joseph Bernhart und einige andere Literaten.

Widerspruch: Wie stark wirkte der Hochlandkreis denn auf die Ideenbildung an der Universität?

Krings: Praktisch nicht. „Hochland“ wirkte in die katholischen Akademikerkreise hinein, aber für die Universität ist er kein Faktor gewesen.

Widerspruch: Können Sie über die damalige Situation an der Universität etwas sagen? Sie hatten einmal angedeutet, dass sie für die jüngere Generation nicht mehr recht nachvollziehbar sei.

Krings: Die Universität ist erst durch den NS-Studentenbund politisiert worden. Das hatte ich schon 1935 in Bonn erlebt, wo, wenn sich mal irgendwo ein Protest meldete, der betreffende Student gleich rausgeschmissen wurde. Das waren Massenveranstaltungen; in der Universität selbst war für politische Diskussionen kein Raum. In München bestand noch, und zwar durchaus aktiv, eine Gruppe des Älteren-Bundes ,,Neudeutschland“.

Widerspruch: Hat sich das Lehrangebot an der Universität geändert?

Krings: Praktisch nicht. Von Rintelen hat einmal eine Mittelalter-Vorlesung unter dem Titel ,,Albert der Deutsche“ angekündigt, anstatt ,,Albert der Große“; aber er hat dort mittelalterliche Philosophie vorgetragen. Aloys Wenzl ist ja schon 1936, soviel ich weiß, von der Uni geflogen, wurde dann wieder Studienrat, war dann zuerst in Schwabing am Gymnasium, wurde dann aber auch aus München verwiesen und war dann Lehrer in Ingolstadt. Insofem erscheint sein Name natürlich nicht mehr in den Vorlesungsverzeichnissen.

Widerspruch: Haben Sie noch in Erinnerung, wie von Rintelen ,,beurlaubt“ wurde? Wie hat er das aufgenommen?

Krings: Das wird ein Roman, wenn ich Ihnen das erzähle. Also: von Rintelen hatte gute Beziehungen nach Berlin, und zwar weniger über seine Familie als über eine KV-Verbindung. Da waren ein paar gute Leute in Berlin in höheren Stellungen im Kultusministerium, im Wirtschaftsministerium und so. Er setzte dann seine Verbindungen in Bewegung, um eine Wiederbesetzung seines Lehrstuhls zu verhindern. Es bestanden hier Bestrebungen, aus dem Konkordatslehrstuhl einen Lehrstuhl für nationalsozialistische Weltanschauung zu machen. Ich bin zweimal mit ihm nach Berlin gefahren. Er hat den Gegensatz Preußen – Bayern ausgespielt und den Preußen gesagt, die Bayern wollen da jetzt etwas eigenes machen. Und er hat es tatsächlich fertiggebracht, dass der Lehrstuhl nicht wieder besetzt wurde.

Widerspruch: Eine Frage zur Bibliothek im Institut. Welche Literatur wurde damals angeschafft?

Krings: Da der Lehrstuhl vakant war, mussten die Rechnungen vom Dekan unterschrieben werden. Das war damals der Altphilologe Dirlmeier. Es ist möglich, dass er der Partei angehörte; aber er war ein fabelhafter Mann, der alles gedeckt hat. Darauf war völliger Verlass, auch auf die Sekretärin; das ging prima.

Widerspruch: Gab es keine „Reinigung“ der Bibliothek?

Krings: Nein. Baeumler wurde angeschafft, Rosenberg wurde nicht angeschafft. Die Naziliteratur wurde bei uns nicht angeschafft.

Widerspruch: Trotz Hans Grunsky?

Krings: Das war das andere Seminar und der andere Lehrstuhl; wir waren Konkordatslehrstuhl. Wir haben praktisch nur mittelalterliche Literatur angeschafft. Ich weiß, dass damals die Leibniz-Ausgabe anlief; solche Sachen kosteten schon den halben Etat. Da war überhaupt kein Raum für Nazizeug.

Widerspruch: Haben Sie Grunsky gehört?

Krings: Ja, bei ihm habe ich mehrere Lehrveranstaltungen mitgemacht. Er hat mich auch im Rigorosum geprüft. Grunsky war nicht habilitiert; ob er promoviert war, galt nicht als sicher. Mit der Philosophie hatte er seine Probleme. Übrigens war er behindert, wurde im Rollstuhl gefahren, auch ins Seminar und in sein Zimmer. Er hatte sich zunächst auf Jakob Böhme geworfen und hat dann eine abenteuerliche Vorlesung über Platon gehalten, der im Sinne des Nazi-Führertums interpretiert wurde: der Archont war der Führer, und die Phylakes waren die SS und die SA; dann kam noch der Reichsnährstand. Das trug er in der Vorlesung vor, und so wurde aus Platon der große Philosoph des ,.Dritten Reichs“.

Widerspruch: War das für sie damals schon abenteuerlich?

Krings: Ja, sicher.

Widerspruch; Gab es nicht Äußerungen, dass das nichts mit Platon zu tun hat – wenigstens nach der Vorlesung?

Krings: Ja, unter uns haben wir darüber gesprochen. Ich hatte das große Glück, dass Grunsky, als ich ins Rigorosum kam, gerade dabei war, sich Kant anzueignen. Ich habe Kant dann auch vorgeschlagen und brachte sehr schnell die Rede auf die transzendentale Deduktion. Er ließ mir 20 Minuten Zeit, und ich habe ihm dann die transzendentale Deduktion erläutert. Er hat sich das angehört und mir dann, glaube ich, auch ein ,,sehr gut“ gegeben.

Widerspruch: Es bestand doch ein sehr starkes Interesse, die deutsche Tradition der Philosophie aufzuarbeiten und darzustellen. Haben Sie etwas davon mitbekommen, dass an der Universität mehr und mehr die nicht-deutschen Traditionen, z B. die französische, ausgeblendet wurden, und die deutsche von Meister Eckhardt über Böhme bis zum deutschen Idealismus betont wurde?

Krings: Ja, bei Grunsky war das ganz deutlich, bei den anderen nicht. Kurt Schilling hat eine Vorsokratiker-Vorlesung gehalten, die ganz normal war wie auch die über den deutschen Idealismus. Ich weiß nicht, ob Schilling Parteigenosse war, Es könnte gewesen sein, aber er galt bei uns nicht als Nazi.

Widerspruch: Gab es eigentlich irgendwelche Formen der Auseinandersetzung?

Krings: Nein, die gab’s nicht, sondern es gab eine große Technik der Tarnung.

Widerspruch: Gerade das kann man sich heute nur schlecht vorstellen.

Krings: Ja, aber in dem Moment, wo Sie in irgendeiner Form in eine Auseinandersetzung traten, konnte es sein, dass sie am nächsten Tag schon im KZ waren. – Nun war schon Krieg. Während des Krieges hörten wir ausländische Sender. Es war bekannt, dass Leute wegen Abhörens denunziert worden waren, selbst von Nachbarn, wenn es während der Sendezeiten in den Wohnungen still geworden war. Bei von Rintelen hatten wir einen ganz guten Apparat. Da waren wir zu dritt oder viert, und zwei wurden dann abgeordnet, Krach zu machen, zu streiten, laut zu reden; die anderen saßen unter einer Decke am Apparat und hörten die Nachrichten.

Widerspruch: War das, was die Nazis, was Grunsky oder vielleicht auch Schilling an die Universität bringen wollten, für Sie überhaupt diskussionswürdig?

Krings: Was Grunsky sagte, nicht. Das war nicht diskussionswürdig, das galt bei uns als weltanschaulich nationalsozialistisch. In den Vorlesungen anderer Dozenten kam das Weltanschauliche inhaltlich nicht zur Geltung.

Widerspruch: Hatten Sie Kontakt zu Prof. Kurt Huber?

Krings: Ja. Der Umgang mit ihm war nicht ungefährlich, weil Huber sehr temperamentvoll war. Nach der Vorlesung kam er häufiger ins Seminar, und da gingen dann auch die Diskussionen los, die zum Teil sehr heftig waren. Wir stimmten natürlich mit ihm überein, aber er war dann oft laut. Es gab ja nur eine Tür zum Seminarraum, und wir wussten nie so genau, wer da saß. Es war immer etwas schwierig, ihn auf die Lautstärke herunterzubringen, die nicht gefährlich war. Zum Teil war es auch sehr schwierig, weil er nach unserer Meinung sehr phantastische, irreale Vorstellungen hatte.

Widerspruch: Deutschnationale, idealistische?

Krings: Nein, sondern in Hinblick auf die Möglichkeiten, eine politische Wende herbeizuführen.

Widerspruch: Eine daran anschließende Frage: Heute wird oft gesagt, die Kirchen hätten sich deutlicher angesichts der Judenverfolgungen und anderer Verbrechen zu Wort melden müssen. Hatten Sie damals auch die Vorstellung, dass die noch bestehenden Organisationen Widerstand hätten leisten müssen?

Krings: Organisationen bestanden damals ja nicht mehr. Ich bin einmal beim Katholikentag 1982 gefragt worden – es ging um eine Sache 1940/41 –, warum die Kirchen und die SPD sich denn nicht zusammengetan hätten. Da habe ich gesagt, weil die SPD seit acht Jahren nicht mehr bestand. Ja, aber solche Vorstellungen bestehen heute. Es gab keine Organisation; es gab im Untergrund Kontakte mit Gleichgesinnten. Auch in anderen Schichten bestanden solche Kontakte, in der Arbeiterschaft, auch beim Militär.

Was die Kirche angeht, so kann man zweierlei sagen: erstens, einen lautstarken Protest hätten wir für wenig wirksam gehalten, abgesehen davon, dass solche Proteste sich immer nur auf Gerüchte stützen konnten, außer bei den Euthanasiemaßnahmen. Wichtiger war aber zweitens, dass durch die Hierarchie Kleriker, aber auch Laien zurückgehalten wurden, oder dass es gar als moraltheologisch bedenklich angesehen wurde, Widerstand zu leisten. Das hat uns mehr irritiert, als dass da keine großen Geschichten passierten. Von Aktionen der Kirchen hätten wir uns nichts versprochen. Es wären dann fünfhundert Leute mehr ins KZ gekommen, und die Sache wäre erledigt gewesen. Das ist ja alles für die Nazis kein Problem gewesen. Die Taktik der Kirche war wohl, die Zahl der Opfer in Grenzen zu halten.

Wann man gegen die Judenvernichtung wirklich etwas hätte sagen und machen können oder sollen, ist außerordentlich schwer zu sagen. Ich gehörte zu denen, die, soweit es möglich war, Informationen suchten. Aber die ersten Informationen über Erschießungen von Juden habe ich erst durch Willi Graf erhalten, nachdem er aus Russland zurückgekehrt war. Aber auch er hat nur andeutungsweise davon gesprochen.

Widerspruch: Gab es in den Kreisen, zu denen Sie Zugang hatten, nicht auch Diskussionen über die moralische oder theoretische Begründung von Widerstand?

Krings: Ja, doch muss die Frage wohl für verschiedene Kreise verschieden beantwortet werden. Innerhalb des kleinen Umkreises bei mir in der Siegfriedstraße – das war meine Bude –, war die Diskussion religiös bestimmt. Wir hatten regelmäßige Abende, an denen wir Schriftlesungen machten, das Alte Testament vor allem. Wir haben uns aber auch intensiv mit Literatur beschäftigt; das ist ja auch von Willi Graf und den Geschwister Scholl bekannt. Diese Beschäftigung war auch durch Guardini angeregt worden; sein Hölderlin-Buch war eine wichtige Sache für uns. Dann spielten auch die Sonette von Reinhold Schneider eine Rolle. Sie wurden vervielfältigt herumgereicht, da sie ja damals im Druck nicht erscheinen durften. Jeder hatte sie; es war erstaunlich. Wir haben viele gemeinsame – heute würde man sagen – interne Seminare gemacht.

Widerspruch: Da gab es doch sicher Auslegungs- und Interpretationsfragen …

Krings: Nein, die Texte wurden nicht aktualisiert ( – wie heute allenthalben). Sie waren ein Bollwerk gegen den aktuellen Ungeist. Der Nationalsozialismus war kein Partner für eine geistige Auseinandersetzung.

Widerspruch: Wie kam es eigentlich dazu, dass man dem Nationalsozialismus so freie Hand ließ?

Krings: Dass es keine geistige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gab, hat mehrere Gründe. Zunächst: Es lag uns fern, den Nationalsozialismus auf eine ähnliche Basis zu stellen wie den Sozialismus, obwohl er ja viele sozialistische Züge gehabt hat. Aber man konnte ihn nicht auf die geistigen Grundlagen der sozialistischen Bewegung Anfang des Jahrhunderts zurückführen. – Ferner: Die ganze politische Schubkraft kam aus der negativen Entwicklung der Republik in den zwanziger Jahren. Der Versailler Friedensvertrag galt als das nationale Ärgernis, und die Weimarer Republik war eine Folge dieses Vertrages etc. In den dreißiger Jahren kamen zu den negativen nationalen Emotionen durch die Weltwirtschaftskrise und die riesige Arbeitslosigkeit die wirtschaftliche Not hinzu. Die Auseinandersetzungen fanden zunächst in den Straßenkämpfen zwischen SA und Rotfront statt. Später gingen sie im Massenrausch der Aufmärsche und in der Massenfaszination unter, die von den Reden ausgingen, die unsereiner ohnehin nur mit Qualen anhörte. – Rosenberg spielte in der politischen Bewegung nur eine Randrolle.

Widerspruch: Auch in München?

Krings: Ich habe keine Erinnerung an eine öffentliche Veranstaltung hier mit Rosenberg.

Widerspruch: Es ist ja doch erstaunlich, wie viele Philosophen im Dritten Reich sich den Nazis anschlossen. Wie konnte man dem entgehen? Von Rintelen etwa hat es ja geschafft.

Krings: von Rintelen war von einem nahezu krankhaften Hass auf die Nazis beseelt. Dieser Hass konnte auch gefährlich werden.

Widerspruch: Hat von Rintelen – ebenso wie Sie – damals den Versuch gemacht, den Nationalsozialismus als ,,Herrschaft des Bösen“ zu begreifen?

Krings: Ich kann mich nicht erinnern, dass ich damals die Kategorie des Bösen gebraucht hätte. Das ist ein Interpretationsbegriff, den ich heute im Rückblick auf damals gebraucht habe.

Widerspruch: … aber die Geschwister Scholl hatten in ihren Flugblättern die Nazi-Diktatur mit der ,,Herrschaft des Bösen“ verglichen.

Krings: Ja, das ist schon ein Stück weiter; und es beruhte, wenn ich das recht sehe, auf ihren Erfahrungen im Sommer 1942 in Russland. Ich war nicht in Russland.

Widerspruch: Also gründete ihr Widerstand mehr auf der direkten Erfahrung als auf theoretischer Reflexion …

Krings: Dafür fehlten damals auch Informationen. Man war sich über das Ausmaß von Verbrechertum nicht im Klaren, – das wusste man nicht.

Widerspruch: Und als es bekannt wurde, war die Hauptaufgabe nicht die philosophische Bewältigung.

Krings: Da ging alles schon dem katastrophalen Ende zu: Bombenangriffe, tausendfacher Tod, Hunger … Das Ausmaß der Verbrechen kam erst 1944 heraus, nach dem 20. Juli. Aber dann wusste man auch schon, dass das Ganze in absehbarer Zeit zu Ende sein würde. Und das war das einzige, was einen dann noch beschäftigte.

Widerspruch; Das heißt also, die Frage nach der moralischen oder religiösen Legitimation des Widerstandes wurde nicht gestellt?

Krings: Die Legitimationsfrage spielte in dem Umkreis, in dem ich war, keine Rolle. – Aber abgesehen davon waren wir – hier meine ich wieder den Kreis um Fritz Leist, Emst Müller u. a. – der Meinung, dass jede Aktion sinnlos ist. Ich habe zusammen mit Fritz Leist im Januar 1943 noch ein abendliches Gespräch mit Willi Graf gehabt. Wohlgemerkt: die Flugblätter waren schon da; wir hatten sie auch und wir wussten, woher sie kamen, obwohl es uns niemand gesagt hatte. Auch Willi Graf hatte es uns nicht gesagt, aber er wusste, dass wir es wussten, und wir wussten, dass er es wusste … Dieses Gespräch ist in Schweigen übergegangen, weil er zu der Aktion schon entschlossen war, ja schon mitten in ihr stand. Er hatte ja die bekannte Flugblatt-Reise schon hinter sich, was wir nicht wussten. Wir haben ihm dringend geraten, von diesen Dingen Abstand zu nehmen. Ein Argument war auch, dass wir das Gefühl hatten, dass die Scholls zu wenig Erfahrung mit der Gestapo gehabt hatten. Fritz Leist und auch Willi Graf waren schon 1936 verhaftet gewesen. Es hat einen Prozess in Mannheim gegeben; einige sind verurteilt worden. Durch die Amnestie anlässlich der Besetzung Österreichs kamen sie wieder frei.

