Akbarian – Recht brechen

Samira Akbarian

Recht brechen. Eine Theorie des zivilen Ungehorsams

Pb., 172 Seiten, 16.-.€

München 2024 (C.H. Beck-Verlag)

von Bernd Malunat

Ziviler Ungehorsam gehört seit langem zum politischen Prozess der Bundesrepublik. Doch vor allem seit dem Auftreten der sich ‚Fridays for Future‘ nennenden Bewegung von überwiegend jüngeren Aktivist:innen, die Politik, Gesellschaft und Wirtschaft durch ihr Engagement dazu herausfordern, die Bedingungen der natürlichen Umwelt zu achten, insbesondere dem Schutz des sensiblen Klimas gerecht zu werden, ist die Diskussion wieder virulent geworden. Sie begründen ihren Ungehorsam mit der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass es gegenwärtig, vor allem jedoch in absehbarer Zukunft zu gravierenden und unumkehrbaren Veränderungen der globalen Lebensbedingungen, den sogenannten „Kipppunkten“, kommen wird, von denen die kommenden Generationen in unzumutbarer Weise betroffen sein werden. Deshalb ist es erforderlich, sich mit denen, die das Recht brechen, wissenschaftlich, rechtlich, politisch und moralisch auseinanderzusetzen,.

Das Titelbild des Buches zeigt leshia Evans, eine junge schwarze Aktivistin, die scheinbar furchtlos einer Gruppe schwerbewaffneter Polizisten gegenübertritt, um für ihre Rechte einzustehen. Dieses ikonische Bild verdeutlicht exemplarisch das Anliegen der Autorin mit ihrem als Plädoyer anzusehenden Ansatz: wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Es kann jedenfalls als Appell verstanden werden, gegen als ungerecht empfundene Gesetze aufzubegehren, als Pflicht mündiger, aufgeklärter Bürger, im Interesse des Gemeinwohls zu handeln.

Fast natürlich stellt sich damit die Frage, ob es überhaupt zulässig sein kann, gegen Gesetze zu verstoßen, die in einem formellen rechtsstaatlichen Verfahren von einem demokratisch legitimierten Parlament erlassen worden sind. Mit dieser antagonistischen Situation befasst sich Samira Akbarians ‚Theorie des zivilen Ungehorsams‘ auf sehr anspruchsvolle, fast dialektische Weise, durch die ihre Schrift im Wortsinn ‚lehrreich‘ wird. Man muss ihrer Darlegung nicht folgen – sie wird von einigen Rezensenten entschieden abgelehnt –; sie enthält dennoch interessante Überlegungen, die den Raum der recht verfahrenen Diskussion weiten.

Juristische Grundlagen eines zivilen Ungehorsams oder bürgerlichen Widerstands bilden die verfassungsmäßig verbrieften Grundrechte der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), das Recht, seine Meinung frei zu äußern (Art. 5 GG), und das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 GG), die jedoch alle unter dem Vorbehalt der Gesetze stehen. Im Grunde geht es den Protesthandlungen darum, eben diesen Gesetzen zu widerstehen, da sie von Überzeugungen, Gewissensentscheidungen oder moralischen Erwägungen motiviert werden, die für sie zwingender sind als diese einfachen Gesetze (23). Darüber hinaus bedarf es freilich auch eines realen materiellen Grundes dieser Erwägungen, der in der Abhandlung jedoch kaum in Betracht gezogen wird.

In Anlehnung an John Rawls‘ ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ erörtert die Autorin den zivilen Ungehorsam als eine öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte, aber gesetzwidrige Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen solle (56). Diese Gratwanderung an der Grenze von Legalität und Legitimität, zugleich die Schnittstelle von Recht und Moral, sei jedoch nur gerechtfertigt, wenn dadurch zugleich die liberale Ordnung stabilisiert werde. Liberale Ordnung bedeutet diesem Ansatz zufolge, dass die universellen und unveräußerlichen Menschenrechte dem durch demokratische Mehrheitsentscheidungen zustande gekommenen Recht vorausgehen. In Rawls’ Verständnis ist das Recht also weniger Ausdruck des Gemeinwillens als Instrument zum Schutz der individuellen Autonomie.

Während es Rawls in seiner liberalen ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ also vor allem um Freiheit und (Chancen-)Gleichheit geht, kritisiert Jürgen Habermas mit seinem deliberativen Ansatz, dass diese Rechte im Liberalismus wie Republikanismus überbetont seien, weil in einem demokratischen Rechtsstaat die Menschenrechte und die Volkssouveränität ‚gleichursprünglich‘ sind, wodurch Recht und Moral, Legalität und Legitimität, in Übereinstimmung gebracht werden. Deshalb, so seine Schlussfolgerung, sind in einem demokratischen Rechtsstaat die Gesetze grundsätzlich zu befolgen. Zwar dürfe daraus kein blinder Gehorsam, kein ‚autoritärer Legalismus‘ folgen, vielmehr verbleibe den Bürgern die Möglichkeit, Gesetze des Parlaments und Maßnahmen der Regierungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Allerdings müssen sich zivil Ungehorsame mit der Verfassung identifizieren. „Ziviler Ungehorsam wird damit zu einem Ausdruck von Verfassungspatriotismus“ (63); er ist moralisch begründeter Protest, ein öffentlicher Akt, der die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen einschließt, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen aufzugeben. Dieser verlangt daher erstens die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen, dass zweitens der Ungehorsam symbolischen Charakter hat, und dass er sich drittens auf gewaltfreie Mittel beschränkt. Damit wird ziviler Ungehorsam in der Tat zum Ausdruck von Verfassungspatriotismus, weil im demokratischen Rechtsstaat die Loyalität weder der politischen Gemeinschaft noch den einfachen Gesetzen, sondern allein der Verfassung gilt.

Ferner argumentiert Habermas, dass sich der zivile Ungehorsam auf ein dynamisches Verständnis der Verfassung stützt, die kein fertiges Gebilde, sondern ein revisionsbedürftiges Unternehmen sei, das darauf angelegt ist, die Rechte unter wechselnden Umständen besser zu interpretieren, also lebendig zu sein. Schließlich wirke dieser Ungehorsam auch integrierend, weil die Bürger von der politischen Willensbildung, die von den Parteien, Verbänden und der Wirtschaft dominiert wird, sonst weitgehend ausgeschlossen blieben. Ziviler Ungehorsam steht für Habermas also nicht im Widerspruch zum demokratischen Rechtsstaat, sondern ist Teil dieser Ordnung (85).

So weit, so überzeugend, könnte man sagen. Wie aber ist es zu beurteilen, wenn ziviler Ungehorsam nicht auf Integration und Stabilität zielt, sondern an den Fundamenten rüttelt, weil die gegebene Ordnung nicht als gut und gerecht erscheint? Solchen radikaldemokratischen Theorien geht es darum, das genuin Politische, also die den Institutionen und deren Funktionen vorausliegenden, den formellen Prozess aber bestimmenden Prämissen, die Machtungleichgewichte und strukturellen Gerechtigkeitsdefizite, aufzuweisen. Es geht dann nicht mehr darum, einen Konsens herzustellen, sondern ihn zu dekonstruieren, die Fundamente zu hinterfragen. Das gilt insbesondere für das bestimmende Verhältnis von Recht und Macht, weil das Recht mit Zwang durchgesetzt werden kann und zudem über die definitorische Macht verfügt. „Viele radikaldemokratischen Ansätze“, so die Autorin, „lehnen daher den zivilen Ungehorsam ab, weil er der bestehenden Ordnung zu nahe steht, zu ihrer Stabilisierung beiträgt und nicht deren Infragestellung dient“ (100). Sie stehen „damit für eine kontinuierliche Revisionsbereitschaft und eine Anerkennung der Unsicherheit demokratischer Gesellschaften“ (120) und können deshalb als disruptive Form einer Verfassungsinterpretation, als Dekonstruktion etablierter Interpretationen betrachtet werden (154).

Schließen sich diese radikale Infragestellung der Annahmen demokratischer Gesellschaften und eine konstruktive Verfassungsinterpretation deshalb aus? Als eine Art von Kompromiss trägt Akbarian nun eine ethisch begründete Konzeption zivilen Ungehorsams vor, in dem der Bruch von Gesetzen die Verwirklichung eines höheren moralischen Gesetzes darstellt, dessen Maßstab das eigene Gewissen oder religiöse und spirituelle Überzeugungen sind. Prominente Zeugen dieser Auffassung sind einerseits der Philosoph Sokrates, der sich in der Konsequenz seiner Haltung das Leben nimmt, andererseits die politischer agierenden Henry David Thoreau, Mohandas Karamchand Gandhi sowie Martin Luther King. Bei allen Unterschieden ist ihnen gemeinsam, dass für sie eine höhere Wahrheit verpflichtender ist als das staatliche Gesetz. Als ein zeitgenössisches Beispiel dafür kann die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen (Art. 12a, Abs. 2 GG) dienen, die belegt, dass eigene Glaubensüberzeugungen mit staatlichem Recht vereinbar sein können, obwohl sie anderen normativen Welten entstammen (136); die Autorin nennt das ‚Rechtspluralismus‘ (122). Ethisch motivierter Ungehorsam dürfe als Verfassungsinterpretation aber nur dann angesehen werden, wenn sich in ihm die Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Verfassung, nicht aber die Hoffnung auf eine Revolution zeige. „Wenn die Welt durch die Verfassung verändert werden soll, dürfen Vision und Realität nicht zu weit auseinanderliegen“ (139). Ethischer Ungehorsam „praktiziert im Hier und Jetzt schon jene gute Ordnung, die er für die Zukunft erst erträumt“ (154). Man mag darin eine Annäherung zwischen demokratisch und radikaldemokratisch motiviertem Ungehorsam ausmachen.

Gegen Ende ihrer Schrift wird die Autorin konkret politisch, wenn sie den Klimaaktivist:innen gerechtfertigten zivilen Ungehorsam zubilligt – entgegen einer verbreiteten öffentlichen, aber auch politischen Auffassung, die sie gern als ‚Extremisten‘ oder gar ‚Kriminelle‘ einstuft. Diesen Ungehorsamen gehe es darum, die Erde für die Menschheit zu erhalten, die globale Abhängigkeit der Menschen untereinander und zwischen Mensch und Natur zu erkennen. Ein solcher ziviler Ungehorsam zeichne sich durch eine Richtigkeitsüberzeugung aus, ohne sie jedoch mit einem Totalitätsanspruch durchsetzen zu wollen, und der deshalb gewaltfrei sein muss. Dabei sollte die Einsicht bedacht werden, dass Protestbewegungen oftmals erst in der Retrospektive legitim erscheinen (148), nicht zuletzt deshalb, weil ‚Privilegierte ihre Privilegien selten freiwillig aufgeben‘ (Martin Luther King) – für große Teile der Weltbevölkerung könnte es dann aber bereits zu spät sein. Doch auch für Demokratien könnte es zu spät sein: Wenn Wetterereignisse zu unablässigen Katastrophen führen, helfen allenfalls noch diktatorische Maßnahmen, für die die jetzt schon häufig erklärten Notstände ein unverkennbares Indiz bilden.

Abschließend erklärt Samira Akbarian, dass sie mit den dargestellten Zugängen keine einheitliche Theorie des zivilen Ungehorsams vorlegen, sondern aufzeigen wollte, dass die demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung Raum für Widerspruch und Träume, für ein dynamisches Verfassungsverständnis bietet, um die Vision einer gerechten, guten Gesellschaft auf den rechtsstaatlichen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit zu verwirklichen – auch wenn es dazu manchmal erforderlich ist, das Recht zu brechen.