Widerspruch: Haben Sie etwas von dem Scholl-Prozess erfahren? Er lief ja innerhalb einer Woche ab.

Krings: Nein. Ich habe nur indirekt etwas mitbekommen, da ich um diese Zeit aus dem Lazarett entlassen wurde und nur sporadisch Kontakt hatte.

Widerspruch: Nach 1945 waren Sie wieder in München. Eine ganze Reihe von Leuten, die an der Universität gelehrt hatten, wie etwa Hans Grunsky, waren wieder da. Empfanden Sie das als selbstverständlich?

Krings: Grunsky war 1946 meines Wissens nicht an der Universität. Einen ausgesprochen ärgerlichen Fall habe ich nicht erlebt. Nun habe ich nur einen relativ kleinen Sektor gesehen. Ich glaube, die auffälligen und gefährlichen Nazis waren weg – also z. B. ein Typ wie Spindler, der Anglist, und auch Wüst, der Nordist. Sie waren nicht mehr da.

Widcrspruch: Fanden Sie Grunsky gefährlich?

Krings: Ja, insofern er ein rückhaltloser Parteigänger gewesen ist. Aber ich glaube nicht, dass er sich die Denunziation zu einer Aufgabe gemacht hat. Das war wohl auch bei seiner körperlichen Verfassung sehr schwierig; er war darauf angewiesen, dass ihm etwas zugetragen wurde. Ich kenne keinen Fall einer Denunziation durch Grunsky.

Widerspruch: Auch von Rintelen hatte Schwierigkeiten, nach München zurückzukehren …

Krings: … das ist ein sehr trauriges Kapitel. Ich habe von Rintelen ja gut gekannt, und er ist wirklich alles andere als ein Nazi gewesen. Aber er hat damals, als er beurlaubt wurde, an das Kultusministerium Verteidigungsschreiben gerichtet und darin auch behauptet, man könne ihm gar nichts vorwerfen, er habe nie etwas gegen den Nationalsozialismus gesagt. Diese Akten wurden dann später herausgeholt. Ich habe noch, ebenso wie auch Fritz Leist, eine eidesstattliche Erklärung für ihn abgegeben. Aber dann kamen unglückliche Umstände dazu, so dass aus seiner Rückkehr nach München nichts wurde. Er war inzwischen Professor der Philosophie an der Universität Mainz geworden.

Widerspruch: Ein Rätsel sind Leute wie Nicolai Hartmann, der bis zum Schluss auf seinem Lehrstuhl in Berlin geblieben war, obwohl aus seinen Schriften nicht erkennbar ist, dass er sich angepasst hätte. Wissen Sie, wie Hartmann das gemacht hat, oder was die Nazis sich davon versprochen hatten, ihn auf dem Lehrstuhl zu belassen?

Krings: Was ich hier geschildert habe, hat sich alles im Umkreis eines Konkordatslehrstuhls abgespielt. An den anderen Lehrstühlen wurde, wenn auch unter starken kriegsbedingten Einschränkungen, weiter gearbeitet, so lange keine antinazistischen Aktivitäten beobachtet wurden. Wenn Kurt Huber nicht in die Aufdeckung des Widerstandes der „Weißen Rose“ hineingekommen wäre, hätte auch er bis zum Ende des Krieges gelesen. Seine Leibniz-Vorlesungen waren qualitative, gute philosophische Vorlesungen ohne irgendeine politische Tendenz, und die hätte er auch noch zwei oder drei Jahre weiter machen können. Für das Militär kam er ohnehin nicht in Betracht. Und so hat es viele gegeben, die einfach dageblieben sind, weil sie nicht aufgefallen sind. Die Berliner Situation habe ich nicht gekannt. Aber Nicolai Hartmann ist sogleich nach dem Krieg Ordinarius in Göttingen geworden; also kann er sich nicht den Nazis angepasst haben.

Widerspruch: Aber was haben sich die Nazis davon versprochen, dass sie ihn oder auch Prof. Huber haben weiterlehren lassen? Sie haben doch auch andere Bereiche der Gesellschaft rigoros auf ihre Linie gebracht.

Krings: Das liegt genau an dem Defizit, warum auch keine Auseinandersetzung mit den Nazis möglich war. Sie hielten diese Art von Philosophie für absolut belanglos und für politisch völlig uninteressant. Wenn die Professoren da von ihrer Metaphysik und Ontologie redeten, so galt das gar nichts. Es musste erst in irgendeiner Form ein anderer, politischer oder weltanschaulicher Faktor da sein, wenn es zu einem Vorgehen kam.

Widerspruch: Heißt das, dass das ursprüngliche Interesse der Nationalsozialisten, die Universitäten in den Griff zu bekommen, scheiterte?

Krings: Ja, aber nicht, weil die Universitäten einen nennenswerten Widerstand geleistet hätten, sondern weil die Universität überhaupt kein Instrument des Nationalsozialismus gewesen ist und auch nicht sein konnte. Nochmals: Der Nationalsozialismus war anders als der Sozialismus. In den sozialistischen Staaten sind die Universitäten und Akademien ein wichtiger Faktor. Für den Nationalsozialismus spielten sie keine Rolle. Sie mussten natürlich ,,gleichgeschaltet“ werden; es kamen nur Leute in Führungspositionen, die Nationalsozialisten waren, und da, wo Weltanschauung hineinspielte, wurde versucht, die nationalsozialistische Weltanschauung zur Geltung zu bringen. Aber auch die Verweisung von Rintelens von der Münchner Universität geschah im Grunde nicht wegen seiner Philosophie, sondern weil er einen Konkordats-Lehrstuhl innehatte.

Widerspruch: Wenn Sie damals eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Ideologie nicht für sinnvoll gehalten haben, würden Sie das heute ebenfalls sagen?

Krings: Für eine philosophische Auseinandersetzung sehe ich nach wie vor keinen Ansatzpunkt. Ich wüsste nicht, auf welche Texte ich mich beziehen sollte. Nennen Sie mir irgendwelche halbwegs ernstzunehmende Texte, die diese absurden Positionen zu begründen versuchen. Das Ganze ist ein historisches Phänomen, mit dem man sich sicher auseinandersetzen muss, auch im Hinblick auf seine politischen, sozialen, auch sozialpsychologischen Gründe. Handelte es sich vielleicht um die Folge einer nicht stattgefundenen Revolution, um den Rückschlag einer Revolutionsbewegung in einer völligen Verquerung? Auch die Hypertrophie des nationalstaatlichen Denkens ist inzwischen ein historisches Phänomen, – wenigstens für Europa.

Widerspruch: Sind Sie also dagegen, philosophiegeschichtliche Traditionslinien in den Nationalsozialismus hineinzuziehen, nach dem Motto: ,,von Hegel bis Hitler“?

Krings: Gewiss gibt es ,,Linien“; das zeigt schon der Name ,,Drittes Reich“. Aber man kann den Nationalsozialismus weder auf Hegel noch auf Nietzsche zurückführen, noch gar einen Kausalzusammenhang herstellen. Der Nationalsozialismus war eine politische Emotion, nicht eine politische Philosophie. – Eine andere Sache ist, dass auch bedeutende Zeitgenossen für diese Emotionen anfällig gewesen sind. Heidegger ist ein Fall und in der Dichtung etwa Gottfried Benn. Doch mit philosophischer Tradition hat das nicht viel zu tun.

Widerspruch: Sind Sie also der Auffassung, die Philosophie habe als geistige Institution die Zeit des Nationalsozialismus passiert, ohne inhaltlich tangiert worden zu sein, – als ,,Philosophia perennis“, die geblieben ist, was sie war?

Krings: Ja, das würde ich schon meinen. Die philosophischen Traditionen, die kantische, nachkantische und neukantianische wie auch die der klassischen Philosophie, sind vom Nationalsozialismus wenig tangiert worden. Der Einbruch in die philosophische Tradition in Deutschland ist nicht von den Nazis gekommen, sondern aus dem angelsächsischen Bereich.

Widerspruch: Nun, wenn man mit geschärftem Auge hinsieht, merkt man doch eine Menge Anpassung und Assimilation.

Krings: Gewiss, da hat sich eine bestimmte Art von Vortrag der Philosophie an den Nationalsozialismus angepasst. Aber es ist nicht so, dass der Nationalsozialismus eine Philosophie im Sinne der europäischen Tradition hervorgebracht oder ihm eine Philosophie zugrunde gelegen hätte.

Widerspruch: Herr Prof. Krings, wir danken für dieses Gespräch.

Für den Widerspruch nahmen an dem Gespräch teil: Wolfhart Henckmann, Alexander von Pechmann und Elmar Treptow.

Fleury – Die Klinik der Würde

Cynthia Fleury

Die Klinik der Würde

geb., 150 Seiten, 24,- €

Berlin 2024 (Suhrkamp Verlag)

von Marianne Rosenfelder

Die westlichen Demokratien haben Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte und Würde verfassungsrechtlich verankert. Doch ist es, wie die Autorin darlegt, besonders um die Würde schlecht bestellt, obgleich der Begriff die sozialen, politischen und ethischen Debatten prägt und seine Anwendung ubiquitär ist.

Die Divergenz von Theorie und Praxis ist eklatant; denn die theoretische Wertschätzung der menschlichen Würde als universeller Grundwert und als Anerkennung der „Singularität und Vulnerabilität der Menschen“ wird konterkariert durch Armut, Prekarisierung und zunehmend entwürdigende Zustände in Institutionen wie Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern, Altenheimen oder Gefängnissen.

Nach Fleury tut sich zudem eine gesellschaftliche Kluft auf zwischen den „Gebern“ von Würde und Fürsorge, die unter saturierten Bedingungen leben, und denjenigen, die ihnen unterbezahlt zu Diensten stehen und dafür meist auch noch unwürdig behandelt werden, – „obgleich alle dieselbe irreduzible und nicht verhandelbare Würde besitzen“ (7). Sowohl in der Arbeitswelt als auch an Orten der sozialen Ausgrenzung gehe es heute primär darum, den mittlerweile üblichen Formen und Methoden der Entwürdigung zu entkommen, die in der Gesellschaft zu einem „gängigen Führungskonzept“ geworden sind.

Fleurys Intention ist es, dem Begriff der Würde wieder zu seinem Recht zu verhelfen. Dazu entwirft sie die Institution einer „Klinik der Unwürde“ (indignité), um die „Ränder und Kehrseite“ der Würde zu untersuchen und Fälle von „Unwürde“ interdisziplinär mittels der Geistes-, Sozial- und medizinischen Humanwissenschaften zu diagnostizieren und zu therapieren.

Würde ist nicht nur eine metaphysische oder ontologische Eigenschaft des Menschen. Der Begriff der Würde bedarf der Materialisierung. Würde bleibt ein leerer Begriff, wird sie nicht an Bedingungen geknüpft wie menschenwürdige Arbeit und Bleibe, Gesundheitsversorgung oder öffentliche und politische Handlungsfähigkeit. Eine Politik der Würde sollte, gestützt auf die Klinik der Würde, Probleme erkennen und ihre Implementierung im Sinne einer sozialphilosophisch verankerten relationalen, auf Interaktion bezogenen Konnotation des Begriffs umsetzen.

Als mögliche Gründe für die Divergenz von Theorie und Praxis des Wertes der Würde nennt Fleury sowohl die Kritik der Aufklärung als auch den westlichen Universalismus. Den Königsweg zur Überwindung des Gegensatzes von formaler und tatsächlicher Würde sieht sie in einer Care- oder Fürsorgeethik, die auf eine höhere Sensibilität für vulnerable Bevölkerungsgruppen sowie für ökologische Gefährdungen durch die industrielle Produktion und Konsumtion ziele.

Fleury umkreist diese Thematik in insgesamt sechs Kapiteln. In Die Zeitalter der Würde skizziert sie die Entwicklung dieses Konzepts. Seit der Antike war dignitas an Verdienst, Ehre, Adel und sozioökonomischen Status gebunden. Pico della Mirandolas Theorie der Selbstbestimmung des Menschen war ein erster Schritt aus dieser Determiniertheit. Die Forderung der Materialisierung der Würde als Zeichen ihrer Gültigkeit erfolgte mit Jacques Benigne Bossuets Traktat De l´éminent dignité des pauvres (1659).

Seit der Aufklärung und der Französischen Revolution steht der Begriff der Würde für die Moderne als Ära des Fortschritts im Sinne würdiger Lebens- und Arbeitsbedingungen. Von der sozialen Herkunft emanzipiert bezeichnet Würde nun den intrinsischen Wert der Person und den Respekt gegenüber den Rechten und der Singularität des Einzelnen. Würde ist daher ein ethischer und relationaler Begriff. Würdevolles Verhalten wird zum moralischen Anspruch. Unwürdig sind nicht diejenigen, „die unter unwürdigen Bedingungen leben, sondern diejenigen, die diese Bedingungen schaffen und tolerieren“ (14).

Derzeit könnte sich das Verständnis von Würde nach Fleury durch die Tendenz zur Verdinglichung des Menschen oder zur Ausklammerung sozialer und rechtlicher Kontexte erneut wandeln. Mit Axel Honneths sozialphilosophischer Theorie der Anerkennung sei der Begriff jedoch wieder relevant geworden, erwachse doch der Kampf um Anerkennung aus der Geringschätzung individueller wie kollektiver Leidensgeschichten und ziele auf die Kongruenz von formaler und realer Würde. Honneth priorisiere jedoch eine auf Singularität ausgerichtete Variante des Begriffs, die nur dann konstruktiv sei, wenn Anerkennung auch als relationaler Begriff verstanden werde und die politisch-ökonomische Frage der Gerechtigkeit der Güterverteilung berücksichtige.

Nach Fleury sollte die Reflexion des Universellen und des Begriffs der Würde den Prozess der De-Kolonisierung mit einbeziehen. Im Kapitel über Die universelle Unwürde definiert sie Unwürde als „Verletzung der physischen und psychischen Integrität“ (29). James Baldwin habe diese Verletzungen realistisch aus der Perspektive der Betroffenen beschrieben und damit seine Gemeinschaft restituiert. Die Würde ders Sklaven sei die des Widerstandes gegen Unfreiheit und symbolisiere die als universell zu interpretierende Würde der Aufklärung samt der oft ausgeklammerten gewaltsamen Kolonialgeschichte. Die Narrative der Klinik der Unwürde basierten auf der Weisheit von Überlebensstrategen, welche die moderner Philosophen überflügele. Mit Baldwin sei das Konstrukt der Klinik der Würde um das Schwarzsein im Sinne der universellen Erfahrung des Menschseins als Vulnerabilität erweitert worden.

Fleury bezeichnet die CareEthik als Phänomenologie des Politischen, die gesellschaftlich Verborgenes zur Sprache bringe. Wie die koloniale Ideologie der „Last des weißen Mannes“ ist care ein ambivalenter Begriff, da er mit dem Paternalismus und der Ungleichheit als Kehrseite des offiziellen Wohlwollens verbunden ist. Im Kapitel Die Klinik des Schmutzigen beschreibt Fleury die dem Begriff care immanente Negation:als dark care, dirty care oder dirty work werden Arbeiten bezeichnet, die als unwürdig gelten, es aber nicht sind. Den care-Arbeitern erscheint ihre Tätigkeit wie „erduldete Gewalt“(51), basiere sie doch auf konsolidierten Herrschaftsverhältnissen und berge Machtbeziehungen, die die Beherrschten zu Komplizen dieser Gewalt machen, indem sie verpflichtet sind, die Herrschenden zu umsorgen. Care sollte daher politisiert und unter Be-Achtung aller Beteiligten öffentlich thematisiert werden. Schließlich basiere unsere Würde auf der „Drecksarbeit der Mehrheit“, deren Innerlichkeit, Propriozeption und physische Intimität als Garanten der Würde verletzt werden. Trotz der psychischen Belastung für die Pflegenden müsse die Beziehung zu vulnerablen Personen menschlich gestaltet werden. Die Klinik der Un-Würde sollte hinterfragen, unter welchen Umständen die Verantwortlichen dirty care veranlassen. Obgleich sie bezüglich care darauf angewiesen sei, verdränge die Gesellschaft den Verkehr mit dem Unwürdigen und ziehe damit ihre Grenze.

Individuen, die der Freiheit beraubt sind, weisen Symptome auf, die Fleury als Pathologien der Würde thematisiert. Franz Fanon hat deren paradoxale Struktur analysiert: mentale Schäden durch unwürdige Zustände in kolonialen psychiatrischen Kliniken, in denen Kranke gerade von den Leiden, die vom Kolonialismus verursacht wurden, geheilt werden sollen – von der Entfremdung und Ich-Spaltung, der Fragmentierung oder, im Extremfall, Nekrotisierung der Existenz durch eine systematisch-institutionelle Verschlechterung der Lebensbedingungen.

Die primäre Erfahrung, der Kolonisierte ausgesetzt sind, ist die Möglichkeit des gewaltsamen Todes oder der Lebens- als Todesgeschichte. Diese Nekropolitik wurde in kolonialen Systemen praktiziert; aber auch nicht- oder de-koloniale Gesellschaften weisen heute solche Strukturen auf. Fleury rekurriert auf Judith Butlers und Frédéric Worms´ Beschreibung des unerträglichen, „unlebbaren“ Lebens „des deklassierten, mehr als prekären, heimatlosen Menschen“ (75), der, ständiger Ungewissheit ausgesetzt, zum Gefangenen seines Kampfes ums tägliche Überleben wird. In diesem Zustand kann das Subjekt sich nicht äußern und findet keine Anerkennung. Daher müsse Fürsorge politisiert, entgendert und Thema der Demokratie werden.

In Fanons Verdammten der Erde wurde, von Sartre sekundiert, die verlorene Würde und damit das Gefühl von Souveränität und Zugehörigkeit mit Gewalt zurückerobert. In dieser Hinsicht hat Würde Bezug zu kollektiver Identität und ist durch die Kategorie des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ in der Erklärung der Menschenrechte (1948) rechtlich verankert..

Die Kritik der globalen Ungleichheit samt ihrer Plutokraten ist überschrieben mit Das Unwürdig-Werden der Welt. Fleury sieht einerseits in der Würde als positives Recht eine Errungenschaft der Moderne, andererseits definiert sie die Moderne als „systematische Fabrik des Würdeverlusts für das Subjekt“. Die Klimakrise als Realität des Anthropozäns zeitige einerseits globale Mobilität, andererseits „entropische Kollapserfahrungen“ (84) und die Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in fossilen Wirtschaftssystemen.

Angesichts dieser Konstellation diagnostiziert Fleury mit Achille Mbembe ein „Brutalistisch-Werden der Welt“. Durch die Exzesse des Neoliberalismus konstituiere sich Macht als Fragmentierung, Erschöpfung, Verarmung und Proletarisierung und sei vergleichbar mit der kolonialen Brutalität gegen Mensch und Natur.

Ein Aspekt dieser gnadenlosen Normalisierung der Entwürdigung ist die systematische Ausgliederung und Entmündigung von Menschen in Lagern, wie sie bereits Zygmunt Bauman analysiert hat.

Solche Zustände provozieren Rückzug, Burnout, Ressentiments und politische Emotionen, allen voran Empörung. Doch mit Stéphane Hessels Aufruf Indignez-vous/Empört Euch (2010) wird, wie Fleury im letzten Kapitel darlegt, so leicht keine politische Schlacht gewonnen. Zwar vermag Empörung durch politisch wirksame performative Aktionen eine gewisse Zeit die öffentliche Meinung und Debatten zu beherrschen, doch oftmals entpuppten sich die Inszenierungen solcher „Empörungsgemeinschaft“ (110) als Selbstzweck, und ihre emotionale Aufladung verhindere Kompromisse und manövriere die Kampagnen ins Abseits.

In der Rhetorik der Empörung überschneiden sich zudem Würde und Ehre, eine Entwicklung, die Fleury den Medien und sozialen Netzwerken zuschreibt, die als panoptische Machtzentren die Würde gefährden, indem sie die Sprache in den Dienst der Entehrung, Diffamierung und Klassifizierung stellen. Ihnen setzt Fleury die Hoffnung auf die Herstellung würdiger zwischenmenschlicher Beziehungen in der Care-Ethik als Handlungstheorie entgegen, die über die Fürsorge Politik neu begründet soll. Diese konzipiert sie im Verbund mit Ansätzen aus John Deweys demokratischer Pädagogik, Ivan Illichs Theorie der konvivialen Gesellschaft sowie der Reanimierung der Commons-Theorie. Eine solche Fokussierung auf das Gemeinsame würde das private Eigentum als Wert relativieren, da dieses Gemeinsame Engagement und Verantwortung verlange und idealiter die soziale und ökologische Gerechtigkeit mit der demokratischen Teilhabe und ökonomischen Gleichheit verbinden könne.

Im Epilog fordert die Autorin die Akteure der „Klinik der Würde“ auf, all die Fälle der Unwürde zu analysieren und zu dokumentieren, da mit der Revitalisierung qualitativer zwischenmenschlicher Beziehungen ein Gegengewicht zum herrschenden quantifizierenden biopolitischen Regime geschaffen werde. Fraglich bleibt freilich, ob durch solche care-ethische Maßnahmen der gleichberechtigte Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, der in den Demokratien während der letzten Jahrzehnten zugunsten der Privatisierung preisgegeben wurden, auch nur annähernd kompensiert werden kann.

Fleurys Analyse des Begriffs der Würde und seine theoretische und praktische Erweiterung ist nachvollziehbar, und ist auch an der Zeit. Der Begriff der Klinik jedoch erscheint mir nur dort plausibel, wo es tatsächlich um die im Argen liegenden Zustände in den realen Institutionen der Pflege etc. geht. Hier wäre darüber hinaus eine ökonomische und eine politische Kritik der zunehmend börsennotierten, gewinnorientierten Organisationsformen dieser Einrichtungen als eine der Hauptursachen des Versagens angebracht.

So mag ihr Fürsorge- oder Care-Ansatz durchaus ein hehres Ziel sein; aber mit ihm allein ist es nicht getan. So sind spätestens seit der Corona-Epidemie die Forderungen der Care-Beschäftigten bekannt; und es ist zudem fraglich, ob ihre aufrichtigen Bemühungen um die Würde und deren Materialisierung wirklich greifen, wenn von ihr die Löhne und Arbeitszeiten kaum thematisiert werden. Zwar lassen sich in der Tat Würde und Selbstwert schwerlich gegen Geld aufrechnen; aber dies kann kein Argument gegen anständige Löhne in der „Klinik der Würde“ sein.

Kohout – Austeilende Ungerechtigkeit

Franz Kohout

Austeilende Ungerechtigkeit. Wie die Wohlhabenden sich am Steuerstaat bereichern

br., 172 Seiten, 24.- €

Potsdam 2023 (edition fatal)

von Bernd M. Malunat

Man muss es sich erst klar machen: Steuern bilden die Dreh- und Angelpunkte eines jeden Staates; Steuern sind seine hauptsächliche Einnahmequelle. Ohne diese Einnahmen ist er machtlos, unfähig, auch nur eine seiner vielfältigen Aufgaben wahrzunehmen. Das gilt seit altersher, und es gilt erst recht in der Gegenwart, da die Aufgaben des modernen Staates immens angewachsen sind. Die sogenannte „Ampel-Koalition“ scheiterte in der jüngeren Vergangenheit vor allem daran, dass sie sich nicht auf einen gemeinsamen Bundeshaushalt, also auf die Verwendung der Steuereinnahmen, verständigen konnte oder wollte.

Blickt man in die Geschichte zurück, zeigt sich, dass selbst die Grundlagen des modernen Parlamentarismus auf dem der Obrigkeit eingeräumten Recht beruhen, von den Untertanen Steuern verlangen zu dürfen. Sehr eindringlich zeigt sich das an der von den nordamerikanischen Kolonien Englands vorgetragenen Forderung: no taxation without representation – die letztlich in die Unabhängigkeit mündete.

Die Schrift des Politikwissenschaftlers Franz Kohout handelt vom Steuer-Staat, davon, wie durch Disruption Gleichheit, Gerechtigkeit und letztlich Demokratie gefährdet werden, weil der Grundsatz, dass alle nach ihren Möglichkeiten in gleicher Weise zum Gelingen beizutragen haben, verletzt wird. Nicht zuletzt aufgrund steuerpolitischer Entscheidungen wird die Kluft zwischen armen und reichen Bürgern immer größer. Es wächst jedoch nicht nur die Einkommens-Schere, sondern zugleich auch die Vermögens-Schere, und sie wachsen seit langer Zeit so stark, dass die Diskrepanz eines Tages unerträglich werden könnte. Dies ist übrigens keineswegs nur ein soziales Problem; vielmehr gestatten es die angehäuften, geradezu gigantischen Vermögen auch, unmittelbar Einfluss auf die Gestaltung der Politik in den Staaten zu nehmen, wie er in der jüngeren Vergangenheit bereits folgenreich praktiziert worden ist. Demokratien werden in autoritäre oligarchische Plutokratien transformiert.

Für diese in höchstem Maß unverträgliche Entwicklung gibt es eine Vielzahl steuerlicher Gründe. Zum einen gibt es in föderativ organisierten Staaten auf den verschiedenen Ebenen das Recht, Steuern zu erheben, zum anderen ist das Steuerrecht so umfangreich und kompliziert, dass der Steuer-Dschungel kaum noch zu durchdringen ist, und schließlich sind auch all die internationalen Möglichkeiten der Steuergestaltung sowohl in der EU als auch in der globalisierten Welt zu beachten. Aus ihnen resultieren die vielfältigen Vorteile insbesondere derjenigen, die es sich leisten können, die fest etablierten Steuerberatungs- und -vermeidungsindustrie in Dienst zu nehmen. Zudem gilt es, den geradezu monströsen Lobbyismus zu betrachten, der es vermag, die Gesetzgeber der verschiedenen Ebenen unter einen erheblichen politischen Druck zu setzen, der sich durch selektiv plazierte Parteispenden noch einmal beträchtlich verstärken lässt.

Wie die ‚austeilende Ungerechtigkeit‘ funktioniert, die der Titel treffend annonciert, zeigt der Autor an einer Reihe konkreter Beispiele. So wurde die Vermögenssteuer auf die geradezu unanständigen Riesenvermögen faktisch abgeschafft. Die Erbschaftssteuer ist zu einer Bagatellsteuer verkommen, die gerade mal die Hälfte der Tabaksteuer einbringt. Keine Erbschaftssteuer zahlen die Erben eines Unternehmens, wenn sie das Unternehmen nur sieben Jahre weiterführen. Gewerbetreibende können die Zahlung der Gewerbesteuer durch die Gründung von Schein- oder Briefkastenfirmen umgehen. Durch völlig legale Gewinnverlagerungen ins Ausland gehen dem Staat jährlich Milliarden Euro an Körperschaftssteuern verloren. Diese wenigen Beispiele zeigen, welche Möglichkeiten die Wohlhabenden genießen.

Im Gegensatz dazu hat der geringverdienende ‚normale‘ Bürger kaum steuersenkende Möglichkeiten. Ihm wird die Lohnsteuer vom Arbeitgeber direkt vom Gehalt abgezogen, und die Möglichkeit der Rückerstattung mittels der Steuererklärung wird häufig nicht genutzt. Die Gruppe dieser Steuerpflichtigen ist allerdings von großer Relevanz, weil die Verbrauchssteuern (v.a. Mehrwert- und Energiesteuern) rund 42 Prozent des Steueraufkommens ausmachen, da deren Einkommen überwiegend in den Konsum (und die Miete) fließt. Schon deshalb ist ihre relative Steuerbelastung deutlich höher als die der Wohlhabenden. Hinzu kommt, dass die Kapitalertragssteuer auf 25 Prozent begrenzt wurde, während die Einkommenssteuer progressiv auf bis zu 42 Prozent steigt.

Diese ‚Ungleichbehandlungen‘ liegen aber auch daran, dass die Finanzverwaltung unterbesetzt und deshalb chronisch überlastet ist. Vor allem mangelt es an Betriebsprüfern und Steuerfahndern, weshalb Unternehmen nicht regelmäßig überprüft werden können. So etwa wurden die obszönen Cum-Ex-Transaktionen, die den Staat nicht nur sehr viel Geld, sondern auch sehr viel Vertrauen kosteten, jahrelang nicht erkannt. Sollte es für einen allzu findigen Steuerbürger aber doch einmal eng werden, erlangt er nach gelungener Selbstanzeige Straffreiheit.

Dem Autor geht es jedoch nicht nur darum, die sozialen Ungerechtigkeiten des Steuersystems aufzuzeigen, vielmehr unterbreitet er auch Vorschläge, wie eine gerechtere Besteuerung gestaltet werden könnte und sollte. Dazu gehöre in erster Linie eine einfachere und klarere Gesetzgebung. Ferner seien eine gerechtere Gestaltung der Freibeträge, die Besteuerung der Einkommen, die aus leistungslos erworbenen Vermögen fließen, sowie eine internationale Steuerharmonisierung, einschließlich einer Finanztransaktionssteuer, sowie vor allem eine drängend notwendige ökologische Steuerreform (etwa durch Streichung umweltschädlicher Subventionen) erforderlich. Diese Maßnahmen würden nicht nur zu mehr – intergenerativer – Gerechtigkeit führen; sie könnten dem Staat auch deutlich höhere Steuereinnahmen bescheren.

Für die Erreichung dieser Ziele setzen sich seit geraumer Zeit einige sehr engagierte zivile Bewegungen ein, deren Erfolge aber begrenzt bleiben müssen, solange die Brisanz der Steuergerechtigkeit für den überwiegenden Teil der Bevölkerung von den staatlichen Akteuren nicht ernst genommen werden. Doch haben einige Parteien wenigstens in Zeiten des Wahlkampfs die Frage der Steuergerechtigkeit zumindest programmatisch erkannt – bleibt zu hoffen, dass sie sich daran erinnern, sollten sie nicht zuletzt dieser Versprechen wegen in die Verantwortung gelangt sein!

Fuchs – Radikaler digitaler Humanismus

Christian Fuchs

Radikaler digitaler Humanismus. Eine Philosophie für die digitale Gesellschaft des 21. Jahrhunderts

br., 165 Seiten, 29,90 €

München 2024 (UVK Verlag)

von Konrad Lotter

Im Zentrum des Buches steht der Gegensatz von liberalem und radikalem Humanismus. Der eine beruht auf der Proklamation der Menschenrechte zur Zeit der Französischen Revolution und war gegen den Feudalismus gerichtet. Er forderte die Gleichheit vor dem Gesetz sowie die Freiheit der Meinung, der Versammlung und der Religion. Vor allem aber schützte er das (Privat-) Eigentum und das Recht des bürgerlichen Individuums, „ohne Beziehung auf andere Menschen … sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren“ (Marx). Damit bildete er die Grundlage für den Aufstieg der kapitalistischen Produktionsweise. Der andere, der radikale Humanismus ist hingegen gegen die bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise mit allen ihren Verwerfungen gerichtet und klagt die Freiheits- und Entwicklungsrechte aller Menschen ein. Diese Produktionsweise kam erst im Zuge der sog. ursprünglichen Akkumulation, d.h. vor allem durch die Ausbeutung der Kolonien und der Versklavung ihrer Bevölkerung, in Schwung und hatte die Unterwerfung des „globalen Südens“ unter die Herrschaft des zivilisierten „Westens“ zur Folge. Die erste Forderung des radikalen Humanismus, so Christian Fuchs, Professor für Medientheorie an der Universität in Paderborn, ist infolgedessen nicht nur die Aufhebung des (Privat-) Eigentums und der Ausbeutungsverhältnisse auf nationaler Ebene, sondern auch die Ent-Kolonialisierung im globalen Maßstab, d.h. die Angleichung der individuellen Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen, nicht nur auf den Gebieten der Bildung und der Wissenschaften, sondern auf allen Gebieten des Lebens.

Martin Heidegger, Günter Anders, Peter Sloterdijk oder Yuval Harari haben den Humanismus für geschichtlich überholt erklärt. Mit der Ausweitung der modernen Massengesellschaft und dem technischen Fortschritt mit seinen Möglichkeiten der genetischen und informationellen Manipulation, so ihr Argument, sei das Maß der individuellen Selbstbestimmung und Autonomie geschrumpft, jede Form des Humanismus an ihr Ende gekommen. Damit, so das Gegenargument von Christian Fuchs, könne freilich nur der alte, liberale Humanismus gemeint sein, dessen Kritik der Ausgangspunkt eines neuen Humanismus sein müsse. Dieser sei nicht mehr auf das Recht und die Freiheit des egoistischen Individuums, sondern auf das Recht und das Gemeinwohl aller Menschen gerichtet. Unter Berufung auf Marx, Rosa Luxemburg, Erich Fromm und Henri Lefebvre, auch auf Adorno und Horkheimer (die umstandslos der Marxschen Tradition zugeordnet werden), entwickelt er so die Grundrisse eines radikalen Humanismus. Weshalb er das Epithteton „radikal“ gewählt hat und nicht den in der Marxschen Tradition üblichen Begriff des „realen“ Humanismus verwendet, ist dabei nicht recht einzusehen. Beide Begriffe besitzen offenbar die gleiche Bedeutung. Wie auch immer: Mit seinem radikalen Humanismus erhebt Fuchs den Anspruch, eine „Philosophie für die digitale Gesellschaft des 21. Jahrhunderts“ zu entwerfen, eine Philosophie, die nicht nur auf ein friedliches Miteinander der Menschen und Nationen gerichtet ist, sondern auch einen Weg aufzeigen soll, wie die gegenwärtigen Probleme der Klimaveränderung, des sozialen Elends und der Armuts-Migrationen behoben werden können.