Die anregende, sehr selbstbewusst im Ich-Modus verfasste Schrift – für eine wissenschaftliche Arbeit eher ungewöhnlich – lässt allerdings den Bezug zur Brüderlichkeit, also zum sozialen Rechtsstaat vermissen, um den es den ungehorsam Widerständischen doch auch geht. Durch den Rückgriff auf ein überpositives Naturrechtsdenken ließe sich die Verbindung von Recht und Moral, die in Artikel 1 des Grundgesetzes kodifiziert ist, noch deutlicher darstellen.

Ernesto Grassi – Reisen ohne anzukommen

ein Gespräch

Ernesto Grassi (1902-1991) studierte Philosophie an der Universität Mailand, wo er 1925 promovierte. 1928 ging er zu Heidegger nach Freiburg, wo er bis 1938 als Lektor für Italienisch und Lehrbeauftragter für Philosophie lehrte. 1938 ging er nach Berlin und gründete dort 1942 das Institut studia humanitatis. Nach dem Weltkrieg war er 1947 für das Erscheinen von Heideggers Humanismusbrief verantwortlich und gründete 1948 in München das Centro italiano di studi umanistici e filosofici. Ab 1965 leitete er bis zu seiner Emeritierung 1973 das Seminar für Philosophie und Geistesgeschichte des Humanismus an der LMU. – Ab 1955 war Grassi bis 1980 Herausgeber der einflussreichen Taschenbuchreihe Rowohlts deutsche Enzyklopädie.

Widerspruch: Herr Grassi, Sie sind Italiener. Ist es richtig, dass Sie schon vor 1933 nach Deutschland gekommen sind?

Grassi: Ja, es war 1928. Vorher war ich allerdings in Frankreich. Kurz nachdem ich meinen Doktor gemacht habe, bin ich zu Maurice Blondel gegangen, der damals durch sein Buch „L’action“ in Italien berühmt geworden war.

Widerspruch: Ihr Studium haben Sie also noch in Italien beendet?

Grassi: Ja. Nach dem Gymnasium war ich 1924 einer der drei einzigen Studenten der katholischen Universität in Mailand, die im selben Jahr von Pater Gemelli gegründet worden war. Gemelli war eine höchst zweifelhafte Figur: ein Franziskaner, der erst Sozialist war, sich dann bekehrte und die katholische Universität gegründet hat. Mein Vater hatte in Pavia Medizin studiert, und mit ihm zur gleichen Zeit Gemelli; damals war er noch sozialistischer Revolutionär. Als mein Vater erfuhr, dass ich mit ihm in Beziehung stand, warnte er mich: „Hüte Dich vor dem, der ist ein großer Gauner. Der hat bei Golgi, dem großen Gehirnpathologen, den Spiritus für die anatomischen Präparate geklaut und verkauft, um an Geld zu kommen.“ Gemelli war ein unglaubliches organisatorisches Talent.

Widerspruch: Bei wem haben Sie hauptsächlich studiert? Welche philosophische Richtung?

Grassi: Mit Gemelli habe ich schnell Krach bekommen. Von der katholischen Universität bin ich dann auf die öffentliche in Mailand gewechselt. Dort hatte ich einen großartigen Lehrer, namens Martinetti. Martinetti war ein merkwürdiger Mensch. Er war katholisch und ein entschiedener Gegner von Croce und Gentile, den damaligen Vertretern des deutschen Idealismus. Er war sonst sehr sanft, aber wenn drei Namen fielen, Gentile, Croce und Gemelli, dann wurde er rot; also wirklich wie ein Huhn. Er unterbrach dann einfach seine Vorlesungen, die er über Kant gehalten hatte. Leider war er so vertieft in seine Philosophie, dass er sich um uns Studenten wenig kümmerte, auch nicht um meine Doktorarbeit. Er las immer schon um 7 Uhr morgens, weil er nur wenig Studenten haben wollte.

Widerspruch: Mussolini und der italienische Faschismus sind ja schon 1923 an die Macht gekommen. Welche Einflüsse hatte der Faschismus auf die italienische Universität?

Grassi: Alle Professoren mussten einen Treueeid auf den Faschismus schwören. Martinelli war einer der vier einzigen Professoren, die sich geweigert haben, zu schwören. Überhaupt wollte er mit der Institution der Universität nichts zu tun haben. Er ging immer mit einer kleinen Mappe herum. Und als ich ihn eines Tages danach fragte, machte er sie auf, und da waren Krawatten darin. „Was soll das?“ fragte ich. Und er sagte: „Ich werde nie zugeben, dass ich ein Universitätsprofessor bin. Wenn ich gefragt werde, dann sage ich, ich bin Krawattenverkäufer.“

Widerspruch: Sie kommen also aus einer katholischen Tradition?

Grassi: Ja, aber ich wandte mich bald von der katholischen Tradition ab und studierte den italienischen Idealismus, d.h. vor allem Gentile und Croce. Der Idealismus war in Italien eine Philosophie, die mit dem Katholizismus nichts zu tun hatte.

Widerspruch: Nach dem Abschluss Ihres Studiums gingen Sie nach Frankreich zu Maurice Blondel?

Grassi: Blondel war ein großartiger, rührender Mann, aber wieder so katholisch. Er las nicht mehr, weil er schon fast blind war, und so ging ich privat zu ihm für ein paar Stunden, um ihn wenigstens zu hören. Nach drei Monaten ging das nicht mehr. Später kam einmal jemand nach einem Vortrag zu mir und sagte, er habe einen Brief von Blondel, in dem er schreibt, ich sei zu einem gewissen Heidegger nach Deutschland gegangen, der wohl so eine Art Gentile sei.

Widerspruch: Von Frankreich aus sind Sie nach Deutschland gekommen?

Grassi: Zuerst bin ich zurück nach Italien und habe eine Zeit am Gymnasium unterrichtet. Nach Deutschland bin ich 1928 gekommen. Ich war damals 26 Jahre alt. Anfangs habe ich unter anderen Max Scheler gehört, aber gemerkt, dass mir das nicht zusagte. Ich war nur ein einziges Mal in Marburg bei Heidegger im Seminar gewesen – „Sein und Zeit“ war gerade erschienen –, aber ich habe gemerkt, dass für mich seine Philosophie die entscheidende Herausforderung war. Heidegger sagte zu mir jedoch, es habe gar keinen Sinn, jetzt in Marburg zu bleiben, ich solle doch gleich nach Freiburg kommen, was ich dann tat.

Widerspruch: Wie war Ihr Verhältnis zu Heidegger?

Grassi: Heidegger war ein unglaublicher Pädagoge, erbarmungslos gegen uns Schüler. Wir interpretierten bei ihm damals das IV. Buch der ‚Metaphysik‘; und er forderte immer: „Ja, lest doch, was im Buch steht, und fangt nicht an, selbst zu philosophieren.“ Also, ich habe mir gesagt, nur mit ihm. Von 1929 bis 1931 habe ich an seinen Seminaren teilgenommen. Bei den Vorlesungen war auch der Spanier Ortega y Gasset und sein Schüler Zubiri. Der war ein sehr schöner Mann, und alle Mädchen haben sofort auf ihn reagiert; und er war Jesuit, was aber niemand wusste. Ich fragte einmal Heidegger, ob er Zubiri kenne. Ja, meinte er. ,,Wissen Sie, was er ist?“ „Nein, wieso?“ Ich sagte: „Er ist Jesuit.“ „Herrgott“, rief er, ,und ich glaubte immer, doch eine Nase für Jesuiten zu haben. Das hätte ich nie vermutet!“ Jesuitisch jedenfalls war Heidegger, der ja ursprünglich auch vom Katholizismus herkommt, keineswegs. – Zudem war Heidegger keineswegs altprofessoral, wie etwa noch Husserl, dessen letzte Vorlesung über Descartes ich noch gehört habe. Heidegger war gegenüber den Studenten gar nicht hochnäsig, sondern immer neugierig. Aber er war unglaublich sensibel gegenüber öffentlicher Kritik. Damals war kurz zuvor sein Buch über Kant erschienen, und er war nach Frankfurt zu einem Vortrag eingeladen worden. Die „Frankfurter Zeitung“ veröffentlichte eine scharfe Kritik, die ein dortiger Professor geschrieben hatte. Ich fragte ihn, wie es in Frankfurt war. „Ich werde dort niemals mehr lesen.“ „Warum?“ „Diese Kritik, bitte lesen Sie!“

Widerspruch: Wie haben Sie Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus damals aufgenommen? Führte dieses Engagement zum Bruch zwischen Ihnen?

Grassi: Ich war in Freiburg zuerst italienischer Lektor, habe dann einen Lehrauftrag erhalten und wurde Honorarprofessor. Damals hatte ich mich mit einem Juden angefreundet, von dem Heidegger mir sagte, dass er der einzige sei, der wirklich etwas von ihm verstehe; die anderen seien noch zu sehr Schüler. Das war Werner Szilasi, ein Schüler Husserls. Eines Tages hat Heidegger wegen des Problems des Judentums im Nationalsozialismus mit Szilasi gebrochen. Wir Italiener hätten in dieser Situation im Faschismus wenigstens gesagt: „Verzeih mir, ich bin dazu verpflichtet; aber wir bleiben Freunde.“ Das war bei Heidegger gar nicht. Ich bin nicht mehr in seine Vorlesungen gegangen.

Widerspruch: Gab es für Sie nicht auch philosophische Gründe, sich von Heidegger zu trennen?

Grassi: Selbstverständlich, das war Heideggers Anti-Humanismus. Er lehnte die philosophische Bedeutung des Humanismus ab. Nicht nur in „Sein und Zeit“, sondern auch in seinem „Brief über den Humanismus“, wo er den Humanismus einfach mit dem römischen homo humanus gleichsetzte. Seiner Auffassung nach umfasst die humanistische Konzeption nicht das Problem des Seins, sondern reduziert sich nur auf eine Anthropologie.

Widerspruch: Aber Ihre Habilitationsschrift über die Platonische Metaphysik haben Sie trotzdem Heidegger gewidmet?

Grassi: Ich muss sagen, dass ich das Verständnis der Antike Heidegger verdanke. Die Italiener waren solche Hegelianer, dass sie sagten: „die Antike, schön; aber heute haben wir nichts mehr damit zu tun“. Hier hat Heidegger einen Zugang zur Antike eröffnet. Meine Habilitation, eine Neuinterpretation des „Menon“, war ein erstes Echo darauf, und ich habe diese Arbeit Heidegger gewidmet. Croce hat damals gewollt, dass das Buch bei ihm erscheint. Er wusste damals nichts von Heidegger, sonst hätte er das Angebot niemals gemacht.

Widerspruch: Haben Sie Heidegger nach 1945 noch einmal getroffen?

Grassi: Ich habe ihn gleich drei Wochen nach Kriegsende in seiner Hütte bei Todtnauberg besucht, wo er mir das Manuskript zur Veröffentlichung seines „Briefs über den Humanismus“ gegeben hat. Also, diese Beziehung war noch da.

Widerspruch: Überrascht Sie die öffentliche Diskussion heute über Heideggers Rolle im Nationalsozialismus?