Unter dem Gesichtspunkt des Humanismus weist die Entwicklung der Technik von jeher in entgegengesetzte Richtungen. Schon die Dampfmaschine, die die industrielle Revolution einläutete, erleichterte zwar die Arbeit und erhöhte ihre Produktivität, erniedrigte aber zugleich (wie seit Adam Smith immer wieder beklagt wurde) die Arbeitenden zu geistlosen Automaten und „Anhängseln“ der Maschine. Mit jeder „Welle“ technischer Innovationen, von der Elektrizität, den neuen Formen der Mobilität, der Nuklear-, Computer- oder Kommunikationstechnologie verschärfte sich dieser Gegensatz. Immer unversöhnlicher standen sich dabei die positiven Möglichkeiten, die das Leben der Menschen erleichterten und bereicherten, den negativen Realitäten gegenüber, die die Selbstbestimmung der Menschen einschränkten, ihre körperliche und psychische Integrität beeinträchtigten und sie an der Entfaltung ihrer Anlagen hinderten. Im Falle der digitalen Technologien und der KI haben die Gefahren zuletzt ein neues Niveau erreicht. Neben der totalen Überwachung und Manipulation der Menschen, der möglichen Herrschaft von Robotern und einem „digitalen Faschismus“ sind Ängste entstanden, die Menschen machten sich selbst überflüssig und schafften sich letztlich ab.

Die großen Industrienationen der USA, Chinas und der EU betrachten, wie Fuchs ausführt, die Entwicklung der KI gleichermaßen als eine „Schlüsseltechnologie“, die mit Steuergeldern großzügig unterstützt wird. Im internationalen Wettkampf geht es um die ökonomische Vorherrschaft, auch wenn die Interessen daran voneinander abweichen. In den USA steht offenbar das Interesse der Manipulation der Konsumenten und Wähler im Vordergrund, im China das der Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung. In Europa wird zwar versucht, die Privatsphäre der Menschen zu schützen, trotzdem, so scheint es, werden auch hier die Risiken der neuen Technologie heruntergespielt. Fuchs zitiert Nida-Rümelins und Natalie Weidenfelsʼ Buch über Digitalen Humanismus (2018) und das Wiener Manifest für digitalen Humanismus (2019). In beiden Schriften werden zwar bestimmte Risiken der digitalen Technologie gesehen und thematisiert, gleichermaßen aber glauben ihre Autoren, diese Risiken durch Ethik und politische Reformen im Rahmen der bestehenden Eigentumsordnung, also unter der Voraussetzung des alten, liberalen Humanismus beherrschen zu können. Diesen Glauben teilt Fuchs nicht. Gegen die sozialdemokratische Naivität der beiden Schriften könnte (in seinem Sinne) der Satz gestellt werden, den Orlando Patterson bei der Verleihung des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart (2024) geäußert hat: „In Amerika … besitzen jetzt drei Milliardäre mehr Vermögen als die untere Hälfte der Bevölkerung zusammen … Unter solchen Bedingungen wird ein ethisches Leben – wird Sittlichkeit – unmöglich.“ Anders formuliert: Unter den genannten Verhältnissen, unter denen sich die Schere von Arm und Reich immer weiter öffnet, hat der alte, liberale Humanismus seine Existenzberechtigung verloren. Zu begrüßen sei daher jede Aktion, die zu seiner Fortentwicklung in Richtung auf eine am „Gemeinwohl“ aller Menschen orientierte Weltordnung führt und uns einer radikal humanistischen, wirklich demokratischen und sozialistischen Gesellschaft näherbringt.

Eher am Rande steht Fuchsʼ ausführliche Diskussion, die sich auf die Verbreitung von Covid-19 (im Zusammenhang mit der „kapitalistischen Nekropolitik“) bezieht. War denn die kommunikative und soziale Vereinsamung, unter der viele Menschen gestorben sind, und waren überhaupt sowohl die Ursache als auch die rasche Verbreitung dieser Krankheit ein spezifisches Problem des Kapitalismus? Als „kapitalistisch“, so scheint es, muss vor allem der Umgang mit der Pandemie, d.h. die Entwicklung und Zulassung der Impfstoffe, die Produktion und Verteilung der Masken, die Organisation von Home-Office etc. bezeichnet werden. Schon in vorkapitalistischen Zeiten grassierten Seuchen wie etwa die Pest, und auch ein zukünftiger „demokratischer Sozialismus“ ist, wie Fuchs selbst einräumt, keine Garantie für das Aussterben tödlicher Seuchen. Richtig ist natürlich, dass digitale Kontakte zu erkrankten und isolierten Menschen via Handy oder Computer eine „direkte Präsenz … nicht ersetzen“ können. Mit dem Problem des digitalen Humanismus aber hängt Covid-19 nur über viele Schritte vermittelt zusammen.

Klar und einleuchtend ist Fuchsʼ Plädoyer für den radikalen Humanismus; etwas redundant erscheint dagegen die Form seiner argumentativen Darstellung. Bereits an den Anfängen der verschiedenen Kapitel stehen „Zusammenfassungen“ dessen, was erst ausgeführt werden soll. Es folgen dann „Einleitungen“, in denen die Fragen gestellt werden, die beantwortet werden sollen. Am Ende der Kapitel stehen dann noch „Schlussfolgerungen“, in denen oftmals gesagt wird, was schon gesagt ist. Viele Wiederholungen, die leicht hätten vermieden werden können, sind die Folge. Von diesen Vorbehalten abgesehen (die von vielen Lesern möglicherweise gar nicht als Mangel empfunden werden) ist der Mut und die Entschiedenheit zu bewundern, mit denen Fuchs über die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise hinausdenkt und gegen viele Widerstände das Programm eines neuen Humanismus entwirft.

Akbarian – Recht brechen

Samira Akbarian

Recht brechen. Eine Theorie des zivilen Ungehorsams

Pb., 172 Seiten, 16.-.€

München 2024 (C.H. Beck-Verlag)

von Bernd Malunat

Ziviler Ungehorsam gehört seit langem zum politischen Prozess der Bundesrepublik. Doch vor allem seit dem Auftreten der sich ‚Fridays for Future‘ nennenden Bewegung von überwiegend jüngeren Aktivist:innen, die Politik, Gesellschaft und Wirtschaft durch ihr Engagement dazu herausfordern, die Bedingungen der natürlichen Umwelt zu achten, insbesondere dem Schutz des sensiblen Klimas gerecht zu werden, ist die Diskussion wieder virulent geworden. Sie begründen ihren Ungehorsam mit der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass es gegenwärtig, vor allem jedoch in absehbarer Zukunft zu gravierenden und unumkehrbaren Veränderungen der globalen Lebensbedingungen, den sogenannten „Kipppunkten“, kommen wird, von denen die kommenden Generationen in unzumutbarer Weise betroffen sein werden. Deshalb ist es erforderlich, sich mit denen, die das Recht brechen, wissenschaftlich, rechtlich, politisch und moralisch auseinanderzusetzen,.

Das Titelbild des Buches zeigt leshia Evans, eine junge schwarze Aktivistin, die scheinbar furchtlos einer Gruppe schwerbewaffneter Polizisten gegenübertritt, um für ihre Rechte einzustehen. Dieses ikonische Bild verdeutlicht exemplarisch das Anliegen der Autorin mit ihrem als Plädoyer anzusehenden Ansatz: wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Es kann jedenfalls als Appell verstanden werden, gegen als ungerecht empfundene Gesetze aufzubegehren, als Pflicht mündiger, aufgeklärter Bürger, im Interesse des Gemeinwohls zu handeln.

Fast natürlich stellt sich damit die Frage, ob es überhaupt zulässig sein kann, gegen Gesetze zu verstoßen, die in einem formellen rechtsstaatlichen Verfahren von einem demokratisch legitimierten Parlament erlassen worden sind. Mit dieser antagonistischen Situation befasst sich Samira Akbarians ‚Theorie des zivilen Ungehorsams‘ auf sehr anspruchsvolle, fast dialektische Weise, durch die ihre Schrift im Wortsinn ‚lehrreich‘ wird. Man muss ihrer Darlegung nicht folgen – sie wird von einigen Rezensenten entschieden abgelehnt –; sie enthält dennoch interessante Überlegungen, die den Raum der recht verfahrenen Diskussion weiten.

Juristische Grundlagen eines zivilen Ungehorsams oder bürgerlichen Widerstands bilden die verfassungsmäßig verbrieften Grundrechte der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), das Recht, seine Meinung frei zu äußern (Art. 5 GG), und das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 GG), die jedoch alle unter dem Vorbehalt der Gesetze stehen. Im Grunde geht es den Protesthandlungen darum, eben diesen Gesetzen zu widerstehen, da sie von Überzeugungen, Gewissensentscheidungen oder moralischen Erwägungen motiviert werden, die für sie zwingender sind als diese einfachen Gesetze (23). Darüber hinaus bedarf es freilich auch eines realen materiellen Grundes dieser Erwägungen, der in der Abhandlung jedoch kaum in Betracht gezogen wird.

In Anlehnung an John Rawls‘ ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ erörtert die Autorin den zivilen Ungehorsam als eine öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte, aber gesetzwidrige Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen solle (56). Diese Gratwanderung an der Grenze von Legalität und Legitimität, zugleich die Schnittstelle von Recht und Moral, sei jedoch nur gerechtfertigt, wenn dadurch zugleich die liberale Ordnung stabilisiert werde. Liberale Ordnung bedeutet diesem Ansatz zufolge, dass die universellen und unveräußerlichen Menschenrechte dem durch demokratische Mehrheitsentscheidungen zustande gekommenen Recht vorausgehen. In Rawls’ Verständnis ist das Recht also weniger Ausdruck des Gemeinwillens als Instrument zum Schutz der individuellen Autonomie.

Während es Rawls in seiner liberalen ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ also vor allem um Freiheit und (Chancen-)Gleichheit geht, kritisiert Jürgen Habermas mit seinem deliberativen Ansatz, dass diese Rechte im Liberalismus wie Republikanismus überbetont seien, weil in einem demokratischen Rechtsstaat die Menschenrechte und die Volkssouveränität ‚gleichursprünglich‘ sind, wodurch Recht und Moral, Legalität und Legitimität, in Übereinstimmung gebracht werden. Deshalb, so seine Schlussfolgerung, sind in einem demokratischen Rechtsstaat die Gesetze grundsätzlich zu befolgen. Zwar dürfe daraus kein blinder Gehorsam, kein ‚autoritärer Legalismus‘ folgen, vielmehr verbleibe den Bürgern die Möglichkeit, Gesetze des Parlaments und Maßnahmen der Regierungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Allerdings müssen sich zivil Ungehorsame mit der Verfassung identifizieren. „Ziviler Ungehorsam wird damit zu einem Ausdruck von Verfassungspatriotismus“ (63); er ist moralisch begründeter Protest, ein öffentlicher Akt, der die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen einschließt, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen aufzugeben. Dieser verlangt daher erstens die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen, dass zweitens der Ungehorsam symbolischen Charakter hat, und dass er sich drittens auf gewaltfreie Mittel beschränkt. Damit wird ziviler Ungehorsam in der Tat zum Ausdruck von Verfassungspatriotismus, weil im demokratischen Rechtsstaat die Loyalität weder der politischen Gemeinschaft noch den einfachen Gesetzen, sondern allein der Verfassung gilt.

Ferner argumentiert Habermas, dass sich der zivile Ungehorsam auf ein dynamisches Verständnis der Verfassung stützt, die kein fertiges Gebilde, sondern ein revisionsbedürftiges Unternehmen sei, das darauf angelegt ist, die Rechte unter wechselnden Umständen besser zu interpretieren, also lebendig zu sein. Schließlich wirke dieser Ungehorsam auch integrierend, weil die Bürger von der politischen Willensbildung, die von den Parteien, Verbänden und der Wirtschaft dominiert wird, sonst weitgehend ausgeschlossen blieben. Ziviler Ungehorsam steht für Habermas also nicht im Widerspruch zum demokratischen Rechtsstaat, sondern ist Teil dieser Ordnung (85).

So weit, so überzeugend, könnte man sagen. Wie aber ist es zu beurteilen, wenn ziviler Ungehorsam nicht auf Integration und Stabilität zielt, sondern an den Fundamenten rüttelt, weil die gegebene Ordnung nicht als gut und gerecht erscheint? Solchen radikaldemokratischen Theorien geht es darum, das genuin Politische, also die den Institutionen und deren Funktionen vorausliegenden, den formellen Prozess aber bestimmenden Prämissen, die Machtungleichgewichte und strukturellen Gerechtigkeitsdefizite, aufzuweisen. Es geht dann nicht mehr darum, einen Konsens herzustellen, sondern ihn zu dekonstruieren, die Fundamente zu hinterfragen. Das gilt insbesondere für das bestimmende Verhältnis von Recht und Macht, weil das Recht mit Zwang durchgesetzt werden kann und zudem über die definitorische Macht verfügt. „Viele radikaldemokratischen Ansätze“, so die Autorin, „lehnen daher den zivilen Ungehorsam ab, weil er der bestehenden Ordnung zu nahe steht, zu ihrer Stabilisierung beiträgt und nicht deren Infragestellung dient“ (100). Sie stehen „damit für eine kontinuierliche Revisionsbereitschaft und eine Anerkennung der Unsicherheit demokratischer Gesellschaften“ (120) und können deshalb als disruptive Form einer Verfassungsinterpretation, als Dekonstruktion etablierter Interpretationen betrachtet werden (154).

Schließen sich diese radikale Infragestellung der Annahmen demokratischer Gesellschaften und eine konstruktive Verfassungsinterpretation deshalb aus? Als eine Art von Kompromiss trägt Akbarian nun eine ethisch begründete Konzeption zivilen Ungehorsams vor, in dem der Bruch von Gesetzen die Verwirklichung eines höheren moralischen Gesetzes darstellt, dessen Maßstab das eigene Gewissen oder religiöse und spirituelle Überzeugungen sind. Prominente Zeugen dieser Auffassung sind einerseits der Philosoph Sokrates, der sich in der Konsequenz seiner Haltung das Leben nimmt, andererseits die politischer agierenden Henry David Thoreau, Mohandas Karamchand Gandhi sowie Martin Luther King. Bei allen Unterschieden ist ihnen gemeinsam, dass für sie eine höhere Wahrheit verpflichtender ist als das staatliche Gesetz. Als ein zeitgenössisches Beispiel dafür kann die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen (Art. 12a, Abs. 2 GG) dienen, die belegt, dass eigene Glaubensüberzeugungen mit staatlichem Recht vereinbar sein können, obwohl sie anderen normativen Welten entstammen (136); die Autorin nennt das ‚Rechtspluralismus‘ (122). Ethisch motivierter Ungehorsam dürfe als Verfassungsinterpretation aber nur dann angesehen werden, wenn sich in ihm die Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Verfassung, nicht aber die Hoffnung auf eine Revolution zeige. „Wenn die Welt durch die Verfassung verändert werden soll, dürfen Vision und Realität nicht zu weit auseinanderliegen“ (139). Ethischer Ungehorsam „praktiziert im Hier und Jetzt schon jene gute Ordnung, die er für die Zukunft erst erträumt“ (154). Man mag darin eine Annäherung zwischen demokratisch und radikaldemokratisch motiviertem Ungehorsam ausmachen.

Gegen Ende ihrer Schrift wird die Autorin konkret politisch, wenn sie den Klimaaktivist:innen gerechtfertigten zivilen Ungehorsam zubilligt – entgegen einer verbreiteten öffentlichen, aber auch politischen Auffassung, die sie gern als ‚Extremisten‘ oder gar ‚Kriminelle‘ einstuft. Diesen Ungehorsamen gehe es darum, die Erde für die Menschheit zu erhalten, die globale Abhängigkeit der Menschen untereinander und zwischen Mensch und Natur zu erkennen. Ein solcher ziviler Ungehorsam zeichne sich durch eine Richtigkeitsüberzeugung aus, ohne sie jedoch mit einem Totalitätsanspruch durchsetzen zu wollen, und der deshalb gewaltfrei sein muss. Dabei sollte die Einsicht bedacht werden, dass Protestbewegungen oftmals erst in der Retrospektive legitim erscheinen (148), nicht zuletzt deshalb, weil ‚Privilegierte ihre Privilegien selten freiwillig aufgeben‘ (Martin Luther King) – für große Teile der Weltbevölkerung könnte es dann aber bereits zu spät sein. Doch auch für Demokratien könnte es zu spät sein: Wenn Wetterereignisse zu unablässigen Katastrophen führen, helfen allenfalls noch diktatorische Maßnahmen, für die die jetzt schon häufig erklärten Notstände ein unverkennbares Indiz bilden.