Grassi: Nein, Heidegger war vielleicht der einzige wirkliche Nationalsozialist; darüber zu diskutieren ist sinnlos. Die eigentliche Frage – die heute so journalistisch abgehandelt wird – ist, warum dieser Mann von seinem spekulativen Standpunkt den Nationalsozialismus für richtig hielt. Es ist ein wissenschaftliches Problem, es hängt aber eben auch mit seinem Charakter zusammen. Ich erinnere mich, dass er einmal – er war schon Rektor gewesen und hatte sich zurückgezogen – sehr schlechter Laune war. Ich dachte, weil man ihn abgesetzt hatte. Es war aber, weil die Nazis ihn aus dem Komitee zur Herausgabe des Nietzsche-Werks entlassen hatten. Ich gratulierte ihm und meinte, dass es auch so gute Leute wie Walter Friedrich Otto und Karl Reinhardt getroffen hatte. Seine Antwort war buchstäblich: „Die Sache ist keineswegs so einfach. Heute morgen habe ich mich gegenüber der Nachwelt gerächt. Ich habe Aufzeichnungen verbrannt.“

Widerspruch: Nach Ihrer Habilitation, ab 1933, waren Sie in Berlin.

Grassi: Ja, ich habe dort als Honorarprofessor an der Universität Vorlesungen gehalten. Hauptsächlich aber arbeitete ich an der Gründung des italienischen Instituts „Studia humanitatis“ unter der Schirmherrschaft der „Italienischen Akademie“, da ich während der Nazi-Zeit den günstigen Moment sah, unsere humanistische Tradition gegen die Verbreitung des Nationalsozialismus einbringen zu können. Mit Guardini, auch Italiener und nach dem Krieg ebenfalls in München, arbeitete ich sehr eng in Berlin zusammen. Wir konnten seine Arbeiten, die hier nicht gedruckt werden durften, über das Institut, das ja italienisch war, in Italien drucken und den Lesern in Deutschland zukommen lassen. Ich selbst konnte frei arbeiten. Dann wurden die Jahrbücher des Instituts verboten, und ich bin nur durch Zufall lebendig aus Berlin herausgekommen.

Widerspruch: Wann war das?

Grassi: 1943. Nachdem Mussolini gestürzt war und Italien unter Badoglio das Bündnis mit dem Nationalsozialismus aufgekündigt hatte, bin ich aus Deutschland weggegangen. Zuerst war ich in Italien, dann in der Schweiz, wo ich 1945 in Zürich Vorlesungen gehalten und mit Szilasi die Reihe „Geistige Überlieferung“ herausgegeben habe.

Widerspruch: Wie kam es dann zur Berufung nach München?

Grassi: Ich kam zunächst von Zürich zu Gastvorlesungen nach München. 1945 fand in Rom der erste europäische Kongress für Philosophie nach dem Krieg statt, und wir hatten es zusammen mit den Amerikanern erreicht, daß drei Referenten aus Deutschland, die damals eigentlich noch nicht durften, kommen konnten. Einer davon war der bayerische Kultusminister Hundhammer. – Apropos, Rom. Ich kann eine komische Geschichte erzählen. Die drei Deutschen kamen also durch unsere Vermittlung. Der Kongress fand im Senat statt, und der Senat hatte Diener. Ich hörte, als die Deutschen in ihrer Sprache referierten, wie sich zwei Diener unterhielten und der eine zum anderen sagte: „Hast Du es gemerkt? Sie sind schon wieder da.“ – Nun, die anschließende Berufung und Ernennung als Ordinarius für Geistesgeschichte des Humanismus erfolgte durch den Nachfolger von Hundhammer, ein Kollege, der mich noch aus der Freiburger Zeit kannte.

Widerspruch: War die Errichtung dieses Ordinariats, das ja in München keine Tradition hatte, unproblematisch?

Grassi: Ja. Meine Aufgabe war es, all die wissenschaftlichen Beziehungen, die auf dem Gebiet des Humanismus abgebrochen waren, wiederherzustellen. Das Sekretariat war damals im Prinz-Carl-Palais, nicht in der Universität.

Widerspruch: Hatten Sie philosophische Kontakte zu den anderen Münchner Philosophen Aloys Wenzl, Alois Dempf oder Max Müller?

Grassi: Nein, Max Müller kannte ich noch von Freiburg her. Aber philosophisch konnte ich nicht viel mit ihm anfangen.

Widerspruch: Helmut Kuhn?

Grassi: Nein, ich hatte ihn aber früher einmal kennengelernt. – Stattdessen haben Sedlmayr und ich gemeinsame Vorlesungen gehalten. Ich kannte Wenzl.

Widerspruch: Romano Guardini?

Grassi: Die Beziehungen zu Guardini, die in Berlin sehr intim waren, bestanden, als ich hierher kam, kaum mehr.

Widerspruch: Henry Deku?

Grassi: Meines Wissens ist er mit den Amerikanern 1945 hierher gekommen und hatte durch sie hier in München eine Stelle erhalten. Er war ein ausgezeichneter Lehrer der Scholastik. Aber als ich ihn einmal fragte, ob ich ihm nicht helfen könnte, bürokratisch zu einer besseren Stelle zu gelangen, lehnte er ab. Er war in seiner Bescheidenheit ganz zufrieden.

Widerspruch: Die Institute waren also getrennt. Jeder konnte in seinem Institut frei schalten und walten und Kontakte oder Auseinandersetzungen gab es kaum?

Grassi: Ja, ich habe mich gehütet, bei einem anderen Institut irgendwie mitreden zu wollen. Und außerdem hatte ich nie irgendeinen Sinn für Bürokratie gehabt.

Widerspruch: Wissen Sie, wie in München „1945“ aufgearbeitet wurde?

Grassi: Das waren – wie es immer ist – interne Probleme der verschiedenen Fachseminare. Ich habe mich in den 50er Jahren schwerpunktmäßig bemüht, interdisziplinäre Veranstaltungen anzubieten und durchzuführen. Etwa über Kunst mit dem Kunsthistoriker Sedlmayr oder über modernes naturwissenschaftliches Denken mit dem Biologen und Mediziner Uexküll. In den 50er Jahren, aber auch später, habe ich daran gearbeitet, den italienischen Humanismus auf die antike Philosophie zu beziehen, also die antiken Voraussetzungen des modernen Humanismus herauszuarbeiten. Das habe ich als meine Aufgabe gesehen, auch die 22-jährige Herausgabe vor Rowohlts „Enzyklopädie und Klassiker“.

Widerspruch: Hatte die Philosophie, die nach 1945 in München gelehrt wurde, einen einheitlichen, hervorstechenden Charakter, so dass man von einer typisch „Münchner Philosophie“ sprechen könnte?

Grassi: Nein. Es gab die „Frankfurter Philosophie“, aber keine Münchner. Das Philosophieangebot in München war sehr katholisch.

Widerspruch: Wie war es damals mit den Studenten? Sie kamen ja nicht von den Gymnasien, sondern aus dem Krieg mit ganz eigenen Erfahrungen. Hat sich das nicht in den Seminaren niedergeschlagen?

Grassi: Das müssen Sie die damaligen Studenten fragen.

Widerspruch: Ende der 60er Jahre haben Sie die jugoslawischen “Praxis“-Philosophen eingeladen und mit ihnen eine Vorlesungsreihe über Humanismus und Marxismus veranstaltet.

Grassi: Mein Anliegen war es, den Humanismus der Renaissance nicht nur rückwärts zu seinen antiken Quellen hin zu verfolgen, sondern auch vorwärts hin zu Marx. Nach dem Krieg erschienen ja auch Sartres Abhandlungen über das Verhältnis von Existentialismus, Humanismus und Marxismus. Auf der anderen Seite sah ich meine Aufgabe darin, interessante, für die Studenten anregende Veranstaltungen durchzuführen. Und dazu geh6rte es auch, Leute nach München zu holen und ihnen Gehör zu verschaffen.

Widerspruch: War Ihre Haltung zum Marxismus Ausdruck der 60er Jahre oder hatte sie schon frühere Wurzeln?

Grassi: Ja, gewisse Ursprünge waren schon da, aber die eigentlich intensivere Beschäftigung stammt zweifellos aus den 60er Jahren im Zusammenhang mit der Studentenbewegung.

Widerspruch: Wie ist Ihre Öffnung zum Marxismus hin aufgenommen worden?

Grassi: Es gab viel Kritik, auch von Studenten, denen dieser Marxismus nicht gefallen hat. Aber auch von Seiten der Universität. Damals war die Situation so, dass ich Drohbriefe erhalten habe, als ich es wagte, die jugoslawischen Marxisten hierher einzuladen. Es war – trotz solch unschöner Ereignisse – jedenfalls für mein philosophisches Verständnis eine aufregende Zeit. Danach habe ich noch für den Fink-Verlag die Reihe ,Humanistische Bibliothek“ herausgegeben und Vorlesungen an der amerikanischen Universität in Columbia, N.Y. und Pennsylvania und in Südamerika gehalten.

Widerspruch: Lieber Herr Grassi, wir danken Ihnen für das interessante Gespräch.

(Das Gespräch führten: Konrad Lotter und Alexander von Pechmann)

Jürgen Habermas und das Asylrecht

Asylrecht und Diskursethik. Eine Antinomie im Denken von Jürgen Habermas

von Bernhard Schindlbeck

I.

II.

III.

Politisch scheitert dieser diskursethische Anspruch jedoch nicht an seiner moralischen Höhe, sondern schon an seiner logischen Unmöglichkeit, wenn es um die Asylgesetzgebung geht. Seiner eigenen Logik nach müssten nämlich Asylbegehrende an der Asylgesetzgebung des Landes, in dem sie um Asyl nachsuchen, als Betroffene auch Teilnehmer des praktischen Diskurses sein, dessen Ergebnis das jeweilige Asylgesetz dann ist. Dies ist aber nicht möglich, da sie nicht Bürger des Landes sind. Die demokratische Deliberation über zu findende Normen und zu beschließende Gesetze findet immer nur im Kreis der zum Land bzw. zum Staat gehörenden Bürger statt. Für die Europäische Union heißt dies heute: im Kreis der EU-Bürger unter Ausschluss aller Nicht-EU-Bürger. Die Forderung nach Beteiligung Außenstehender an der Gesetzgebung eines Landes würde nicht nur seltsam anmuten, sondern würde auch auf eine Verletzung des sogenannten Selbstbestimmungsrechts der Völker hinauslaufen.

Einerseits sollen also die dem Staat angehörenden Bürger gemeinsam über ihre Gesetze entscheiden und dabei alle Interessen aller möglicherweise Betroffenen berücksichtigen. Andererseits sollen nicht nur die Interessen aller betroffenen Menschen berücksichtigt werden, sondern letztere sollen dem diskursethischen Anspruch gemäß wirklich mitsprechen können. Deshalb müssten Asylbegehrende an den Beratungen zur Asylgesetzgebung (sei’s eines Staates, sei’s der gesamten EU) beteiligt werden. Sie sind aber keine Bürger, weshalb sie nicht beteiligt werden können. Dieser Widerspruch ist im nationalstaatlichen Rahmen, in dem jede Demokratie organsiert ist (und auch im Rahmen der EU), schlicht unlösbar. Offensichtlich geraten hier Demokratieprinzip und Diskursethik in eine unauflösbare Antinomie. Und die Behauptung einer Gleichursprünglichkeit scheidet bei einem logischen Widerspruch als Lösung aus.

IV.

Die am 10. April 2024 vom EU-Parlament beschlossene „Asylreform“, der am 14. Mai 2024 auch die EU-Mitgliedsstaaten zustimmten, verschärft die Asylbestimmungen so drastisch, dass die von Europa verfolgte Politik der Abschottung gegen alle Migranten, die nicht unter „Fachkräfteeinwanderung“ subsumiert werden, unübersehbar wird. Die EU beabsichtigt, Flüchtlinge (auch Kinder) unter Haftbedingungen in Internierungslagern an ihrer Außengrenze unterzubringen, ihr Asylbegehren in Schnellverfahren ohne die Möglichkeit des Rechtswegs zu prüfen und bei Ablehnung in irgendwelche Drittländer (die sich vertraglich und gegen Bezahlung dazu bereit erklären) abzuschieben, die auch gar nicht einmal die Herkunftsländer der geflohenen Menschen sein müssen. Man mag diese „Reform“ als Ergebnis einer demokratischen Deliberation in Ministerrat und Parlament betrachten, mit Ethik hat sie nichts zu tun. Diskursethische Prinzipen spielen in der praktischen Asylpolitik keine Rolle. Organisationen wie medico international, Human Rights Watch und Amnesty International sehen in den neuen Regelungen gravierende Verstöße gegen Menschenrechte.