Abschließend erklärt Samira Akbarian, dass sie mit den dargestellten Zugängen keine einheitliche Theorie des zivilen Ungehorsams vorlegen, sondern aufzeigen wollte, dass die demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung Raum für Widerspruch und Träume, für ein dynamisches Verfassungsverständnis bietet, um die Vision einer gerechten, guten Gesellschaft auf den rechtsstaatlichen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit zu verwirklichen – auch wenn es dazu manchmal erforderlich ist, das Recht zu brechen.

Die anregende, sehr selbstbewusst im Ich-Modus verfasste Schrift – für eine wissenschaftliche Arbeit eher ungewöhnlich – lässt allerdings den Bezug zur Brüderlichkeit, also zum sozialen Rechtsstaat vermissen, um den es den ungehorsam Widerständischen doch auch geht. Durch den Rückgriff auf ein überpositives Naturrechtsdenken ließe sich die Verbindung von Recht und Moral, die in Artikel 1 des Grundgesetzes kodifiziert ist, noch deutlicher darstellen.

Ernesto Grassi – Reisen ohne anzukommen

Reisen ohne anzukommen. Ein Gespräch

Ernesto Grassi (1902-1991) studierte Philosophie an der Universität Mailand, wo er 1925 promovierte. 1928 ging er zu Heidegger nach Freiburg, wo er bis 1938 als Lektor für Italienisch und Lehrbeauftragter für Philosophie lehrte. 1938 ging er nach Berlin und gründete dort 1942 das Institut studia humanitatis. Nach dem Weltkrieg war er 1947 für das Erscheinen von Heideggers Humanismusbrief verantwortlich und gründete 1948 in München das Centro italiano di studi umanistici e filosofici. Ab 1965 leitete er bis zu seiner Emeritierung 1973 das Seminar für Philosophie und Geistesgeschichte des Humanismus an der LMU. – Ab 1955 war Grassi bis 1980 Herausgeber der einflussreichen Taschenbuchreihe Rowohlts deutsche Enzyklopädie.

Widerspruch: Herr Grassi, Sie sind Italiener. Ist es richtig, dass Sie schon vor 1933 nach Deutschland gekommen sind?

Grassi: Ja, es war 1928. Vorher war ich allerdings in Frankreich. Kurz nachdem ich meinen Doktor gemacht habe, bin ich zu Maurice Blondel gegangen, der damals durch sein Buch „L’action“ in Italien berühmt geworden war.

Widerspruch: Ihr Studium haben Sie also noch in Italien beendet?

Grassi: Ja. Nach dem Gymnasium war ich 1924 einer der drei einzigen Studenten der katholischen Universität in Mailand, die im selben Jahr von Pater Gemelli gegründet worden war. Gemelli war eine höchst zweifelhafte Figur: ein Franziskaner, der erst Sozialist war, sich dann bekehrte und die katholische Universität gegründet hat. Mein Vater hatte in Pavia Medizin studiert, und mit ihm zur gleichen Zeit Gemelli; damals war er noch sozialistischer Revolutionär. Als mein Vater erfuhr, dass ich mit ihm in Beziehung stand, warnte er mich: „Hüte Dich vor dem, der ist ein großer Gauner. Der hat bei Golgi, dem großen Gehirnpathologen, den Spiritus für die anatomischen Präparate geklaut und verkauft, um an Geld zu kommen.“ Gemelli war ein unglaubliches organisatorisches Talent.

Widerspruch: Bei wem haben Sie hauptsächlich studiert? Welche philosophische Richtung?

Grassi: Mit Gemelli habe ich schnell Krach bekommen. Von der katholischen Universität bin ich dann auf die öffentliche in Mailand gewechselt. Dort hatte ich einen großartigen Lehrer, namens Martinetti. Martinetti war ein merkwürdiger Mensch. Er war katholisch und ein entschiedener Gegner von Croce und Gentile, den damaligen Vertretern des deutschen Idealismus. Er war sonst sehr sanft, aber wenn drei Namen fielen, Gentile, Croce und Gemelli, dann wurde er rot; also wirklich wie ein Huhn. Er unterbrach dann einfach seine Vorlesungen, die er über Kant gehalten hatte. Leider war er so vertieft in seine Philosophie, dass er sich um uns Studenten wenig kümmerte, auch nicht um meine Doktorarbeit. Er las immer schon um 7 Uhr morgens, weil er nur wenig Studenten haben wollte.

Widerspruch: Mussolini und der italienische Faschismus sind ja schon 1923 an die Macht gekommen. Welche Einflüsse hatte der Faschismus auf die italienische Universität?

Grassi: Alle Professoren mussten einen Treueeid auf den Faschismus schwören. Martinelli war einer der vier einzigen Professoren, die sich geweigert haben, zu schwören. Überhaupt wollte er mit der Institution der Universität nichts zu tun haben. Er ging immer mit einer kleinen Mappe herum. Und als ich ihn eines Tages danach fragte, machte er sie auf, und da waren Krawatten darin. „Was soll das?“ fragte ich. Und er sagte: „Ich werde nie zugeben, dass ich ein Universitätsprofessor bin. Wenn ich gefragt werde, dann sage ich, ich bin Krawattenverkäufer.“

Widerspruch: Sie kommen also aus einer katholischen Tradition?

Grassi: Ja, aber ich wandte mich bald von der katholischen Tradition ab und studierte den italienischen Idealismus, d.h. vor allem Gentile und Croce. Der Idealismus war in Italien eine Philosophie, die mit dem Katholizismus nichts zu tun hatte.

Widerspruch: Nach dem Abschluss Ihres Studiums gingen Sie nach Frankreich zu Maurice Blondel?

Grassi: Blondel war ein großartiger, rührender Mann, aber wieder so katholisch. Er las nicht mehr, weil er schon fast blind war, und so ging ich privat zu ihm für ein paar Stunden, um ihn wenigstens zu hören. Nach drei Monaten ging das nicht mehr. Später kam einmal jemand nach einem Vortrag zu mir und sagte, er habe einen Brief von Blondel, in dem er schreibt, ich sei zu einem gewissen Heidegger nach Deutschland gegangen, der wohl so eine Art Gentile sei.

Widerspruch: Von Frankreich aus sind Sie nach Deutschland gekommen?

Grassi: Zuerst bin ich zurück nach Italien und habe eine Zeit am Gymnasium unterrichtet. Nach Deutschland bin ich 1928 gekommen. Ich war damals 26 Jahre alt. Anfangs habe ich unter anderen Max Scheler gehört, aber gemerkt, dass mir das nicht zusagte. Ich war nur ein einziges Mal in Marburg bei Heidegger im Seminar gewesen – „Sein und Zeit“ war gerade erschienen –, aber ich habe gemerkt, dass für mich seine Philosophie die entscheidende Herausforderung war. Heidegger sagte zu mir jedoch, es habe gar keinen Sinn, jetzt in Marburg zu bleiben, ich solle doch gleich nach Freiburg kommen, was ich dann tat.

Widerspruch: Wie war Ihr Verhältnis zu Heidegger?

Grassi: Heidegger war ein unglaublicher Pädagoge, erbarmungslos gegen uns Schüler. Wir interpretierten bei ihm damals das IV. Buch der ‚Metaphysik‘; und er forderte immer: „Ja, lest doch, was im Buch steht, und fangt nicht an, selbst zu philosophieren.“ Also, ich habe mir gesagt, nur mit ihm. Von 1929 bis 1931 habe ich an seinen Seminaren teilgenommen. Bei den Vorlesungen war auch der Spanier Ortega y Gasset und sein Schüler Zubiri. Der war ein sehr schöner Mann, und alle Mädchen haben sofort auf ihn reagiert; und er war Jesuit, was aber niemand wusste. Ich fragte einmal Heidegger, ob er Zubiri kenne. Ja, meinte er. ,,Wissen Sie, was er ist?“ „Nein, wieso?“ Ich sagte: „Er ist Jesuit.“ „Herrgott“, rief er, ,und ich glaubte immer, doch eine Nase für Jesuiten zu haben. Das hätte ich nie vermutet!“ Jesuitisch jedenfalls war Heidegger, der ja ursprünglich auch vom Katholizismus herkommt, keineswegs. – Zudem war Heidegger keineswegs altprofessoral, wie etwa noch Husserl, dessen letzte Vorlesung über Descartes ich noch gehört habe. Heidegger war gegenüber den Studenten gar nicht hochnäsig, sondern immer neugierig. Aber er war unglaublich sensibel gegenüber öffentlicher Kritik. Damals war kurz zuvor sein Buch über Kant erschienen, und er war nach Frankfurt zu einem Vortrag eingeladen worden. Die „Frankfurter Zeitung“ veröffentlichte eine scharfe Kritik, die ein dortiger Professor geschrieben hatte. Ich fragte ihn, wie es in Frankfurt war. „Ich werde dort niemals mehr lesen.“ „Warum?“ „Diese Kritik, bitte lesen Sie!“

Widerspruch: Wie haben Sie Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus damals aufgenommen? Führte dieses Engagement zum Bruch zwischen Ihnen?

Grassi: Ich war in Freiburg zuerst italienischer Lektor, habe dann einen Lehrauftrag erhalten und wurde Honorarprofessor. Damals hatte ich mich mit einem Juden angefreundet, von dem Heidegger mir sagte, dass er der einzige sei, der wirklich etwas von ihm verstehe; die anderen seien noch zu sehr Schüler. Das war Werner Szilasi, ein Schüler Husserls. Eines Tages hat Heidegger wegen des Problems des Judentums im Nationalsozialismus mit Szilasi gebrochen. Wir Italiener hätten in dieser Situation im Faschismus wenigstens gesagt: „Verzeih mir, ich bin dazu verpflichtet; aber wir bleiben Freunde.“ Das war bei Heidegger gar nicht. Ich bin nicht mehr in seine Vorlesungen gegangen.

Widerspruch: Gab es für Sie nicht auch philosophische Gründe, sich von Heidegger zu trennen?

Grassi: Selbstverständlich, das war Heideggers Anti-Humanismus. Er lehnte die philosophische Bedeutung des Humanismus ab. Nicht nur in „Sein und Zeit“, sondern auch in seinem „Brief über den Humanismus“, wo er den Humanismus einfach mit dem römischen homo humanus gleichsetzte. Seiner Auffassung nach umfasst die humanistische Konzeption nicht das Problem des Seins, sondern reduziert sich nur auf eine Anthropologie.

Widerspruch: Aber Ihre Habilitationsschrift über die Platonische Metaphysik haben Sie trotzdem Heidegger gewidmet?

Grassi: Ich muss sagen, dass ich das Verständnis der Antike Heidegger verdanke. Die Italiener waren solche Hegelianer, dass sie sagten: „die Antike, schön; aber heute haben wir nichts mehr damit zu tun“. Hier hat Heidegger einen Zugang zur Antike eröffnet. Meine Habilitation, eine Neuinterpretation des „Menon“, war ein erstes Echo darauf, und ich habe diese Arbeit Heidegger gewidmet. Croce hat damals gewollt, dass das Buch bei ihm erscheint. Er wusste damals nichts von Heidegger, sonst hätte er das Angebot niemals gemacht.

Widerspruch: Haben Sie Heidegger nach 1945 noch einmal getroffen?

Grassi: Ich habe ihn gleich drei Wochen nach Kriegsende in seiner Hütte bei Todtnauberg besucht, wo er mir das Manuskript zur Veröffentlichung seines „Briefs über den Humanismus“ gegeben hat. Also, diese Beziehung war noch da.

Widerspruch: Überrascht Sie die öffentliche Diskussion heute über Heideggers Rolle im Nationalsozialismus?

Grassi: Nein, Heidegger war vielleicht der einzige wirkliche Nationalsozialist; darüber zu diskutieren ist sinnlos. Die eigentliche Frage – die heute so journalistisch abgehandelt wird – ist, warum dieser Mann von seinem spekulativen Standpunkt den Nationalsozialismus für richtig hielt. Es ist ein wissenschaftliches Problem, es hängt aber eben auch mit seinem Charakter zusammen. Ich erinnere mich, dass er einmal – er war schon Rektor gewesen und hatte sich zurückgezogen – sehr schlechter Laune war. Ich dachte, weil man ihn abgesetzt hatte. Es war aber, weil die Nazis ihn aus dem Komitee zur Herausgabe des Nietzsche-Werks entlassen hatten. Ich gratulierte ihm und meinte, dass es auch so gute Leute wie Walter Friedrich Otto und Karl Reinhardt getroffen hatte. Seine Antwort war buchstäblich: „Die Sache ist keineswegs so einfach. Heute morgen habe ich mich gegenüber der Nachwelt gerächt. Ich habe Aufzeichnungen verbrannt.“

Widerspruch: Nach Ihrer Habilitation, ab 1933, waren Sie in Berlin.

Grassi: Ja, ich habe dort als Honorarprofessor an der Universität Vorlesungen gehalten. Hauptsächlich aber arbeitete ich an der Gründung des italienischen Instituts „Studia humanitatis“ unter der Schirmherrschaft der „Italienischen Akademie“, da ich während der Nazi-Zeit den günstigen Moment sah, unsere humanistische Tradition gegen die Verbreitung des Nationalsozialismus einbringen zu können. Mit Guardini, auch Italiener und nach dem Krieg ebenfalls in München, arbeitete ich sehr eng in Berlin zusammen. Wir konnten seine Arbeiten, die hier nicht gedruckt werden durften, über das Institut, das ja italienisch war, in Italien drucken und den Lesern in Deutschland zukommen lassen. Ich selbst konnte frei arbeiten. Dann wurden die Jahrbücher des Instituts verboten, und ich bin nur durch Zufall lebendig aus Berlin herausgekommen.

Widerspruch: Wann war das?

Grassi: 1943. Nachdem Mussolini gestürzt war und Italien unter Badoglio das Bündnis mit dem Nationalsozialismus aufgekündigt hatte, bin ich aus Deutschland weggegangen. Zuerst war ich in Italien, dann in der Schweiz, wo ich 1945 in Zürich Vorlesungen gehalten und mit Szilasi die Reihe „Geistige Überlieferung“ herausgegeben habe.

Widerspruch: Wie kam es dann zur Berufung nach München?

Grassi: Ich kam zunächst von Zürich zu Gastvorlesungen nach München. 1945 fand in Rom der erste europäische Kongress für Philosophie nach dem Krieg statt, und wir hatten es zusammen mit den Amerikanern erreicht, daß drei Referenten aus Deutschland, die damals eigentlich noch nicht durften, kommen konnten. Einer davon war der bayerische Kultusminister Hundhammer. – Apropos, Rom. Ich kann eine komische Geschichte erzählen. Die drei Deutschen kamen also durch unsere Vermittlung. Der Kongress fand im Senat statt, und der Senat hatte Diener. Ich hörte, als die Deutschen in ihrer Sprache referierten, wie sich zwei Diener unterhielten und der eine zum anderen sagte: „Hast Du es gemerkt? Sie sind schon wieder da.“ – Nun, die anschließende Berufung und Ernennung als Ordinarius für Geistesgeschichte des Humanismus erfolgte durch den Nachfolger von Hundhammer, ein Kollege, der mich noch aus der Freiburger Zeit kannte.

Widerspruch: War die Errichtung dieses Ordinariats, das ja in München keine Tradition hatte, unproblematisch?

Grassi: Ja. Meine Aufgabe war es, all die wissenschaftlichen Beziehungen, die auf dem Gebiet des Humanismus abgebrochen waren, wiederherzustellen. Das Sekretariat war damals im Prinz-Carl-Palais, nicht in der Universität.

Widerspruch: Hatten Sie philosophische Kontakte zu den anderen Münchner Philosophen Aloys Wenzl, Alois Dempf oder Max Müller?

Grassi: Nein, Max Müller kannte ich noch von Freiburg her. Aber philosophisch konnte ich nicht viel mit ihm anfangen.

Widerspruch: Helmut Kuhn?

Grassi: Nein, ich hatte ihn aber früher einmal kennengelernt. – Stattdessen haben Sedlmayr und ich gemeinsame Vorlesungen gehalten. Ich kannte Wenzl.

Widerspruch: Romano Guardini?

Grassi: Die Beziehungen zu Guardini, die in Berlin sehr intim waren, bestanden, als ich hierher kam, kaum mehr.

Widerspruch: Henry Deku?

Grassi: Meines Wissens ist er mit den Amerikanern 1945 hierher gekommen und hatte durch sie hier in München eine Stelle erhalten. Er war ein ausgezeichneter Lehrer der Scholastik. Aber als ich ihn einmal fragte, ob ich ihm nicht helfen könnte, bürokratisch zu einer besseren Stelle zu gelangen, lehnte er ab. Er war in seiner Bescheidenheit ganz zufrieden.