V.

Durch eine Antinomie sieht man sich vor die Frage gestellt, welches der beiden einander widersprechenden Prinzipien aufgegeben werden muss. Hier: entweder die demokratische Selbstbestimmung des Volkes (d.h. der wahlberechtigten Bevölkerung) oder die diskursethisch geforderte Mitsprache und Mitentscheidung aller von der Norm Betroffenen.


  1. Jürgen Habermas, Der demokratische Rechtsstaat – eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?, in: ders., Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt/Main 2001, 133-151, hier 134. ↩︎

  2. ebd., 135. ↩︎

  3. ebd., 141. ↩︎

  4. Wolfgang Kuhlmann, Ethik der Kommunikation. In: Karl-Otto Apel u.a. (Hg.), Praktische Philosophie/Ethik, Band 1, Frankfurt/Main 1980, 276-308, hier: 297. ↩︎

  5. Jürgen Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: ders., Moralbewußt-sein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/Main 1983, 53-125, hier: 103; vgl. auch Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/Main 1997, 49. ↩︎

  6. Vgl. Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt/Main 1998. ↩︎

  7. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/Main 1992, 141. ↩︎

  8. Auf die wichtigen kosmopolitischen Überlegungen von Seyla Benhabib (Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte, Frankfurt/New York 2008; sowie: Kosmopolitismus ohne Illusionen. Menschenrechte in unruhigen Zeiten, Berlin 2016; und: Kosmopolitismus im Wandel. Zwischen Demos, Kosmos und Globus, Berlin 2024) kann hier nicht eingegangen werden. ↩︎

  9. Volker M. Heins/Frank Wolff, Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft, Berlin 2023, 59. ↩︎

  10. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Werkausgabe Band XI, hg. von W. Weischedel, Frankfurt/Main 1996, 214. ↩︎

  11. Gernot Böhme, Ethik im Kontext. Über den Umgang mit ersten Fragen, Frankfurt/Main 1997, 222. ↩︎

  12. Der Spiegel 12/2025, 35 f. ↩︎

  13. Der Spiegel 43/2023, 18. ↩︎

  14. Der Spiegel 46/2024, 17. ↩︎

  15. Seyla Benhabib, Kosmopolitismus im Wandel. Zwischen Demos, Kosmos und Globus, Berlin 2024, 42. ↩︎

  16. Donatella Di Cesare, Philosophie der Migration, Berlin 2021, 7. ↩︎

Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität

Gespräch mit Hans Otto Seitschek

Hans Otto Seitschek (1974-2023) lehrte zuletzt als apl. Professor für Philosophie an der LMU. Im Jahre 2010 gab er den Sammelband
„Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität. Die philosophische Lehre an der Universität Ingolstadt-Landshut-München von 1472 bis zur
Gegenwart“ heraus. Darin waren Beiträge auch anderer Dozenten des philosophischen Seminars (Wolfhart Henckmann, Martin Mulsow, Peter Nickl
und Thomas Ricklin) enthalten. Die Veröffentlichung des Sammelbandes war der Anlass für das Gespräch, das einen guten Einblick in das „geistige Klima gibt“, in dem in München Philosophie gelehrt und studiert wird. 

Widerspruch: Herr Seitschek, im Vorwort zu dem von Ihnen herausgegebenen Buch über die „Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität“ schreiben Sie, dass die Herausgabe eine eigene Geschichte hat. Können Sie kurz erzählen?

Seitschek: Zum ersten Mal kam ich mit dem Projekt 2003 in Berührung, als ich eine Skizze über Rémi Brague anfertigte, der Nachfolger von Hans Maier auf dem Guardini-Lehrstuhl geworden war. Dabei sah ich, dass hinter dem Projekt einer „Institutsgeschichte“ mehr steckte. Sie lag in einer bislang letzten Fassung von 1998 vor. Eines Tages kam ich mit Fräulein Ries, der langjährigen Sekretärin und „Seele“ des Lehrstuhls I, eher zufällig im Café Schneller ins Gespräch, und sie sagte mir, dass die Institutsgeschichte nicht recht weitergebracht wird. Sie war durch verschiedene Hände gegangen, aber keiner hatte sich richtig zuständig gefühlt. Anfang 2009 fragte mich Fräulein Ries dann, ob ich das nicht in die Hand nehmen möchte. Ich habe mich daraufhin mit den an der Herausgabe Beteiligten abgesprochen, mit Herrn Henckmann vor allen Dingen sowie mit Herrn Mulsow, der auf dem Umweg über Amerika jetzt in Erfurt und Gotha, Herrn Nickl, der in Hannover gelandet ist, und mit Herrn Ricklin, der zwischenzeitlich auch an dem Projekt beteiligt war. Dabei kam die Frage auf, wo wir den Einschnitt machen: schon in den 1990er Jahren, oder ob wir das Projekt bis heute (2010) weiterführen sollten. Nach einigen Überlegungen kam ich zu dem Schluss, es bis in die Gegenwart zu führen. Weite Textpassagen waren schon in einem recht guten Zustand, so dass ich nur hie und da Lücken füllen und Veröffentlichungen aktualisieren musste. Ich habe dann noch einige Personenskizzen beigefügt, insbesondere für die Zeit nach 1945 bis heute. Diese Aufgabe war für mich nicht so leicht, weil ich sie über das Jahr 2009 hinweg parallel zu meiner Habilitation in Angriff genommen habe.

Widerspruch: Für wen ist das Buch denn gedacht, für Studenten?

Seitschek: Von Fräulein Ries war es anfangs tatsächlich als Handreichung für Studenten gedacht. Aber es ist dann immer mehr gewachsen, immer mehr Texte kamen hinzu, so dass es ein recht umfangreicher Band geworden ist. Ich würde sagen: Er ist für historisch Interessierte im weiten Sinn.

Widerspruch: Durch das Buch erfährt man, dass die Ludwig-Maximilians-Universität ihren Namen schon 1802 erhalten hat. Die Universität ist also nicht nach König Ludwig I. benannt, der sie erst 1826 von Landshut nach München geholt hat, sondern nach Herzog Ludwig IX., der sie 1472 in Ingolstadt gegründet hatte, bzw. nach Max I. Joseph (dem Vater Ludwigs I.), auf dessen Veranlassung sie 1800 von Ingolstadt nach Landshut verlegt wurde. Diese Wanderung der Universität, auf die ihr Name verweist, geschah ja nicht willkürlich, sondern hatte eine inhaltliche Bedeutung. Was, meinen Sie, waren die Motive und Gründe der …

Seitschek: … translatio universitatis? Zunächst ist festzustellen, dass die Universität immer mehr an die Residenzstadt München heranrückte – aber nicht zu nah. Am Anfang lag das Hauptgebäude der LMU, wie wir es heute kennen, nicht im Stadtkern, sondern am Rande der Stadt. Einerseits wollte man die universitas litterarum an die Residenz und damit ans Zentrum der Macht holen, andererseits die Studenten offenbar nicht zu sehr ins Zentrum der Residenzstadt vordringen lassen. Dabei muss man freilich sehen, dass mit dem Umzug nach München eine wissenschaftspolitisch wichtige Sache verbunden war: die Berufung von Schelling. Er hatte 1826 der Berufung an die nach München verlegte Universität zugestimmt und 1827 mit der Lehre begonnen. Das war sicher eine wichtige Zäsur, die auch im Buch zum Ausdruck kommt. Die beiden Stationen vorher, Ingolstadt und Landshut, waren noch stark durch die neuscholastische Philosophie geprägt gewesen.

Widerspruch: Für uns hat sich ein etwas anderes Bild ergeben. In Ingolstadt hatte es im 18. Jahrhundert heftige Auseinandersetzungen zwischen dem Jesuitenorden, dem die Lehre übertragen worden war, und den Aufklärern gegeben, der 1773 mit der Aufhebung des Jesuitenordens und 1800 mit der Verlagerung nach Landshut endete. Während dieser Landshuter Zeit hat man den Eindruck, dass es sich um eine Periode des Streits zwischen Anhängern Kants und Schellings, also den Aufklärern mit den, vereinfacht gesagt, Romantikern handelt. Dies passt ja auch gut in die Umbruchzeiten zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Es ging also nicht so sehr um die Scholastik.

Seitschek: Um die Scholastik schon gar nicht; wenn schon, dann um die scholastische Tradition oder Methode. Das hat sich vor allem institutionell gezeigt. Inhaltlich wirken – da haben Sie Recht – die Strömungen des, wenn man so sagen will, philosophischen „Sturm und Drangs“ des späten 18. Jahrhunderts in die Landshuter Zeit. Herr Henckmann hat darüber ein sehr schönes Kapitel geschrieben.

Widerspruch: Man gewinnt den Eindruck, dass Landshut im Zeichen einer katholisch geprägten Spät-Aufklärung stand. Diese Zeit war ja in Bayern von dem Reformer Graf Montgelas geprägt, der die Säkularisierung der Kirchengüter durchführte, und von Max I. Joseph, der mit Napoleon verbündet war. Die Nähe zu Frankreich drückte sich in der Philosophie so aus, dass man von der scholastisch geprägten Zeit in Ingolstadt (allerdings auch von dem radikalen Illuminatenorden von Adam Weißhaupt, der 1785 verboten wurde) abrückte und eine bescheidene Art von Volksaufklärung betrieb.

Seitschek: Vielleicht. Man kann aber schon damals gegenläufige Prozesse feststellen: Institutionell orientierte sich die Philosophie tatsächlich noch an älteren Strukturen; aber inhaltlich mussten natürlich die neuen Themen der Zeit – Stichwort: Aufklärung – verarbeitet werden. Das drückt sich in der Münchner Zeit dann in den verschiedenen Lehrstuhltraditionen aus. Ich habe für das Buch eine graphische Darstellung der Lehrstuhlgenealogie erstellt: zum einen der Lehrstuhl von Schelling, den später dann Jakob Frohschammer besetzen konnte; zum anderen gegenläufige Besetzungen, die eher an theologischem Philosophieren orientiert waren (Meilinger u. a.). Ich denke, das ist ein Prozess, den man schon in der Landshuter Zeit sehen kann. Die Philosophie lebt praktisch immer auch vom Antagonismus, von der Dialektik.

Widerspruch: Kurz nach der Verlegung der Universität nach Landshut wurde eine Verordnung erlassen, die es erstmals Nicht-Katholiken und Nicht-Bayern gestattete, an der Universität zu lehren. Es war ein wichtiges Moment der Aufklärung, sich für den protestantischen Norden zu öffnen und sich nicht mehr nur auf katholische Lehrbücher festzulegen, wie noch in der Ingolstädter Zeit.

Seitschek: Ja, sicher. 1801 erfolgte auch die erstmalige Verleihung des Bürgerrechts an einen Protestanten hier in München. Das sind natürlich Strömungen und Entwicklungen, die vor der Universität nicht Halt gemacht haben. Dazu gehören auch die so genannten „Nordlichter“, Intellektuelle und Professoren aus dem Norden Deutschlands, die insbesondere in der Münchner Zeit an der Universität gewirkt haben. Dieser Prozess beginnt schon in der Landshuter Zeit. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass die Institutionen – Studien- und Lehrstuhlstrukturen – in ihrer Entwicklung längere Zeit in Anspruch nehmen als das Denken selbst. Es dauert oft lange, bis etwas weitergeht. Das ist ja bis heute so.

Widerspruch: Für die schließliche Umsiedlung nach München war dann offenbar der Gedanke prägend, die Universität zu einem Bildungszentrum des deutschen Volkes werden zu lassen, dessen Repräsentant Schelling sein sollte, der es 20 Jahre lang dann auch war. König Ludwig I. wollte, dass München nicht nur in Kunst und Architektur, sondern auch in der Wissenschaft ausstrahlt: München als „geistige Hauptstadt des deutschen Reiches“.

Seitschek: So ist es. Es ist festzustellen, dass damit ein Schritt hin zur Öffnung für die philosophisch-wissenschaftliche Avantgarde geleistet wurde, und Schelling die prägende Gestalt war. Er hat zwar dann noch in Berlin eine Spätwirkung entfaltet, aber wesentliche Gedanken, insbesondere zu seiner Naturphilosophie, gehen auf die Münchner Zeit zurück. Und das war, denke ich, nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die Universität als ganze prägend.

Widerspruch: Ludwig I. war ja Romantiker, der München nicht nur zur geistigen Hauptstadt machen, sondern auch in Konkurrenz zu Berlin bringen wollte. Schelling sollte den Gegenpol zu Hegel bilden. Die beiden Jugendfreunde waren zu diesem Zeitpunkt längst zerstritten. Später dominierten in Berlin die Hegelianer, die „Linken“, sag ich mal; während es in München die Konservativen mit Schelling an der Spitze waren. Schelling wurde dafür ja vom bayrischen Staat nicht schlecht bezahlt, sein Gehalt überstieg das anderer Professoren um ein Vielfaches.

Seitschek: Ja, Schelling hat gut verhandelt. Das ist richtig, auch der Antagonismus zu Berlin ist nicht zu vernachlässigen. Hinzukommt freilich, dass zu dieser Zeit das bayerische Königreich noch nicht so alt war und einen Selbststand in sich gesucht hat. Man hat daher versucht, in der Berufungspolitik ein eigenes Profil herauszubilden, und das ist mit Schelling ganz gut geglückt, auch wenn er schließlich vom Gang nach Berlin nicht zurückgehalten werden konnte. In dieser Zeit bilden sich jedoch zwei Lehrstühle heraus: Schelling und Meilinger, der selber Ordenschrist, Benediktiner, war und die gegenläufige Richtung vertreten hat, die nicht durch die Romantik, sondern von der Scholastik her geprägt war und eher ans Theologische anschloss. Auf diesen Lehrstuhl ist in der Folge zwar der Schelling-Schüler Beckers gekommen, in der weiteren Berufungsphase jedoch auch Johann Nepomuk Huber, der anfangs eher als ein konservatives Gegengewicht gesehen werden muss zu Beckers und zu Frohschammer, der zu der Zeit mit der Kirche schon im tiefen Clinch lag. Später schloss sich Huber der Bewegung der „Altkatholiken“ an.

Widerspruch: Wenn man diese Besetzungspolitik betrachtet, – lässt sich Ihrer Meinung nach so etwas wie eine „Grundlinie“ der Münchner Philosophie finden? Gibt es da bei allen syn- und diachronen Differenzen etwas Typisches?

Seitschek: Ja. Im Vorwort habe ich deshalb von der „Münchner Philosophie“ gesprochen. Aber was ist das Besondere? Es ist nicht verkehrt, wenn man sagt, dass in München viele philosophischen Strömungen zusammengekommen sind. Schaut man sich die Institutionen an, so gibt es heute drei Lehrstühle, die in der Tradition auf Schelling und Meilinger zurückgehen. Welche Denktraditionen wurden da genau weitergeführt? Die schellingsche, naturphilosophische Tradition ging weiter mit Karl von Prantl, der ursprünglich klassischer Philologe war. Dann waren die Lehrstuhlinhaber Carl Stumpf, Theodor Lipps, Oswald Külpe, Erich Becher, Richard Hönigswald und nach dem 2. Weltkrieg Aloys Wenzl. Mit ihnen bildete sich eine naturphilosophische Tradition aus, die das Naturdenken nicht im engeren Sinn des scholastischen „natura“-Begriffs, sondern in einem weiteren philosophischen Sinn entwickelt hat. Nach Wenzl teilt sich diese Linie: Sie geht einmal mit Wolfgang Stegmüller weiter, der die Wissenschaftstheorie in München etabliert hat, aber als ein breit angelegtes Projekt, das (Natur-)Wissenschaftler und Philosophen ganz unterschiedlicher Couleur einbezog. Auf der anderen Seite konnte sich der heutige Lehrstuhl II etablieren, auf den zuerst Helmut Kuhn kam, dann Hermann Krings, Dieter Henrich – dazwischen Eckart Förster – bis zu Axel Hutter. Die Linie, die von Schelling ausgeht, teilt sich heute also in den wissenschaftstheoretischen Lehrstuhl, den momentan Carlos Ulises Moulines – selbst ein Stegmüller-Schüler – inne hat, und in den Lehrstuhl II, mit dem Schwerpunkt der klassischen deutschen Philosophie. In beiden Lehrstühlen lebt das Erbe Schellings in unterschiedlicher Weise fort.

Die andere große Münchener Lehrstuhltradition ist die des heutigen Konkordatslehrstuhls, des Lehrstuhls I, der auf Meilinger zurückgeht. Dieser Lehrstuhl wurde mit verschiedenen Unterbrechungen und Umbesetzungen fortgeführt. 1882 kam Georg von Hertling, der später auch kurzzeitig von 1917 bis 1918 Reichskanzler war. Der Lehrstuhl von Hertlings wurde in den 1920er Jahren dann zum Konkordatslehrstuhl, den zunächst Clemens Baeumker, dann Joseph Geyser und Fritz-Joachim von Rintelen innehatten. Im Dritten Reich verödete der Lehrstuhl und blieb unbesetzt. Nach dem Krieg wurden Alois Dempf, Max Müller, Robert Spaemann und schließlich Wilhelm Vossenkuhl auf den heutigen Lehrstuhl I berufen.

Widerspruch: Es lässt sich noch eine andere Kontinuität erkennen. Betrachtet man die Münchner Philosophie auch im kulturellen Rahmen Münchens und Bayerns, so sieht man auf der einen Seite die Fortführung einer Tradition, die letztlich aus der Scholastik kommt. Auf der anderen Seite erkennt man aber immer auch den Versuch der Öffnung zum anderen, dem modernen und gegenwärtigen Denken. Was modernes Denken freilich jeweils ist, das musste immer wieder neu bestimmt werden. Wenn Sie von der naturphilosophischen Tradition des Lehrstuhls II reden, dann muss man bedenken, dass sie einen jeweils anderen Charakter hatte: erst der Psychologismus von Theodor Lipps, dann die eher erkenntnistheoretischen Bemühungen von Erich Becher, ab den 1950er Jahren dann die Wissenschaftstheorie und analytische Philosophie. Dabei scheint es bei der „Münchner Philosophie“ um ein Austarieren zwischen Tradition und Gegenwart gegangen zu sein, so dass man nicht zu konservativ blieb und sich nicht zu sehr von den modernen Entwicklungen abschottete. Dabei entstanden freilich immer wieder Konflikte. Johann Nepomuk Huber etwa hat den Antimodernismus des Papstes nicht mitgemacht; Graf von Hertling sehr wohl. Als die katholische Lehre auf die Antimoderne eingeschworen wurde, war das für die Münchner Philosophie wohl eine recht schwierige Situation, weil man sich ja zugleich den modernen Entwicklungen nicht verschließen wollte. Da kam es beim Austarieren notwendigerweise immer wieder zu Reibereien.

Seitschek: Ja, sicher. Die Philosophie lebt ja von Reibereien. Der Antimodernisten-Eid, der von den Priestern geleistet wurde, nicht aber von jedem Katholiken, drückt in besonderer Weise aus, dass es hier einen Widerstand gegen das gab, was man mit „Moderne“ bezeichnete. Die Frage ist natürlich, ob das nicht eine denkerische Herausforderung ist, die die Moderne für sich einfordert. Die Moderne braucht also einen kritischen Widerpart, um sich selbst, vielleicht auch ausgelagert, zu reflektieren. Das wird, denke ich, gerade an den genannten zwei Traditionslinien deutlich.

Da Sie den „Psychologismus“ genannt haben, möchte ich noch erwähnen, dass die Psychologie sehr eng zur Geschichte unserer Fakultät bis ins 20. Jahrhundert hinein gehörte. Kurt Huber etwa, Mitglied der „Weißen Rose“, hatte am Psychologischen Institut angefangen, wo schon früh empirische Studien geleistet wurden. Dort war von 8 bis 20 Uhr Geschäftszeit, während der Klienten getestet wurden. Es war der moderne Aufschwung der Psychologie, bevor sie sich dann als eigenes Fach verselbständigt hat. Noch immer sind Fakultät 10 (Philosophie) und Fakultät 11 (Psychologie und Pädagogik) institutionell benachbart. Die eine wuchs sozusagen aus der anderen heraus.

Widerspruch: Die Modernisierung nach dem zweiten Weltkrieg durch Stegmüller, die Wissenschaftstheorie und die formale Logik scheint allerdings weniger geplant als ein Zufallsprodukt gewesen zu sein. Stegmüller war damals ja ein Kompromisskandidat. Die eine Gruppe wollte von Rintelen nach München zurückholen, die andere favorisierte Helmut Kuhn. Da man sich nicht einigen konnte, hatte man plötzlich jemanden berufen, der eigentlich nicht hineinpasste, weil er das scholastisch-metaphysische, katholische Klima durchbrach.

Seitschek: Ich würde das für Helmut Kuhn in gewisser Weise auch beanspruchen, der ebenfalls ein eigener Kopf war und zwischenzeitlich im amerikanistischen Institut war, bevor er den Lehrstuhl II besetzen konnte. Aber in der Tat, Stegmüller war von Haus aus promovierter Nationalökonom, der dann Philosophie studiert hatte und in diesem Fach ebenfalls promoviert wurde. Er bringt tatsächlich ein neues Denken: die strukturalistische Wissenschaftstheorie, die am von den Naturwissenschaften, besonders der Physik, herkommenden Paradigma orientiert ist. Die „Logistik“ jedoch, wie die Logik anfangs noch hieß, kam eigentlich nicht von Stegmüller, sondern von Wilhelm Britzelmayr, der beruflich im Bankwesen verankert gewesen war und die formale Logik an die Universität brachte. Sie hat sich dann durch viele Professuren etabliert bis hin zur aktuellen Berufung von Hannes Leitgeb, einem international renommierten Philosophen und Mathematiker, der als Nachfolger von Godehard Link auf einen eigenen Lehrstuhl für Sprachphilosophie und Logik berufen wurde. Auf diese jüngste Entwicklung konnte das Buch leider nur in Fußnoten eingehen.

Widerspruch: Zeitgenossen erinnern sich, dass in den 1960er und 70er Jahren die Vorstellung herrschte, dass die jeweils anderen gar keine Philosophen seien. Man hatte da nicht den Eindruck eines austarierten Zusammenspiels, sondern von zwei Lagern. Für die einen waren die anderen nicht Philosophen, sondern bloß Logiker; und für die anderen war es nur Geschwätz, kein exaktes Denken, was die einen da machten.