Widerspruch: Die Institute waren also getrennt. Jeder konnte in seinem Institut frei schalten und walten und Kontakte oder Auseinandersetzungen gab es kaum?

Grassi: Ja, ich habe mich gehütet, bei einem anderen Institut irgendwie mitreden zu wollen. Und außerdem hatte ich nie irgendeinen Sinn für Bürokratie gehabt.

Widerspruch: Wissen Sie, wie in München „1945“ aufgearbeitet wurde?

Grassi: Das waren – wie es immer ist – interne Probleme der verschiedenen Fachseminare. Ich habe mich in den 50er Jahren schwerpunktmäßig bemüht, interdisziplinäre Veranstaltungen anzubieten und durchzuführen. Etwa über Kunst mit dem Kunsthistoriker Sedlmayr oder über modernes naturwissenschaftliches Denken mit dem Biologen und Mediziner Uexküll. In den 50er Jahren, aber auch später, habe ich daran gearbeitet, den italienischen Humanismus auf die antike Philosophie zu beziehen, also die antiken Voraussetzungen des modernen Humanismus herauszuarbeiten. Das habe ich als meine Aufgabe gesehen, auch die 22-jährige Herausgabe vor Rowohlts „Enzyklopädie und Klassiker“.

Widerspruch: Hatte die Philosophie, die nach 1945 in München gelehrt wurde, einen einheitlichen, hervorstechenden Charakter, so dass man von einer typisch „Münchner Philosophie“ sprechen könnte?

Grassi: Nein. Es gab die „Frankfurter Philosophie“, aber keine Münchner. Das Philosophieangebot in München war sehr katholisch.

Widerspruch: Wie war es damals mit den Studenten? Sie kamen ja nicht von den Gymnasien, sondern aus dem Krieg mit ganz eigenen Erfahrungen. Hat sich das nicht in den Seminaren niedergeschlagen?

Grassi: Das müssen Sie die damaligen Studenten fragen.

Widerspruch: Ende der 60er Jahre haben Sie die jugoslawischen “Praxis“-Philosophen eingeladen und mit ihnen eine Vorlesungsreihe über Humanismus und Marxismus veranstaltet.

Grassi: Mein Anliegen war es, den Humanismus der Renaissance nicht nur rückwärts zu seinen antiken Quellen hin zu verfolgen, sondern auch vorwärts hin zu Marx. Nach dem Krieg erschienen ja auch Sartres Abhandlungen über das Verhältnis von Existentialismus, Humanismus und Marxismus. Auf der anderen Seite sah ich meine Aufgabe darin, interessante, für die Studenten anregende Veranstaltungen durchzuführen. Und dazu geh6rte es auch, Leute nach München zu holen und ihnen Gehör zu verschaffen.

Widerspruch: War Ihre Haltung zum Marxismus Ausdruck der 60er Jahre oder hatte sie schon frühere Wurzeln?

Grassi: Ja, gewisse Ursprünge waren schon da, aber die eigentlich intensivere Beschäftigung stammt zweifellos aus den 60er Jahren im Zusammenhang mit der Studentenbewegung.

Widerspruch: Wie ist Ihre Öffnung zum Marxismus hin aufgenommen worden?

Grassi: Es gab viel Kritik, auch von Studenten, denen dieser Marxismus nicht gefallen hat. Aber auch von Seiten der Universität. Damals war die Situation so, dass ich Drohbriefe erhalten habe, als ich es wagte, die jugoslawischen Marxisten hierher einzuladen. Es war – trotz solch unschöner Ereignisse – jedenfalls für mein philosophisches Verständnis eine aufregende Zeit. Danach habe ich noch für den Fink-Verlag die Reihe ,Humanistische Bibliothek“ herausgegeben und Vorlesungen an der amerikanischen Universität in Columbia, N.Y. und Pennsylvania und in Südamerika gehalten.

Widerspruch: Lieber Herr Grassi, wir danken Ihnen für das interessante Gespräch.

(Das Gespräch führten: Konrad Lotter und Alexander von Pechmann)

Schindlbeck – Jürgen Habermas und das Asylrecht

Asylrecht und Diskursethik. Eine Antinomie im Denken von Jürgen Habermas

von Bernhard Schindlbeck

I.

II.

III.

Politisch scheitert dieser diskursethische Anspruch jedoch nicht an seiner moralischen Höhe, sondern schon an seiner logischen Unmöglichkeit, wenn es um die Asylgesetzgebung geht. Seiner eigenen Logik nach müssten nämlich Asylbegehrende an der Asylgesetzgebung des Landes, in dem sie um Asyl nachsuchen, als Betroffene auch Teilnehmer des praktischen Diskurses sein, dessen Ergebnis das jeweilige Asylgesetz dann ist. Dies ist aber nicht möglich, da sie nicht Bürger des Landes sind. Die demokratische Deliberation über zu findende Normen und zu beschließende Gesetze findet immer nur im Kreis der zum Land bzw. zum Staat gehörenden Bürger statt. Für die Europäische Union heißt dies heute: im Kreis der EU-Bürger unter Ausschluss aller Nicht-EU-Bürger. Die Forderung nach Beteiligung Außenstehender an der Gesetzgebung eines Landes würde nicht nur seltsam anmuten, sondern würde auch auf eine Verletzung des sogenannten Selbstbestimmungsrechts der Völker hinauslaufen.

Einerseits sollen also die dem Staat angehörenden Bürger gemeinsam über ihre Gesetze entscheiden und dabei alle Interessen aller möglicherweise Betroffenen berücksichtigen. Andererseits sollen nicht nur die Interessen aller betroffenen Menschen berücksichtigt werden, sondern letztere sollen dem diskursethischen Anspruch gemäß wirklich mitsprechen können. Deshalb müssten Asylbegehrende an den Beratungen zur Asylgesetzgebung (sei’s eines Staates, sei’s der gesamten EU) beteiligt werden. Sie sind aber keine Bürger, weshalb sie nicht beteiligt werden können. Dieser Widerspruch ist im nationalstaatlichen Rahmen, in dem jede Demokratie organsiert ist (und auch im Rahmen der EU), schlicht unlösbar. Offensichtlich geraten hier Demokratieprinzip und Diskursethik in eine unauflösbare Antinomie. Und die Behauptung einer Gleichursprünglichkeit scheidet bei einem logischen Widerspruch als Lösung aus.

IV.

Die am 10. April 2024 vom EU-Parlament beschlossene „Asylreform“, der am 14. Mai 2024 auch die EU-Mitgliedsstaaten zustimmten, verschärft die Asylbestimmungen so drastisch, dass die von Europa verfolgte Politik der Abschottung gegen alle Migranten, die nicht unter „Fachkräfteeinwanderung“ subsumiert werden, unübersehbar wird. Die EU beabsichtigt, Flüchtlinge (auch Kinder) unter Haftbedingungen in Internierungslagern an ihrer Außengrenze unterzubringen, ihr Asylbegehren in Schnellverfahren ohne die Möglichkeit des Rechtswegs zu prüfen und bei Ablehnung in irgendwelche Drittländer (die sich vertraglich und gegen Bezahlung dazu bereit erklären) abzuschieben, die auch gar nicht einmal die Herkunftsländer der geflohenen Menschen sein müssen. Man mag diese „Reform“ als Ergebnis einer demokratischen Deliberation in Ministerrat und Parlament betrachten, mit Ethik hat sie nichts zu tun. Diskursethische Prinzipen spielen in der praktischen Asylpolitik keine Rolle. Organisationen wie medico international, Human Rights Watch und Amnesty International sehen in den neuen Regelungen gravierende Verstöße gegen Menschenrechte.

V.

Durch eine Antinomie sieht man sich vor die Frage gestellt, welches der beiden einander widersprechenden Prinzipien aufgegeben werden muss. Hier: entweder die demokratische Selbstbestimmung des Volkes (d.h. der wahlberechtigten Bevölkerung) oder die diskursethisch geforderte Mitsprache und Mitentscheidung aller von der Norm Betroffenen.


  1. Jürgen Habermas, Der demokratische Rechtsstaat – eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?, in: ders., Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt/Main 2001, 133-151, hier 134. ↩︎

  2. ebd., 135. ↩︎

  3. ebd., 141. ↩︎

  4. Wolfgang Kuhlmann, Ethik der Kommunikation. In: Karl-Otto Apel u.a. (Hg.), Praktische Philosophie/Ethik, Band 1, Frankfurt/Main 1980, 276-308, hier: 297. ↩︎

  5. Jürgen Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: ders., Moralbewußt-sein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/Main 1983, 53-125, hier: 103; vgl. auch Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/Main 1997, 49. ↩︎

  6. Vgl. Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt/Main 1998. ↩︎

  7. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/Main 1992, 141. ↩︎

  8. Auf die wichtigen kosmopolitischen Überlegungen von Seyla Benhabib (Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte, Frankfurt/New York 2008; sowie: Kosmopolitismus ohne Illusionen. Menschenrechte in unruhigen Zeiten, Berlin 2016; und: Kosmopolitismus im Wandel. Zwischen Demos, Kosmos und Globus, Berlin 2024) kann hier nicht eingegangen werden. ↩︎

  9. Volker M. Heins/Frank Wolff, Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft, Berlin 2023, 59. ↩︎

  10. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Werkausgabe Band XI, hg. von W. Weischedel, Frankfurt/Main 1996, 214. ↩︎

  11. Gernot Böhme, Ethik im Kontext. Über den Umgang mit ersten Fragen, Frankfurt/Main 1997, 222. ↩︎

  12. Der Spiegel 12/2025, 35 f. ↩︎

  13. Der Spiegel 43/2023, 18. ↩︎

  14. Der Spiegel 46/2024, 17. ↩︎

  15. Seyla Benhabib, Kosmopolitismus im Wandel. Zwischen Demos, Kosmos und Globus, Berlin 2024, 42. ↩︎

  16. Donatella Di Cesare, Philosophie der Migration, Berlin 2021, 7. ↩︎

Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität

Gespräch mit Hans Otto Seitschek

Hans Otto Seitschek (1974-2023) lehrte zuletzt als apl. Professor für Philosophie an der LMU. Im Jahre 2010 gab er den Sammelband
„Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität. Die philosophische Lehre an der Universität Ingolstadt-Landshut-München von 1472 bis zur
Gegenwart“ heraus. Darin waren Beiträge auch anderer Dozenten des philosophischen Seminars (Wolfhart Henckmann, Martin Mulsow, Peter Nickl
und Thomas Ricklin) enthalten. Die Veröffentlichung des Sammelbandes war der Anlass für das Gespräch, das einen guten Einblick in das „geistige Klima gibt“, in dem in München Philosophie gelehrt und studiert wird. 

Widerspruch: Herr Seitschek, im Vorwort zu dem von Ihnen herausgegebenen Buch über die „Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität“ schreiben Sie, dass die Herausgabe eine eigene Geschichte hat. Können Sie kurz erzählen?

Seitschek: Zum ersten Mal kam ich mit dem Projekt 2003 in Berührung, als ich eine Skizze über Rémi Brague anfertigte, der Nachfolger von Hans Maier auf dem Guardini-Lehrstuhl geworden war. Dabei sah ich, dass hinter dem Projekt einer „Institutsgeschichte“ mehr steckte. Sie lag in einer bislang letzten Fassung von 1998 vor. Eines Tages kam ich mit Fräulein Ries, der langjährigen Sekretärin und „Seele“ des Lehrstuhls I, eher zufällig im Café Schneller ins Gespräch, und sie sagte mir, dass die Institutsgeschichte nicht recht weitergebracht wird. Sie war durch verschiedene Hände gegangen, aber keiner hatte sich richtig zuständig gefühlt. Anfang 2009 fragte mich Fräulein Ries dann, ob ich das nicht in die Hand nehmen möchte. Ich habe mich daraufhin mit den an der Herausgabe Beteiligten abgesprochen, mit Herrn Henckmann vor allen Dingen sowie mit Herrn Mulsow, der auf dem Umweg über Amerika jetzt in Erfurt und Gotha, Herrn Nickl, der in Hannover gelandet ist, und mit Herrn Ricklin, der zwischenzeitlich auch an dem Projekt beteiligt war. Dabei kam die Frage auf, wo wir den Einschnitt machen: schon in den 1990er Jahren, oder ob wir das Projekt bis heute (2010) weiterführen sollten. Nach einigen Überlegungen kam ich zu dem Schluss, es bis in die Gegenwart zu führen. Weite Textpassagen waren schon in einem recht guten Zustand, so dass ich nur hie und da Lücken füllen und Veröffentlichungen aktualisieren musste. Ich habe dann noch einige Personenskizzen beigefügt, insbesondere für die Zeit nach 1945 bis heute. Diese Aufgabe war für mich nicht so leicht, weil ich sie über das Jahr 2009 hinweg parallel zu meiner Habilitation in Angriff genommen habe.

Widerspruch: Für wen ist das Buch denn gedacht, für Studenten?

Seitschek: Von Fräulein Ries war es anfangs tatsächlich als Handreichung für Studenten gedacht. Aber es ist dann immer mehr gewachsen, immer mehr Texte kamen hinzu, so dass es ein recht umfangreicher Band geworden ist. Ich würde sagen: Er ist für historisch Interessierte im weiten Sinn.

Widerspruch: Durch das Buch erfährt man, dass die Ludwig-Maximilians-Universität ihren Namen schon 1802 erhalten hat. Die Universität ist also nicht nach König Ludwig I. benannt, der sie erst 1826 von Landshut nach München geholt hat, sondern nach Herzog Ludwig IX., der sie 1472 in Ingolstadt gegründet hatte, bzw. nach Max I. Joseph (dem Vater Ludwigs I.), auf dessen Veranlassung sie 1800 von Ingolstadt nach Landshut verlegt wurde. Diese Wanderung der Universität, auf die ihr Name verweist, geschah ja nicht willkürlich, sondern hatte eine inhaltliche Bedeutung. Was, meinen Sie, waren die Motive und Gründe der …

Seitschek: … translatio universitatis? Zunächst ist festzustellen, dass die Universität immer mehr an die Residenzstadt München heranrückte – aber nicht zu nah. Am Anfang lag das Hauptgebäude der LMU, wie wir es heute kennen, nicht im Stadtkern, sondern am Rande der Stadt. Einerseits wollte man die universitas litterarum an die Residenz und damit ans Zentrum der Macht holen, andererseits die Studenten offenbar nicht zu sehr ins Zentrum der Residenzstadt vordringen lassen. Dabei muss man freilich sehen, dass mit dem Umzug nach München eine wissenschaftspolitisch wichtige Sache verbunden war: die Berufung von Schelling. Er hatte 1826 der Berufung an die nach München verlegte Universität zugestimmt und 1827 mit der Lehre begonnen. Das war sicher eine wichtige Zäsur, die auch im Buch zum Ausdruck kommt. Die beiden Stationen vorher, Ingolstadt und Landshut, waren noch stark durch die neuscholastische Philosophie geprägt gewesen.

Widerspruch: Für uns hat sich ein etwas anderes Bild ergeben. In Ingolstadt hatte es im 18. Jahrhundert heftige Auseinandersetzungen zwischen dem Jesuitenorden, dem die Lehre übertragen worden war, und den Aufklärern gegeben, der 1773 mit der Aufhebung des Jesuitenordens und 1800 mit der Verlagerung nach Landshut endete. Während dieser Landshuter Zeit hat man den Eindruck, dass es sich um eine Periode des Streits zwischen Anhängern Kants und Schellings, also den Aufklärern mit den, vereinfacht gesagt, Romantikern handelt. Dies passt ja auch gut in die Umbruchzeiten zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Es ging also nicht so sehr um die Scholastik.

Seitschek: Um die Scholastik schon gar nicht; wenn schon, dann um die scholastische Tradition oder Methode. Das hat sich vor allem institutionell gezeigt. Inhaltlich wirken – da haben Sie Recht – die Strömungen des, wenn man so sagen will, philosophischen „Sturm und Drangs“ des späten 18. Jahrhunderts in die Landshuter Zeit. Herr Henckmann hat darüber ein sehr schönes Kapitel geschrieben.

Widerspruch: Man gewinnt den Eindruck, dass Landshut im Zeichen einer katholisch geprägten Spät-Aufklärung stand. Diese Zeit war ja in Bayern von dem Reformer Graf Montgelas geprägt, der die Säkularisierung der Kirchengüter durchführte, und von Max I. Joseph, der mit Napoleon verbündet war. Die Nähe zu Frankreich drückte sich in der Philosophie so aus, dass man von der scholastisch geprägten Zeit in Ingolstadt (allerdings auch von dem radikalen Illuminatenorden von Adam Weißhaupt, der 1785 verboten wurde) abrückte und eine bescheidene Art von Volksaufklärung betrieb.