Seitschek: Sie meinen die Kontroverse zwischen Max Müller und Wolfgang Stegmüller, die anekdotisch überliefert ist und auch im Buch zitiert wird. Stegmüller zu Müller: „Ich halte das, was Sie machen, Herr Kollege, für die Universität für nützlich, auch wenn ich es nicht für Wissenschaft halte.“ Und Müller gegenüber Stegmüller: „Auch ich halte das, was Sie machen, für nützlich, auch wenn ich es nicht für Philosophie halte.“ Da wird diese Kontroverse zwischen den Lehrstühlen durchaus greifbar.

Widerspruch: Man gewinnt in der Tat den Eindruck, dass die Berufung Stegmüllers ungeplant war, und man die Auseinanderentwicklung der Lehrstühle nicht so vor Augen gehabt hatte. Ansonsten scheinen die entsprechenden Stellen doch immer darauf geachtet zu haben, einen gewissen Ausgleich herzustellen. Dieses Austarieren der Lager scheint, bei allen Veränderungen, doch etwas spezifisch Münchnerisches zu sein, das ja auch gut in die bayerische Tradition passt: nicht zuviel Moderne, aber auch nicht zu konservativ. Inhaltlich ist das natürlich immer ein Suchprozess.

Seitschek: … liberalitas bavariae …

Widerspruch: In Frankfurt oder Marburg, überhaupt in protestantischen Universitäten herrschte doch ein anderes Klima, das nicht durch diese Art der Traditionsbildung geprägt war.

Seitschek: Traditionsbildung gibt es woanders aber doch auch. Ich denke, dass die philosophische Denkbewegung sich nicht so leicht klassifizieren lässt: hie konservativ – da modern. Das ist doch ein lebhaftes Denken, das von fortwährenden Kontroversen lebt. Nicht umsonst geht es Robert Spaemann in einem seiner Essays um „Die kontroverse Natur der Philosophie“ (1983).

Widerspruch: Na ja, es geht doch um den Umgang mit der Tradition. Für von Hertling etwa, aber nicht nur für ihn, war der Gedanke einer philosophia perennis wesentlich. Das muss nicht konservativ im politischen Sinn sein, sondern besteht in der Auffassung, die Moderne und Gegenwart gewissermaßen in Dosen in einen großen Traditionszusammenhang einzubinden. Und das ist ein spezifisches Verständnis von Philosophie, das man so an protestantisch geprägten Universitäten wohl nicht findet.

Seitschek: So gesehen, ja.

Widerspruch: Bei aller Verschiedenheit zeichnet die „Münchner Philosophie“ doch auch aus, welche Berufungen nicht stattgefunden haben. Im Buch wird erwähnt, dass prominente Philosophen, mit denen man nichts anfangen konnte oder wollte, abgelehnt wurden. Das fing mit Fichte an, der nach Landshut kommen sollte, den man aber des Atheismusstreits wegen ablehnte. Dann kam Feuerbach, der Materialist, gegen den sich Schelling persönlich gestellt hatte. Auch Heinrich Heine konnte an der Münchner Universität nicht Fuß fassen. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts waren es dann Habermas und Blumenberg. Bestimmte Leute wollte man trotz der liberalitas bavariae offenbar draußen haben.

Seitschek: Es gehört zum Widerstreit verschiedener philosophischer Richtungen dazu, dass er eben auch ins Berufungspolitische hineinwirkt. Das lässt sich nicht vermeiden. Vielleicht wurde gerade durch diese Ablehnungen ein neuer Eros geweckt. Sie haben es ja alle woanders doch geschafft.

Widerspruch: Aber es geht nicht darum, ob sie es geschafft haben, sondern dass die Münchner sich offenbar hier mit ihnen nicht auseinandersetzen wollten.

Seitschek: Sie meinen, was München mit diesen Denkern hätte sein können? Im Buch geht Martin Mulsow kurz der Frage nach, wie man sich die philosophische Fakultät mit Blumenberg und Habermas hätte vorstellen können. Das wäre natürlich eine besondere Herausforderung gewesen. Aber der philosophische Richtungsstreit steckte offenbar so tief, dass er sich in der Berufungs- und Ernennungspolitik fortsetzte – nicht immer nur zum Wohl der Fakultät. Das muss man klar sagen.

Widerspruch: Welche Funktion hatte eigentlich die Philosophie während der verschiedenen Entwicklungsetappen des philosophischen Seminars? Kann man sagen, dass sie in Ingolstadt in erster Linie Teil der Priesterausbildung war, während später die Gymnasiallehrer im Zentrum der Ausbildung standen? Oft wurden ja auch Gymnasiallehrer zu Professoren. Nach 1945 scheint die Vermittlung einer „christlichen Weltanschauung“ im Zentrum des Interesses gestanden zu haben, auch beim „Studium generale“.

Seitschek: Das spielt alles jeweils eine eigene Rolle. Betrachten wir zunächst die alte Universität, die universitas als solche. Sie hatte die drei oberen Fakultäten, Theologie, Jurisprudenz und Medizin, und die untere, die Artistenfakultät, die ihren Namen von den artes liberales, den sieben freien Künsten, hat. Das Trivium, das am Anfang der Ausbildung stand, und das wir heute noch im Wort „trivial“ kennen, Grammatik, Rhetorik und Dialektik – wobei ich mich frage, ob Dialektik wirklich so trivial ist –, dann das Quadrivium mit Geometrie, Arithmetik, Musik (Harmonik) und Astronomie. Dies hat sich mit der Zeit immer mehr ausdifferenziert, so dass die untere, also die philosophische Fakultät, im Vergleich zu den drei anderen immer mehr aufstieg. Aber in der Tat war es so, dass die Philosophie den Status einer Grundausbildung für alle hatte, für Theologen, Juristen und Mediziner, für die es jeweils abgestimmte philosophische (Vor-)Studien gab.

Widerspruch: Das galt in der Ingolstädter Zeit. Mit den Umbrüchen im 19. Jahrhundert war damit aber Schluss. Mit der Aufklärung kam ja die Auffassung auf, die Philosophie sei nicht Magd der Theologen, sondern eine autonome Wissenschaft. Ich möchte nur an Schellings Rede über das akademische Studium von 1803 erinnern, in der er forderte, dass die Philosophie funktionslos Selbstzweck sein müsse, was er in seiner Münchener Zeit dann wohl auch weitgehend durchgesetzt hat. Das heißt, man wollte zu der Zeit keine Studenten haben, die Philosophie etwas anderes wegen studieren, sondern um der Philosophie willen. Erst danach kam die Frage auf: „Für wen machen wir das eigentlich?“ Und erst dann rückte die Ausbildung der Gymnasiallehrer in den Fokus. Da hatte die akademische Philosophie wieder eine Funktion.

Seitschek: Das gymnasiale Lehramt war in der Tat ein Anker, aber erst im beginnenden 20. Jahrhundert. Da gab es auch Überschneidungen, so dass Gymnasiallehrer auch Professoren wurden. Ein gutes Beispiel ist Aloys Wenzl, der Physiklehrer am Luitpold-Gymnasium gewesen war – und außerdem als Landtagsstenograf einen Weltrekord in Stenografie aufgestellt hatte. Er erhielt 1946 eine Berufung auf den späteren Lehrstuhl II, nachdem er sich bereits 1926 habilitiert hatte und 1938 von den Nazis aus der Uni vertrieben worden war. Was die Lehrerausbildung betrifft, so war in der Tat das Philosophicum lange Zeit Pflicht, und jeder Lehramtskandidat musste einmal eine mündliche Prüfung vor einem Philosophieprofessor ablegen. Von Adorno gibt es übrigens eine sehr schöne Frankfurter Rede, die an Lehramtskandidaten gerichtet ist: „Philosophie und Lehrer“ (1962).

In den 1970er Jahren wurde das Philosophicum dann abgeschafft und in das erziehungswissenschaftliche Studium (EWS) integriert. Das ist eigentlich schade, weil es schön wäre, wenn die Philosophie in der Lehrerausbildung wieder ein Standbein hätte.

Widerspruch: Das war auf die Ausbildung bezogen. Nach der Zeit des Faschismus kam jedoch hinzu, dass man der Philosophie wieder eine gesellschaftliche Aufgabe zusprach, nämlich Werte zu vermitteln, und dass sie in die Öffentlichkeit wirken müsse. Da herrschte das Verständnis, dass die Philosophie nicht nur Teil der Ausbildung ist, …

Seitschek: … sondern im Wesentlichen Bildung vermitteln, den Menschen zum Denken, zum Bedenken anregen soll. Dem Anspruch nach geht das, meine ich, schon auf die Landshuter Zeit zurück, auf die Auseinandersetzungen der Anhänger Kants, Jacobis oder Schellings. Parallel dazu gab es tatsächlich immer die institutionell verankerten Aufgaben der Priester- oder Lehrerausbildung bis in die 1970er Jahre hinein. Erst dann hat sich das Eigentliche der Philosophie entfalten können als einer Philosophie, die frei ist, keinen festen Lehrplan hat, und wo kein Lehrstuhlinhaber Rechenschaft ablegen muss, sondern einfach „drauf loslehrt“. Zu dieser Zeit herrschte der Gedanke vor, dass die Philosophie einen Denkraum gibt, und dass sie damit eine eminent wichtige Funktion für die Demokratie hat, die sich solche Denkräume leisten können muss, anders als in Systemen, wo „man regiert wird“. In der Demokratie spielt der Gedanke der Selbstbeteiligung eine zentrale Rolle, die allerdings eine gewisse Reflexionsfähigkeit voraussetzt und dazu Denkräume benötigt. Das war die Zeit, als die Philosophie tatsächlich eine große institutionelle Freiheit genoss, die sie auch gut genutzt hat: in München Spaemann, Henrich, Beierwaltes oder Hans Maier; da war einiges los. Es wurden hier viele spätere Professoren ausgebildet, die an anderen Orten die Philosophie wiederum stark geprägt haben.

Widerspruch: Und heute? Mit dem „Bologna-Prozess“ wird der Philosophie ja wieder eine ganz andere Rolle zugewiesen. Offenbar sollen Philosophen als Mediatoren, Wirtschaftsethiker, „Firmenphilosophen“, Vermittler etc. qualifiziert werden, also Fähigkeiten erwerben, durch die sie für die Industrie nützlich sein können.

Seitschek: Zuerst hat man angefangen zu zählen: Wie viele Studenten? Wie viele Abschlüsse? Das Ganze wurde wieder stark „verfunktionalisiert“ bis zum heutigen Bachelor/Master-Prozess. In München haben wir allerdings das Glück, einen sehr breiten Lehrkörper zu haben und verschiedene Richtungen abdecken zu können. Für die Philosophie ist und bleibt wichtig, wovon wir schon gesprochen haben, dass nicht nur eine Richtung, Spätidealismus oder was auch immer, vertreten wird, sondern dass es verschiedene Strömungen gibt, die untereinander streiten, aber auch miteinander reden und damit eine gute Grundlage für das Studium bilden.

Widerspruch: Wenn man diese gegenwärtige „Reform“ historisch zu verorten versucht, so erscheint sie uns als ein gewaltiger Bruch mit der Tradition von philosophischer Lehre und Studium. Wie sehen Sie das?

Seitschek: Ja, das ist ein Bruch. Reformen hat es immer gegeben. Die Studien- und Studentenordnungen wurden, wie im Buch dokumentiert, immer wieder umgeschrieben. Aber was wir heute als „Bologna-Prozess“ bezeichnen, ist schon ein sehr harter Einschnitt, weil die Struktur des Bachelorstudiums sich an Studiengängen orientiert, die erstens sehr anwendungsbezogen sind und zweitens nach dem „Baukastenprinzip“ funktionieren. Für die Philosophie erweist es sich als äußerst schwierig, das Studium in solche „Bausteine“ (Module) zu zergliedern. Dahinter steckt der Gedanke, das Studium für die Wirtschaft, wie es so schön heißt, „greifbarer“ zu machen. Der Personalchef, der die Leute einstellt, will wissen, was dahintersteckt, wenn einer mit der Bachelor-Urkunde daherkommt.