Seitschek: Vielleicht. Man kann aber schon damals gegenläufige Prozesse feststellen: Institutionell orientierte sich die Philosophie tatsächlich noch an älteren Strukturen; aber inhaltlich mussten natürlich die neuen Themen der Zeit – Stichwort: Aufklärung – verarbeitet werden. Das drückt sich in der Münchner Zeit dann in den verschiedenen Lehrstuhltraditionen aus. Ich habe für das Buch eine graphische Darstellung der Lehrstuhlgenealogie erstellt: zum einen der Lehrstuhl von Schelling, den später dann Jakob Frohschammer besetzen konnte; zum anderen gegenläufige Besetzungen, die eher an theologischem Philosophieren orientiert waren (Meilinger u. a.). Ich denke, das ist ein Prozess, den man schon in der Landshuter Zeit sehen kann. Die Philosophie lebt praktisch immer auch vom Antagonismus, von der Dialektik.

Widerspruch: Kurz nach der Verlegung der Universität nach Landshut wurde eine Verordnung erlassen, die es erstmals Nicht-Katholiken und Nicht-Bayern gestattete, an der Universität zu lehren. Es war ein wichtiges Moment der Aufklärung, sich für den protestantischen Norden zu öffnen und sich nicht mehr nur auf katholische Lehrbücher festzulegen, wie noch in der Ingolstädter Zeit.

Seitschek: Ja, sicher. 1801 erfolgte auch die erstmalige Verleihung des Bürgerrechts an einen Protestanten hier in München. Das sind natürlich Strömungen und Entwicklungen, die vor der Universität nicht Halt gemacht haben. Dazu gehören auch die so genannten „Nordlichter“, Intellektuelle und Professoren aus dem Norden Deutschlands, die insbesondere in der Münchner Zeit an der Universität gewirkt haben. Dieser Prozess beginnt schon in der Landshuter Zeit. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass die Institutionen – Studien- und Lehrstuhlstrukturen – in ihrer Entwicklung längere Zeit in Anspruch nehmen als das Denken selbst. Es dauert oft lange, bis etwas weitergeht. Das ist ja bis heute so.

Widerspruch: Für die schließliche Umsiedlung nach München war dann offenbar der Gedanke prägend, die Universität zu einem Bildungszentrum des deutschen Volkes werden zu lassen, dessen Repräsentant Schelling sein sollte, der es 20 Jahre lang dann auch war. König Ludwig I. wollte, dass München nicht nur in Kunst und Architektur, sondern auch in der Wissenschaft ausstrahlt: München als „geistige Hauptstadt des deutschen Reiches“.

Seitschek: So ist es. Es ist festzustellen, dass damit ein Schritt hin zur Öffnung für die philosophisch-wissenschaftliche Avantgarde geleistet wurde, und Schelling die prägende Gestalt war. Er hat zwar dann noch in Berlin eine Spätwirkung entfaltet, aber wesentliche Gedanken, insbesondere zu seiner Naturphilosophie, gehen auf die Münchner Zeit zurück. Und das war, denke ich, nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die Universität als ganze prägend.

Widerspruch: Ludwig I. war ja Romantiker, der München nicht nur zur geistigen Hauptstadt machen, sondern auch in Konkurrenz zu Berlin bringen wollte. Schelling sollte den Gegenpol zu Hegel bilden. Die beiden Jugendfreunde waren zu diesem Zeitpunkt längst zerstritten. Später dominierten in Berlin die Hegelianer, die „Linken“, sag ich mal; während es in München die Konservativen mit Schelling an der Spitze waren. Schelling wurde dafür ja vom bayrischen Staat nicht schlecht bezahlt, sein Gehalt überstieg das anderer Professoren um ein Vielfaches.

Seitschek: Ja, Schelling hat gut verhandelt. Das ist richtig, auch der Antagonismus zu Berlin ist nicht zu vernachlässigen. Hinzukommt freilich, dass zu dieser Zeit das bayerische Königreich noch nicht so alt war und einen Selbststand in sich gesucht hat. Man hat daher versucht, in der Berufungspolitik ein eigenes Profil herauszubilden, und das ist mit Schelling ganz gut geglückt, auch wenn er schließlich vom Gang nach Berlin nicht zurückgehalten werden konnte. In dieser Zeit bilden sich jedoch zwei Lehrstühle heraus: Schelling und Meilinger, der selber Ordenschrist, Benediktiner, war und die gegenläufige Richtung vertreten hat, die nicht durch die Romantik, sondern von der Scholastik her geprägt war und eher ans Theologische anschloss. Auf diesen Lehrstuhl ist in der Folge zwar der Schelling-Schüler Beckers gekommen, in der weiteren Berufungsphase jedoch auch Johann Nepomuk Huber, der anfangs eher als ein konservatives Gegengewicht gesehen werden muss zu Beckers und zu Frohschammer, der zu der Zeit mit der Kirche schon im tiefen Clinch lag. Später schloss sich Huber der Bewegung der „Altkatholiken“ an.

Widerspruch: Wenn man diese Besetzungspolitik betrachtet, – lässt sich Ihrer Meinung nach so etwas wie eine „Grundlinie“ der Münchner Philosophie finden? Gibt es da bei allen syn- und diachronen Differenzen etwas Typisches?

Seitschek: Ja. Im Vorwort habe ich deshalb von der „Münchner Philosophie“ gesprochen. Aber was ist das Besondere? Es ist nicht verkehrt, wenn man sagt, dass in München viele philosophischen Strömungen zusammengekommen sind. Schaut man sich die Institutionen an, so gibt es heute drei Lehrstühle, die in der Tradition auf Schelling und Meilinger zurückgehen. Welche Denktraditionen wurden da genau weitergeführt? Die schellingsche, naturphilosophische Tradition ging weiter mit Karl von Prantl, der ursprünglich klassischer Philologe war. Dann waren die Lehrstuhlinhaber Carl Stumpf, Theodor Lipps, Oswald Külpe, Erich Becher, Richard Hönigswald und nach dem 2. Weltkrieg Aloys Wenzl. Mit ihnen bildete sich eine naturphilosophische Tradition aus, die das Naturdenken nicht im engeren Sinn des scholastischen „natura“-Begriffs, sondern in einem weiteren philosophischen Sinn entwickelt hat. Nach Wenzl teilt sich diese Linie: Sie geht einmal mit Wolfgang Stegmüller weiter, der die Wissenschaftstheorie in München etabliert hat, aber als ein breit angelegtes Projekt, das (Natur-)Wissenschaftler und Philosophen ganz unterschiedlicher Couleur einbezog. Auf der anderen Seite konnte sich der heutige Lehrstuhl II etablieren, auf den zuerst Helmut Kuhn kam, dann Hermann Krings, Dieter Henrich – dazwischen Eckart Förster – bis zu Axel Hutter. Die Linie, die von Schelling ausgeht, teilt sich heute also in den wissenschaftstheoretischen Lehrstuhl, den momentan Carlos Ulises Moulines – selbst ein Stegmüller-Schüler – inne hat, und in den Lehrstuhl II, mit dem Schwerpunkt der klassischen deutschen Philosophie. In beiden Lehrstühlen lebt das Erbe Schellings in unterschiedlicher Weise fort.

Die andere große Münchener Lehrstuhltradition ist die des heutigen Konkordatslehrstuhls, des Lehrstuhls I, der auf Meilinger zurückgeht. Dieser Lehrstuhl wurde mit verschiedenen Unterbrechungen und Umbesetzungen fortgeführt. 1882 kam Georg von Hertling, der später auch kurzzeitig von 1917 bis 1918 Reichskanzler war. Der Lehrstuhl von Hertlings wurde in den 1920er Jahren dann zum Konkordatslehrstuhl, den zunächst Clemens Baeumker, dann Joseph Geyser und Fritz-Joachim von Rintelen innehatten. Im Dritten Reich verödete der Lehrstuhl und blieb unbesetzt. Nach dem Krieg wurden Alois Dempf, Max Müller, Robert Spaemann und schließlich Wilhelm Vossenkuhl auf den heutigen Lehrstuhl I berufen.

Widerspruch: Es lässt sich noch eine andere Kontinuität erkennen. Betrachtet man die Münchner Philosophie auch im kulturellen Rahmen Münchens und Bayerns, so sieht man auf der einen Seite die Fortführung einer Tradition, die letztlich aus der Scholastik kommt. Auf der anderen Seite erkennt man aber immer auch den Versuch der Öffnung zum anderen, dem modernen und gegenwärtigen Denken. Was modernes Denken freilich jeweils ist, das musste immer wieder neu bestimmt werden. Wenn Sie von der naturphilosophischen Tradition des Lehrstuhls II reden, dann muss man bedenken, dass sie einen jeweils anderen Charakter hatte: erst der Psychologismus von Theodor Lipps, dann die eher erkenntnistheoretischen Bemühungen von Erich Becher, ab den 1950er Jahren dann die Wissenschaftstheorie und analytische Philosophie. Dabei scheint es bei der „Münchner Philosophie“ um ein Austarieren zwischen Tradition und Gegenwart gegangen zu sein, so dass man nicht zu konservativ blieb und sich nicht zu sehr von den modernen Entwicklungen abschottete. Dabei entstanden freilich immer wieder Konflikte. Johann Nepomuk Huber etwa hat den Antimodernismus des Papstes nicht mitgemacht; Graf von Hertling sehr wohl. Als die katholische Lehre auf die Antimoderne eingeschworen wurde, war das für die Münchner Philosophie wohl eine recht schwierige Situation, weil man sich ja zugleich den modernen Entwicklungen nicht verschließen wollte. Da kam es beim Austarieren notwendigerweise immer wieder zu Reibereien.

Seitschek: Ja, sicher. Die Philosophie lebt ja von Reibereien. Der Antimodernisten-Eid, der von den Priestern geleistet wurde, nicht aber von jedem Katholiken, drückt in besonderer Weise aus, dass es hier einen Widerstand gegen das gab, was man mit „Moderne“ bezeichnete. Die Frage ist natürlich, ob das nicht eine denkerische Herausforderung ist, die die Moderne für sich einfordert. Die Moderne braucht also einen kritischen Widerpart, um sich selbst, vielleicht auch ausgelagert, zu reflektieren. Das wird, denke ich, gerade an den genannten zwei Traditionslinien deutlich.

Da Sie den „Psychologismus“ genannt haben, möchte ich noch erwähnen, dass die Psychologie sehr eng zur Geschichte unserer Fakultät bis ins 20. Jahrhundert hinein gehörte. Kurt Huber etwa, Mitglied der „Weißen Rose“, hatte am Psychologischen Institut angefangen, wo schon früh empirische Studien geleistet wurden. Dort war von 8 bis 20 Uhr Geschäftszeit, während der Klienten getestet wurden. Es war der moderne Aufschwung der Psychologie, bevor sie sich dann als eigenes Fach verselbständigt hat. Noch immer sind Fakultät 10 (Philosophie) und Fakultät 11 (Psychologie und Pädagogik) institutionell benachbart. Die eine wuchs sozusagen aus der anderen heraus.

Widerspruch: Die Modernisierung nach dem zweiten Weltkrieg durch Stegmüller, die Wissenschaftstheorie und die formale Logik scheint allerdings weniger geplant als ein Zufallsprodukt gewesen zu sein. Stegmüller war damals ja ein Kompromisskandidat. Die eine Gruppe wollte von Rintelen nach München zurückholen, die andere favorisierte Helmut Kuhn. Da man sich nicht einigen konnte, hatte man plötzlich jemanden berufen, der eigentlich nicht hineinpasste, weil er das scholastisch-metaphysische, katholische Klima durchbrach.

Seitschek: Ich würde das für Helmut Kuhn in gewisser Weise auch beanspruchen, der ebenfalls ein eigener Kopf war und zwischenzeitlich im amerikanistischen Institut war, bevor er den Lehrstuhl II besetzen konnte. Aber in der Tat, Stegmüller war von Haus aus promovierter Nationalökonom, der dann Philosophie studiert hatte und in diesem Fach ebenfalls promoviert wurde. Er bringt tatsächlich ein neues Denken: die strukturalistische Wissenschaftstheorie, die am von den Naturwissenschaften, besonders der Physik, herkommenden Paradigma orientiert ist. Die „Logistik“ jedoch, wie die Logik anfangs noch hieß, kam eigentlich nicht von Stegmüller, sondern von Wilhelm Britzelmayr, der beruflich im Bankwesen verankert gewesen war und die formale Logik an die Universität brachte. Sie hat sich dann durch viele Professuren etabliert bis hin zur aktuellen Berufung von Hannes Leitgeb, einem international renommierten Philosophen und Mathematiker, der als Nachfolger von Godehard Link auf einen eigenen Lehrstuhl für Sprachphilosophie und Logik berufen wurde. Auf diese jüngste Entwicklung konnte das Buch leider nur in Fußnoten eingehen.

Widerspruch: Zeitgenossen erinnern sich, dass in den 1960er und 70er Jahren die Vorstellung herrschte, dass die jeweils anderen gar keine Philosophen seien. Man hatte da nicht den Eindruck eines austarierten Zusammenspiels, sondern von zwei Lagern. Für die einen waren die anderen nicht Philosophen, sondern bloß Logiker; und für die anderen war es nur Geschwätz, kein exaktes Denken, was die einen da machten.

Seitschek: Sie meinen die Kontroverse zwischen Max Müller und Wolfgang Stegmüller, die anekdotisch überliefert ist und auch im Buch zitiert wird. Stegmüller zu Müller: „Ich halte das, was Sie machen, Herr Kollege, für die Universität für nützlich, auch wenn ich es nicht für Wissenschaft halte.“ Und Müller gegenüber Stegmüller: „Auch ich halte das, was Sie machen, für nützlich, auch wenn ich es nicht für Philosophie halte.“ Da wird diese Kontroverse zwischen den Lehrstühlen durchaus greifbar.

Widerspruch: Man gewinnt in der Tat den Eindruck, dass die Berufung Stegmüllers ungeplant war, und man die Auseinanderentwicklung der Lehrstühle nicht so vor Augen gehabt hatte. Ansonsten scheinen die entsprechenden Stellen doch immer darauf geachtet zu haben, einen gewissen Ausgleich herzustellen. Dieses Austarieren der Lager scheint, bei allen Veränderungen, doch etwas spezifisch Münchnerisches zu sein, das ja auch gut in die bayerische Tradition passt: nicht zuviel Moderne, aber auch nicht zu konservativ. Inhaltlich ist das natürlich immer ein Suchprozess.

Seitschek: … liberalitas bavariae …

Widerspruch: In Frankfurt oder Marburg, überhaupt in protestantischen Universitäten herrschte doch ein anderes Klima, das nicht durch diese Art der Traditionsbildung geprägt war.

Seitschek: Traditionsbildung gibt es woanders aber doch auch. Ich denke, dass die philosophische Denkbewegung sich nicht so leicht klassifizieren lässt: hie konservativ – da modern. Das ist doch ein lebhaftes Denken, das von fortwährenden Kontroversen lebt. Nicht umsonst geht es Robert Spaemann in einem seiner Essays um „Die kontroverse Natur der Philosophie“ (1983).

Widerspruch: Na ja, es geht doch um den Umgang mit der Tradition. Für von Hertling etwa, aber nicht nur für ihn, war der Gedanke einer philosophia perennis wesentlich. Das muss nicht konservativ im politischen Sinn sein, sondern besteht in der Auffassung, die Moderne und Gegenwart gewissermaßen in Dosen in einen großen Traditionszusammenhang einzubinden. Und das ist ein spezifisches Verständnis von Philosophie, das man so an protestantisch geprägten Universitäten wohl nicht findet.

Seitschek: So gesehen, ja.

Widerspruch: Bei aller Verschiedenheit zeichnet die „Münchner Philosophie“ doch auch aus, welche Berufungen nicht stattgefunden haben. Im Buch wird erwähnt, dass prominente Philosophen, mit denen man nichts anfangen konnte oder wollte, abgelehnt wurden. Das fing mit Fichte an, der nach Landshut kommen sollte, den man aber des Atheismusstreits wegen ablehnte. Dann kam Feuerbach, der Materialist, gegen den sich Schelling persönlich gestellt hatte. Auch Heinrich Heine konnte an der Münchner Universität nicht Fuß fassen. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts waren es dann Habermas und Blumenberg. Bestimmte Leute wollte man trotz der liberalitas bavariae offenbar draußen haben.

Seitschek: Es gehört zum Widerstreit verschiedener philosophischer Richtungen dazu, dass er eben auch ins Berufungspolitische hineinwirkt. Das lässt sich nicht vermeiden. Vielleicht wurde gerade durch diese Ablehnungen ein neuer Eros geweckt. Sie haben es ja alle woanders doch geschafft.

Widerspruch: Aber es geht nicht darum, ob sie es geschafft haben, sondern dass die Münchner sich offenbar hier mit ihnen nicht auseinandersetzen wollten.

Seitschek: Sie meinen, was München mit diesen Denkern hätte sein können? Im Buch geht Martin Mulsow kurz der Frage nach, wie man sich die philosophische Fakultät mit Blumenberg und Habermas hätte vorstellen können. Das wäre natürlich eine besondere Herausforderung gewesen. Aber der philosophische Richtungsstreit steckte offenbar so tief, dass er sich in der Berufungs- und Ernennungspolitik fortsetzte – nicht immer nur zum Wohl der Fakultät. Das muss man klar sagen.

Widerspruch: Welche Funktion hatte eigentlich die Philosophie während der verschiedenen Entwicklungsetappen des philosophischen Seminars? Kann man sagen, dass sie in Ingolstadt in erster Linie Teil der Priesterausbildung war, während später die Gymnasiallehrer im Zentrum der Ausbildung standen? Oft wurden ja auch Gymnasiallehrer zu Professoren. Nach 1945 scheint die Vermittlung einer „christlichen Weltanschauung“ im Zentrum des Interesses gestanden zu haben, auch beim „Studium generale“.

Seitschek: Das spielt alles jeweils eine eigene Rolle. Betrachten wir zunächst die alte Universität, die universitas als solche. Sie hatte die drei oberen Fakultäten, Theologie, Jurisprudenz und Medizin, und die untere, die Artistenfakultät, die ihren Namen von den artes liberales, den sieben freien Künsten, hat. Das Trivium, das am Anfang der Ausbildung stand, und das wir heute noch im Wort „trivial“ kennen, Grammatik, Rhetorik und Dialektik – wobei ich mich frage, ob Dialektik wirklich so trivial ist –, dann das Quadrivium mit Geometrie, Arithmetik, Musik (Harmonik) und Astronomie. Dies hat sich mit der Zeit immer mehr ausdifferenziert, so dass die untere, also die philosophische Fakultät, im Vergleich zu den drei anderen immer mehr aufstieg. Aber in der Tat war es so, dass die Philosophie den Status einer Grundausbildung für alle hatte, für Theologen, Juristen und Mediziner, für die es jeweils abgestimmte philosophische (Vor-)Studien gab.

Widerspruch: Das galt in der Ingolstädter Zeit. Mit den Umbrüchen im 19. Jahrhundert war damit aber Schluss. Mit der Aufklärung kam ja die Auffassung auf, die Philosophie sei nicht Magd der Theologen, sondern eine autonome Wissenschaft. Ich möchte nur an Schellings Rede über das akademische Studium von 1803 erinnern, in der er forderte, dass die Philosophie funktionslos Selbstzweck sein müsse, was er in seiner Münchener Zeit dann wohl auch weitgehend durchgesetzt hat. Das heißt, man wollte zu der Zeit keine Studenten haben, die Philosophie etwas anderes wegen studieren, sondern um der Philosophie willen. Erst danach kam die Frage auf: „Für wen machen wir das eigentlich?“ Und erst dann rückte die Ausbildung der Gymnasiallehrer in den Fokus. Da hatte die akademische Philosophie wieder eine Funktion.

Seitschek: Das gymnasiale Lehramt war in der Tat ein Anker, aber erst im beginnenden 20. Jahrhundert. Da gab es auch Überschneidungen, so dass Gymnasiallehrer auch Professoren wurden. Ein gutes Beispiel ist Aloys Wenzl, der Physiklehrer am Luitpold-Gymnasium gewesen war – und außerdem als Landtagsstenograf einen Weltrekord in Stenografie aufgestellt hatte. Er erhielt 1946 eine Berufung auf den späteren Lehrstuhl II, nachdem er sich bereits 1926 habilitiert hatte und 1938 von den Nazis aus der Uni vertrieben worden war. Was die Lehrerausbildung betrifft, so war in der Tat das Philosophicum lange Zeit Pflicht, und jeder Lehramtskandidat musste einmal eine mündliche Prüfung vor einem Philosophieprofessor ablegen. Von Adorno gibt es übrigens eine sehr schöne Frankfurter Rede, die an Lehramtskandidaten gerichtet ist: „Philosophie und Lehrer“ (1962).

In den 1970er Jahren wurde das Philosophicum dann abgeschafft und in das erziehungswissenschaftliche Studium (EWS) integriert. Das ist eigentlich schade, weil es schön wäre, wenn die Philosophie in der Lehrerausbildung wieder ein Standbein hätte.

Widerspruch: Das war auf die Ausbildung bezogen. Nach der Zeit des Faschismus kam jedoch hinzu, dass man der Philosophie wieder eine gesellschaftliche Aufgabe zusprach, nämlich Werte zu vermitteln, und dass sie in die Öffentlichkeit wirken müsse. Da herrschte das Verständnis, dass die Philosophie nicht nur Teil der Ausbildung ist, …

Seitschek: … sondern im Wesentlichen Bildung vermitteln, den Menschen zum Denken, zum Bedenken anregen soll. Dem Anspruch nach geht das, meine ich, schon auf die Landshuter Zeit zurück, auf die Auseinandersetzungen der Anhänger Kants, Jacobis oder Schellings. Parallel dazu gab es tatsächlich immer die institutionell verankerten Aufgaben der Priester- oder Lehrerausbildung bis in die 1970er Jahre hinein. Erst dann hat sich das Eigentliche der Philosophie entfalten können als einer Philosophie, die frei ist, keinen festen Lehrplan hat, und wo kein Lehrstuhlinhaber Rechenschaft ablegen muss, sondern einfach „drauf loslehrt“. Zu dieser Zeit herrschte der Gedanke vor, dass die Philosophie einen Denkraum gibt, und dass sie damit eine eminent wichtige Funktion für die Demokratie hat, die sich solche Denkräume leisten können muss, anders als in Systemen, wo „man regiert wird“. In der Demokratie spielt der Gedanke der Selbstbeteiligung eine zentrale Rolle, die allerdings eine gewisse Reflexionsfähigkeit voraussetzt und dazu Denkräume benötigt. Das war die Zeit, als die Philosophie tatsächlich eine große institutionelle Freiheit genoss, die sie auch gut genutzt hat: in München Spaemann, Henrich, Beierwaltes oder Hans Maier; da war einiges los. Es wurden hier viele spätere Professoren ausgebildet, die an anderen Orten die Philosophie wiederum stark geprägt haben.

Widerspruch: Und heute? Mit dem „Bologna-Prozess“ wird der Philosophie ja wieder eine ganz andere Rolle zugewiesen. Offenbar sollen Philosophen als Mediatoren, Wirtschaftsethiker, „Firmenphilosophen“, Vermittler etc. qualifiziert werden, also Fähigkeiten erwerben, durch die sie für die Industrie nützlich sein können.

Seitschek: Zuerst hat man angefangen zu zählen: Wie viele Studenten? Wie viele Abschlüsse? Das Ganze wurde wieder stark „verfunktionalisiert“ bis zum heutigen Bachelor/Master-Prozess. In München haben wir allerdings das Glück, einen sehr breiten Lehrkörper zu haben und verschiedene Richtungen abdecken zu können. Für die Philosophie ist und bleibt wichtig, wovon wir schon gesprochen haben, dass nicht nur eine Richtung, Spätidealismus oder was auch immer, vertreten wird, sondern dass es verschiedene Strömungen gibt, die untereinander streiten, aber auch miteinander reden und damit eine gute Grundlage für das Studium bilden.

Widerspruch: Wenn man diese gegenwärtige „Reform“ historisch zu verorten versucht, so erscheint sie uns als ein gewaltiger Bruch mit der Tradition von philosophischer Lehre und Studium. Wie sehen Sie das?

Seitschek: Ja, das ist ein Bruch. Reformen hat es immer gegeben. Die Studien- und Studentenordnungen wurden, wie im Buch dokumentiert, immer wieder umgeschrieben. Aber was wir heute als „Bologna-Prozess“ bezeichnen, ist schon ein sehr harter Einschnitt, weil die Struktur des Bachelorstudiums sich an Studiengängen orientiert, die erstens sehr anwendungsbezogen sind und zweitens nach dem „Baukastenprinzip“ funktionieren. Für die Philosophie erweist es sich als äußerst schwierig, das Studium in solche „Bausteine“ (Module) zu zergliedern. Dahinter steckt der Gedanke, das Studium für die Wirtschaft, wie es so schön heißt, „greifbarer“ zu machen. Der Personalchef, der die Leute einstellt, will wissen, was dahintersteckt, wenn einer mit der Bachelor-Urkunde daherkommt.

Was uns einigermaßen rettet, ist tatsächlich die Vielfalt der Münchner Philosophie, weil wir die verschiedenen „Bausteine“ für ein breit angelegtes Philosophiestudium liefern können. Wir haben beispielsweise praktische Philosophie, einmal mehr in Richtung politischer Philosophie (Julian Nida- Rümelin), einmal mehr in Richtung Ökonomie (Karl Homann); auch in der Antike stehen wir auf mehreren Beinen, der klassischen Metaphysik (Thomas Buchheim), aber auch der antiken Rhetorik (Christof Rapp) und anderen Richtungen. Wenn wir diese Vielfalt, die vor allem in den letzten Jahrzehnten entstanden ist, für den Bachelor nutzbar machen können, ist das ein Standortvorteil gegenüber anderen Universitäten.

Widerspruch: Halten wir fest: In Ingolstadt war es so, dass an der Universität nach kirchlichen Lehrbüchern indoktriniert wurde. Dann kam die Zeit der Reformen in der Landshuter Zeit, die Befreiung des Studiums, weil man sagte, gerade die Philosophie müsse frei sein. Diese Freiheit, haben wir gesagt, herrschte dann wieder von den 1970er bis in die 1990er Jahre, in denen die Münchner Philosophie eine gewisse Ausstrahlung besaß. Jetzt aber befinden wir uns in einer Phase, in der das Studium sich an den Personalchefs orientiert. In Ingolstadt musste man darauf achten, was der Herzog oder der Bischof über die Ausbildung sagt; im München des Jahres 2010 muss man darauf achten, was der künftige Personalchef dazu sagt. Erscheint das nicht nur als ein Einschnitt, sondern in historischer Sicht als ein großer Rückschritt?

Seitschek: Wenn man mutig ist, muss man sagen, das es der bisher größte Einschnitt in der philosophischen Lehre ist. Die Philosophie muss jetzt einem Studienschema Genüge leisten, das für ganz andere Fächerkulturen geschaffen wurde. Das ist wie die Quadratur des Kreises. Schaut man sich bei anderen Universitäten um, sieht man, wie schwer sich die Philosophie dort tut. In Eichstätt z.B. wird es vorerst keinen grundständigen Philosophiestudiengang mehr geben. Mag sein, dass wir die Freiheit zuvor zu sehr genossen, zu vollmundig genommen haben. Man konnte sich zu meiner Studienzeit im Magisterstudium mit drei Proseminarscheinen zur Zwischenprüfung anmelden – immerhin gab es schon eine Zwischenprüfung. Zuvor gab es teilweise nur die Lehramtsstudiengänge und die Promotion. Wie man dorthin kam, war sehr frei gestaltet. Vielleicht gab es zu wenig Strukturen, und die Freiräume wurden zu sehr ausgenutzt.

Was dann allerdings kam, war eine politische Überreaktion. Man spricht zwar vom gemeinsamen europäischen Hochschulraum, was sehr schön nach Freiheit klingt, wenn man in München anfängt, in Paris weitermacht und in London abschließt. Das sind tolle Ideen. Es steht aber sehr zu befürchten, dass sie Utopien bleiben. Der Grund dafür ist, dass auf der anderen Seite die massive Verschulung droht, die „Einkastelung“ des Studiums, um es so funktional zu gestalten, dass es wirklich jeder Personalchef kapiert. Früher hielt man Seminare, die zwei, drei Semester lang fortgesetzt wurden, weil sich eine Gruppe von Studenten zusammenfand, die an einem bestimmten, komplizierten Text, wie Hegels „Logik“, dranbleiben wollte. Das ist in der jetzigen Situation praktisch unmöglich. Man kann nur hoffen, dass sich kleinere und größere Schlupflöcher auftun, so dass die Philosophie den genuinen Eros des Denkens behält – auch im Bachelor.

Widerspruch: Kommen wir zum Schluss noch einmal auf das Buch zurück. An einigen Stellen scheint die Darstellung sehr harmonisierend zu sein, als handle es sich um eine Werbeschrift für die „Münchner Philosophie“. Zwei Punkte sind uns aufgefallen: zum einen schreiben einige Autoren über sich selbst; zum anderen passt einmal die Fußnote nicht recht zum Text. Im Text heißt es, der Lehrstuhl für Humanismus sei quasi als „Abrechnung“ mit dem Dritten Reich und mit dem Ziel, sich auf die humanistischen Werte der europäischen Tradition zurückzubesinnen, geschaffen worden; er sei dann mit Ernesto Grassi besetzt worden. In der Fußnote steht, dass Grassi mit dem Nationalsozialismus und dem Faschismus zusammenarbeitete, 1938 in Berlin Honorarprofessor war und bei Alfred Rosenberg veröffentlicht hatte.

Seitschek: Das ist wieder ein Beispiel für den Widerstreit in der Philosophie. Grassis Persönlichkeit ist nicht so leicht zu fassen und sehr schillernd. Seine Schüler, die sich auch um die Texte im Buch gekümmert haben, sehen das aus ihrer Erfahrung mit ihm oft anders. Man soll es aber nicht verschweigen: Er war zur Zeit des Dritten Reichs in Rom und in Berlin aktiv. Wollte er sich dort lediglich Möglichkeiten zur Veröffentlichung verschaffen, oder verstand er sich als eine Art Vordenker?

Widerspruch: Darüber hinaus scheint das Buch sehr aus Sicht der Ordinarien geschrieben zu sein. Die Darstellung ist von den Professoren her gedacht, von ihrer Sichtweise und Position, so dass man den Eindruck einer Darstellung von oben nach unten hat: erst die Ordinarien, dann die Ex- traordinarien usw. Studenten kommen eigentlich nur dann vor, wenn sie aufmüpfig waren. Sie scheinen eigentlich nicht zum Korpus zu gehören. Zudem erfährt man von Konflikten oft nur unterschwellig. Von Max Müller etwa heißt es, er habe sich aufgrund der Auseinandersetzungen in den 1960er Jahren enttäuscht zurückgezogen. Aber dass er selbst auch ordentlich zur Sache gegangen ist, erfährt man nicht. Auch über die Diskussionen am Ende der Weimarer Republik oder, gerade in München, über die Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Altkatholiken Mitte des 19. Jahrhunderts erfährt man wenig. Es gibt zwar Hinweise, aber manches erscheint als zu glatt.

Seitschek: Na ja. Das Buch ist zusammenführend, würde ich sagen. Die Darstellung ist gewiss nicht die von disiecta membra; eine gewisse innere Bezogenheit und Linienführung nehme ich für mich schon in Anspruch. Ob harmonisierend? Vielleicht an manchen Stellen. Man hätte da mehr schaffen können, wenn mehr persönliche Berichte vorhanden gewesen wären. Ich habe Max Müller nicht persönlich kennen gelernt, aber vieles aus anschaulichen Berichten erfahren. Ja, der konnte zur Sache gehen.

Widerspruch: Er wollte ja die Studenten mit dem Schlauch aus der Uni spritzen. Der „Widerspruch“ hat vor zwei Jahren zum 40. Jubiläum ein Heft zu „1968“ herausgegeben mit dem Erfahrungsbericht eines Philosophiestudenten, der das damalige Studium nicht von oben, sondern von unten schildert. Da sind schon einige interessante Dinge passiert.

Seitschek: Das ist sicher für eine weitere Auflage oder ein noch größeres Projekt interessant. Manche haben mir gesagt, man könne die Geschichte des Faches von 1472 bis heute nicht auf ein paar hundert Seiten zusammenfassen. Das ist richtig: Man könnte über jeden Lehrstuhl einen eigenen Band schreiben. Die Frage ist, was man als Habilitand mit einer halben Stelle leisten kann, der ein solches Projekt praktisch nebenher machen muss. Mit dem vorliegenden Buch ist jetzt jedenfalls ein Anfang gemacht. Sollte eine zweite Auflage möglich sein, müsste man solche Erfahrungsberichte einfügen. Ich habe auch schon gesehen, wo man tiefer bohren muss: die Weimarer Zeit oder 1968, wie Sie sagten, überhaupt die Schwellen- und Übergangszeiten. Man sollte sich auch das Verhältnis der Fakultät zur Bayerischen Akademie der Wissenschaften oder zur Görres-Gesellschaft anschauen. Sie sehen, das Projekt einer Geschichte der Philosophie an der LMU ist ein „work in progress“, dem wir wohl alle eine Fortführung und Erweiterung wünschen.

Widerspruch: Herr Seitschek, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch führten Konrad Lotter und Alexander von Pechmann