Was uns einigermaßen rettet, ist tatsächlich die Vielfalt der Münchner Philosophie, weil wir die verschiedenen „Bausteine“ für ein breit angelegtes Philosophiestudium liefern können. Wir haben beispielsweise praktische Philosophie, einmal mehr in Richtung politischer Philosophie (Julian Nida- Rümelin), einmal mehr in Richtung Ökonomie (Karl Homann); auch in der Antike stehen wir auf mehreren Beinen, der klassischen Metaphysik (Thomas Buchheim), aber auch der antiken Rhetorik (Christof Rapp) und anderen Richtungen. Wenn wir diese Vielfalt, die vor allem in den letzten Jahrzehnten entstanden ist, für den Bachelor nutzbar machen können, ist das ein Standortvorteil gegenüber anderen Universitäten.

Widerspruch: Halten wir fest: In Ingolstadt war es so, dass an der Universität nach kirchlichen Lehrbüchern indoktriniert wurde. Dann kam die Zeit der Reformen in der Landshuter Zeit, die Befreiung des Studiums, weil man sagte, gerade die Philosophie müsse frei sein. Diese Freiheit, haben wir gesagt, herrschte dann wieder von den 1970er bis in die 1990er Jahre, in denen die Münchner Philosophie eine gewisse Ausstrahlung besaß. Jetzt aber befinden wir uns in einer Phase, in der das Studium sich an den Personalchefs orientiert. In Ingolstadt musste man darauf achten, was der Herzog oder der Bischof über die Ausbildung sagt; im München des Jahres 2010 muss man darauf achten, was der künftige Personalchef dazu sagt. Erscheint das nicht nur als ein Einschnitt, sondern in historischer Sicht als ein großer Rückschritt?

Seitschek: Wenn man mutig ist, muss man sagen, das es der bisher größte Einschnitt in der philosophischen Lehre ist. Die Philosophie muss jetzt einem Studienschema Genüge leisten, das für ganz andere Fächerkulturen geschaffen wurde. Das ist wie die Quadratur des Kreises. Schaut man sich bei anderen Universitäten um, sieht man, wie schwer sich die Philosophie dort tut. In Eichstätt z.B. wird es vorerst keinen grundständigen Philosophiestudiengang mehr geben. Mag sein, dass wir die Freiheit zuvor zu sehr genossen, zu vollmundig genommen haben. Man konnte sich zu meiner Studienzeit im Magisterstudium mit drei Proseminarscheinen zur Zwischenprüfung anmelden – immerhin gab es schon eine Zwischenprüfung. Zuvor gab es teilweise nur die Lehramtsstudiengänge und die Promotion. Wie man dorthin kam, war sehr frei gestaltet. Vielleicht gab es zu wenig Strukturen, und die Freiräume wurden zu sehr ausgenutzt.

Was dann allerdings kam, war eine politische Überreaktion. Man spricht zwar vom gemeinsamen europäischen Hochschulraum, was sehr schön nach Freiheit klingt, wenn man in München anfängt, in Paris weitermacht und in London abschließt. Das sind tolle Ideen. Es steht aber sehr zu befürchten, dass sie Utopien bleiben. Der Grund dafür ist, dass auf der anderen Seite die massive Verschulung droht, die „Einkastelung“ des Studiums, um es so funktional zu gestalten, dass es wirklich jeder Personalchef kapiert. Früher hielt man Seminare, die zwei, drei Semester lang fortgesetzt wurden, weil sich eine Gruppe von Studenten zusammenfand, die an einem bestimmten, komplizierten Text, wie Hegels „Logik“, dranbleiben wollte. Das ist in der jetzigen Situation praktisch unmöglich. Man kann nur hoffen, dass sich kleinere und größere Schlupflöcher auftun, so dass die Philosophie den genuinen Eros des Denkens behält – auch im Bachelor.

Widerspruch: Kommen wir zum Schluss noch einmal auf das Buch zurück. An einigen Stellen scheint die Darstellung sehr harmonisierend zu sein, als handle es sich um eine Werbeschrift für die „Münchner Philosophie“. Zwei Punkte sind uns aufgefallen: zum einen schreiben einige Autoren über sich selbst; zum anderen passt einmal die Fußnote nicht recht zum Text. Im Text heißt es, der Lehrstuhl für Humanismus sei quasi als „Abrechnung“ mit dem Dritten Reich und mit dem Ziel, sich auf die humanistischen Werte der europäischen Tradition zurückzubesinnen, geschaffen worden; er sei dann mit Ernesto Grassi besetzt worden. In der Fußnote steht, dass Grassi mit dem Nationalsozialismus und dem Faschismus zusammenarbeitete, 1938 in Berlin Honorarprofessor war und bei Alfred Rosenberg veröffentlicht hatte.

Seitschek: Das ist wieder ein Beispiel für den Widerstreit in der Philosophie. Grassis Persönlichkeit ist nicht so leicht zu fassen und sehr schillernd. Seine Schüler, die sich auch um die Texte im Buch gekümmert haben, sehen das aus ihrer Erfahrung mit ihm oft anders. Man soll es aber nicht verschweigen: Er war zur Zeit des Dritten Reichs in Rom und in Berlin aktiv. Wollte er sich dort lediglich Möglichkeiten zur Veröffentlichung verschaffen, oder verstand er sich als eine Art Vordenker?

Widerspruch: Darüber hinaus scheint das Buch sehr aus Sicht der Ordinarien geschrieben zu sein. Die Darstellung ist von den Professoren her gedacht, von ihrer Sichtweise und Position, so dass man den Eindruck einer Darstellung von oben nach unten hat: erst die Ordinarien, dann die Ex- traordinarien usw. Studenten kommen eigentlich nur dann vor, wenn sie aufmüpfig waren. Sie scheinen eigentlich nicht zum Korpus zu gehören. Zudem erfährt man von Konflikten oft nur unterschwellig. Von Max Müller etwa heißt es, er habe sich aufgrund der Auseinandersetzungen in den 1960er Jahren enttäuscht zurückgezogen. Aber dass er selbst auch ordentlich zur Sache gegangen ist, erfährt man nicht. Auch über die Diskussionen am Ende der Weimarer Republik oder, gerade in München, über die Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Altkatholiken Mitte des 19. Jahrhunderts erfährt man wenig. Es gibt zwar Hinweise, aber manches erscheint als zu glatt.

Seitschek: Na ja. Das Buch ist zusammenführend, würde ich sagen. Die Darstellung ist gewiss nicht die von disiecta membra; eine gewisse innere Bezogenheit und Linienführung nehme ich für mich schon in Anspruch. Ob harmonisierend? Vielleicht an manchen Stellen. Man hätte da mehr schaffen können, wenn mehr persönliche Berichte vorhanden gewesen wären. Ich habe Max Müller nicht persönlich kennen gelernt, aber vieles aus anschaulichen Berichten erfahren. Ja, der konnte zur Sache gehen.

Widerspruch: Er wollte ja die Studenten mit dem Schlauch aus der Uni spritzen. Der „Widerspruch“ hat vor zwei Jahren zum 40. Jubiläum ein Heft zu „1968“ herausgegeben mit dem Erfahrungsbericht eines Philosophiestudenten, der das damalige Studium nicht von oben, sondern von unten schildert. Da sind schon einige interessante Dinge passiert.

Seitschek: Das ist sicher für eine weitere Auflage oder ein noch größeres Projekt interessant. Manche haben mir gesagt, man könne die Geschichte des Faches von 1472 bis heute nicht auf ein paar hundert Seiten zusammenfassen. Das ist richtig: Man könnte über jeden Lehrstuhl einen eigenen Band schreiben. Die Frage ist, was man als Habilitand mit einer halben Stelle leisten kann, der ein solches Projekt praktisch nebenher machen muss. Mit dem vorliegenden Buch ist jetzt jedenfalls ein Anfang gemacht. Sollte eine zweite Auflage möglich sein, müsste man solche Erfahrungsberichte einfügen. Ich habe auch schon gesehen, wo man tiefer bohren muss: die Weimarer Zeit oder 1968, wie Sie sagten, überhaupt die Schwellen- und Übergangszeiten. Man sollte sich auch das Verhältnis der Fakultät zur Bayerischen Akademie der Wissenschaften oder zur Görres-Gesellschaft anschauen. Sie sehen, das Projekt einer Geschichte der Philosophie an der LMU ist ein „work in progress“, dem wir wohl alle eine Fortführung und Erweiterung wünschen.

Widerspruch: Herr Seitschek, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch führten Konrad Lotter und Alexander von Pechmann

Einleitung

Panorama der an der Münchner Universität gelehrten Philosophie (1990 bis 2020)

Bei seiner Gründung im Jahr 1981 verstand sich der „Widerspruch – Münchner Zeitschrift für Philosophie“ als kritisches Organ und Alternative zur Philosophie, wie sie an der Ludwig-Maximilians-Universität gelehrt wurde. In Abgrenzung zur Wissenschaftstheorie (Neopositivismus) einerseits und zur christlich-orientierten Metaphysik andererseits orientierte er sich an Marx und der Tradition der Kritischen Theorie und Sozialphilosophie, die im offiziellen Lehrangebot der Universität höchst marginal vertreten waren. Unser Anliegen war es, die in München Philosophie Studierenden auch mit dieser Richtung bekannt zu machen.

Seinem Untertitel als „Münchner Zeitschrift“ trug der „Widerspruch“ allerdings auch insofern Rechnung, als er sich, darstellend oder kritisch, mit der an der Ludwig-Maximilians-Universität gelehrten Philosophie auseinandersetzte, sowohl mit ihrer Geschichte als auch mit ihren gegenwärtigen Repräsentanten. Dies geschah in unterschiedlicher Weise: in Round-table-Gesprächen, in Interviews zu Themen, die dem Interesse und der Programmatik der Zeitschrift entsprachen, aber auch in Form von Selbstdarstellungen Münchner Philosophen über ihren eigenen Entwicklungsgang und die von ihnen vertretene Position. Im Verlauf vieler Jahre entstand auf diese Weise ein umfassendes Panorama der in München zwischen 1990 und 2020 gelehrten Philosophie, das wir in einer Folge von Beiträgen hier erneut veröffentlichen und so auch über das Internet zugänglich machen.

Den Anfang macht ein Gespräch des „Widerspruch“ mit Hans Otto Seitschek, dem Herausgeber des Sammelbandes zur Geschichte der „Philosophie der Ludwig-Maximilians-Universität“, von ihren Anfängen in Ingolstadt und Landshut über ihren Umzug nach München (1826) bis in die Gegenwart. Anschließend werden zwei Gespräche folgen, die die Situation des philosophischen Seminars während des „Dritten Reichs“ (mit Hermann Krings) sowie der unmittelbaren Nachkriegszeit (mit dem Heidegger-Schüler und -Kritiker Ernesto Grassi) zum Thema haben.

Im Weiteren sind Gespräche und Interviews mit den Philosophen Julian Nida-Rümelin, Karl Homann, Wilhelm Vossenkuhl, Thomas Buchheim, Axel Hutter und vielen anderen vorgesehen, aber auch mit dem Sozialpsychologen Heiner Keupp und dem Sinologen Hans van Ess, die im Rahmen ihres Fachgebiets philosophische Fragen erörterten.

Zima – Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne

Peter V. Zima

Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne

Nostalgie als Kritik

br., 295 Seiten, 39,- €.

Tübingen 2024 (Narr Franck Attempto Verlag)

von Konrad Lotter

Zwei bereits im Vorwort zitierte Aussagen geben dem Buch die Richtung vor. Die eine stammt von Adorno und lautet: das „Maß des neuen Schlechten ist einzig das Frühere“ (und Bessere); die andere stammt von Marcuse: „Die kritische Theorie hat es in bisher nicht gekanntem Maße mit der Vergangenheit zu tun, gerade sofern es um die Zukunft geht“.

In beiden Aussagen, so Zima, kommt der Wandel der Kritischen Theorie zu einer Theorie der Spätmoderne zum Ausdruck. Unter dem Eindruck des konsolidierten Kapitalismus und der Schrecken des Stalinismus verabschieden sich die Vertreter der Kritischen Theorie in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts von Marx und der Hoffnung auf eine proletarische Revolution und schwenken auf eine Argumentationslinie ein, die von den spätmodernen Soziologen und Philosophen Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber vorgezeichnet ist: radikale Kritik an den Missständen, Entfremdungen und Fehlentwicklungen des kapitalistischen Systems, verbunden mit der Erinnerung an das Positive, das im Prozess des gesellschaftlichen Fortschritts verloren gegangen ist. Dabei handelt es sich um keinen romantischen Antikapitalismus, der in eine idealisierte Vergangenheit zurückkehren will, sondern um die Forderung, die einmal verwirklichten Errungenschaften an Humanität nicht preiszugeben, sondern in die fortgeschrittene Form der Gesellschaft aufzuheben.

In diesem Sinne sind für Horkheimer, Adorno oder Marcuse, die gleichermaßen dem Großbürgertum entstammen, der liberale Individualismus und die damit verbundene Bildung, Kritikfähigkeit und Autonomie des Individuums ein Wert, hinter den nicht zurückgefallen werden darf. Hatte die Kritische Theorie in ihren Anfängen noch mit Marx das Proletariat als „Subjekt“ der Geschichte begriffen, so ist jetzt das autonome Individuum an seine Stelle getreten. Bei Habermas, in der zweiten Generation der Kritischen Theorie, ist daraus die „herrschaftsfreie Kommunikation“ der vernunftbegabten, autonomen Individuen geworden, die sich vom „besseren Argument“ leiten lassen.

Der Schwerpunkt des Buches liegt allerdings nicht auf der skizzierten Entwicklung der Kritischen Theorie hin zu einer Theorie der Spätmoderne, sondern im Übergang (oder eigentlich Verfall) der Spätmoderne zur Postmoderne. Trotz ihrer Abkehr von Marx bleiben „Utopie“, „Revolution“ oder „Überwindung“ (des Kapitalismus) Themen der zur „Frankfurter Schule“ gewandelten Kritischen Theorie, wenn auch nicht mehr im Sinne von Marx, sondern mit der vagen Perspektive auf ein „ganz Anderes“. Bei den Postmodernen ist die Abkehr von Marx noch viel entschiedener, so dass selbst diese Themen als überholt, anachronistisch und sogar als gefährlich angesehen werden. An die Stelle der Kritik der naturwüchsigen (kapitalistischen) Verhältnisse treten ein „Living Without an Alternative“ (Zygmund Baumann) und die rückhaltlose Anerkennung der bestehenden Verhältnisse. An die Stelle des (Gebrauchs-)Werts der Dinge tritt die Universalität des Tauschwerts, der alle Wert-Differenzen einebnet (Jean Baudrillard). An die Stelle des Versuchs, die Selbstbestimmung der Individuen zu fördern, tritt deren Gleichschaltung innerhalb der Massengesellschaft (Jean-François Lyotard). Die Reduktion der Vernunft auf die Zweckrationalität und die „Eindimensionalität“ des Menschen werden als Faktum hingenommen und akzeptiert (Gianni Vattimo). Als positiv wertet Zima dagegen die „Vielfalt“ der postmodernen Theoretiker, ihr Interesse für das Einzelne; darin sieht er einerseits eine Verwandtschaft mit Adornos „Akzentuierung des Partikularen“, andererseits einen Gegensatz zum Universalismus der „großen Erzählungen“ von Hegel oder Marx.

Bemerkenswerterweise sehen sich die Theoretiker der Postmoderne selbst oftmals in völliger Übereinstimmung mit der Frankfurter Schule (Michel Foucault) oder knüpfen ausdrücklich an deren Gedanken an. Tatsächlich aber, so die Kritik Zimas, treiben sie deren Gedanken nur „auf die Spitze“ und verkürzen sie, um sie dann als „Argumente gegen sie zu wenden“. So kehrt Lyotard das „Erhabene“ Adornos, das „die Kritikfähigkeit der Kunst und des Einzelnen stärken sollte, gegen das Subjekt“. Der französische Soziologe Michel Maffesoli analysiert (in Übereinstimmung mit Horkheimer und Adorno) zwar den Niedergang der individuellen Autonomie, feiert deren Unterordnung unter die Masse aber als „postmodernen Fortschritt“. Baudrillard erinnert zwar an die Kritik des Tauschwerts, vertritt aber die Auffassung, dessen Herrschaft über den Gebrauchswert sei so total, dass er als „Archimedischer Punkt der Kritik“ ausgedient hat. Grundsätzlich hatte die Kritische Theorie (mit Walter Benjamin) zwischen dem Fortschritt der Naturbeherrschung und dem der Gesellschaft und der in ihr verwirklichten Humanität unterschieden. Dieser Unterschied ist in der Postmoderne, die allein den Fortschritt der Naturbeherrschung thematisiert, verschwunden. Adorno und Horkheimer kritisierten zwar die rücksichtslose Beherrschung der Natur, deren Methoden auf die Beherrschung des Menschen übertragen werden; gleichzeitig widmen sie dem Individualismus des Liberalismus eine „rettende Kritik“. Diese Dialektik kommt in den postmodernen Theorien nicht mehr vor. Gezeigt wird stattdessen nur, wie das Netz der Disziplinierung und der Angleichung der Individuen immer enger wird, so dass sie zuletzt vollständig verschwinden „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (Foucault).

Als Literaturwissenschaftler verweist Zima oftmals auf Parallelen zwischen Philosophie und Literatur und macht auf Selbstreflexionen der Moderne aufmerksam, wie sie auch bei Baudelaire, Valery, Kafka oder Broch anzutreffen sind. Wiederholt zitiert er den bezeichnenden Satz von Robert Musil: „Der Individualismus geht zu Ende … aber das Richtige (an ihm) wäre hinüberzuretten.“ Was wäre aber das Richtige? Zimas Antwort (im Sinne der Frankfurter Schule) lautet: die individuelle Autonomie des liberalen Zeitalters, die Fähigkeit zur Kritik und zum Widerstand, die Fähigkeit, dem ideologischen und kommerzialistischen Konformismus zu widerstehen, letztlich die Würde des Menschen.

Zimas Buch ist gut gegliedert, in seinen Argumenten (auch dank vieler Wiederholungen) gut nachvollziehbar. Es vermittelt ein breites Spektrum der weitgespannten Diskussion, in der Zima am Ende auch selbst Stellung bezieht. Er plädiert, wie schon in früheren Werken, für eine „dialogische Erneuerung der Kritischen Theorie, die postmoderne Kritiken an der (Spät-) Moderne ernst nimmt und den Universalismus der Kritischen Theorie mit dem Partikularismus der postmodernen Denker dialektisch zusammenführt“. Er wehrt sich vor allem gegen Habermas, der die Postmoderne als bloßen Konservativismus abtut, und möchte Horkheimer und Adorno „mit Hilfe des postmodernen Partikularismus … korrigieren und ergänzen“. Mit diesem Konzept versucht er, „unzeitgemäß gegen den Zeitgeist zu denken“. So unzeitgemäß, wie behauptet, erscheint dieses Konzept freilich nicht. Höchst zeitgemäß und dem Mainstream entsprechend ist vielmehr, was Zima mit beiden Ansätzen, deren Synthese er anstrebt, verbindet: die Ablehnung der Marxschen Theorie und der Mangel einer wirklichen, gesellschaftlichen (nicht bloß individuellen) Perspektive, die über die Grenzen des gegenwärtigen Kapitalismus hinausblickt.

Pineault – Die soziale Ökologie des Kapitals

Éric Pineault

Die soziale Ökologie des Kapitals

mit einem Vorwort von Simon Schaupp

br., 190 Seiten, 25.- €

Berlin 2025 (Karl Dietz Verlag)

von Fritz Reheis

Was der Kapitalismus genau ist, werden wir erst im Nachhinein voll begreifen, wenn er überwunden sein wird. Dieser Gedanke seines akademischen Lehrers, Murray Bookchin, US-amerikanischer Sozialist, Anarchist und Begründer des Institute for Social Ecology, dem das Buch gewidmet ist, habe ihn nicht mehr losgelassen, erzählt Éric Pineault. Der Gedanke sei für ihn „paradoxerweise ein Hoffnungsschimmer“. Er wolle mit seinem Buch, das teilweise bereits veröffentlichte Texte enthält („The ghosts of progress“ und „The Post Growth Condition“), „zum kollektiven Verständnis dieser sozialen und ökologischen Formation (des Kapitalismus, F.R.) und ihrer Grenzen“ beitragen (190). Pineault ist Professor am Department of Sociology und am Institute of Environmental Sciences an der Universität Quebec in Montréal. Außer durch Bookchin und Aktivisten aus Quebec sieht er sich hauptsächlich durch das Wiener Institut für Soziale Ökologie (Martina Fischer-Kowalski) und das Postwachstumskolleg an der Uni Jena (Hartmut Rosa, Klaus Dörre u.a.), wo er 2018 bis 2019 Gast war, inspiriert. Die Theorie der Sozialen Ökologie des Kapitals ist für Pineault ein „vorgeordnetes und begrenztes Unterfangen“, das einen theoretischen Rahmen für Degrowth (einschließlich Ökosozialismus) bereitzustellen versucht (170).

Es sei eine Illusion, so die Grundthese des Buches, die ökologische Transformation von einer Entkopplung der Wirtschaft vom Naturverbrauch zu erwarten und dabei auf einen Wandel der Werte mit einhergehendem Konsum- und Politikwandel zu hoffen. Nötig sei vielmehr die vollständige Überwindung der herrschenden „sozialen Ökologie des Kapitals“. Voraussetzung für diese Überwindung sei eine konsequent materialistische Analyse der energetischen und stofflichen Prozesse und der politischen Ökonomie, die sich mit ihnen in Wechselwirkung befindet. Im Zentrum der Analyse steht der Begriff des „sozialen Stoffwechsels“. Pineault unterscheidet drei Aspekte dieses sozialen Stoffwechsels: die durch Gesellschaften fließenden Ströme von Energie und Materie, die Akkumulation von materiellen Vorräten sowie die Kolonisierung von Ökosystemen durch menschliche Aktivitäten. Diese drei überhistorischen Momente des Mensch-Natur-Verhältnisses gelte es nun für kapitalistische Gesellschaften zu konkretisieren und zu „re-soziologisieren“ (28). Dabei zeige sich im Detail, wie die kapitalistische Dynamik und die sie exekutierenden globalen Konzerne in allen Phasen des menschlichen Eingriffs in die Natur – von der Extraktion über Produktion, Konsumtion und Reproduktion bis zur Dissipation – die Grenzen der Natur ignoriert und eine ökologisch verträgliche Form des Wirtschaftens und Lebens verhindert. Grund dafür seien nicht nur die systematisch erzeugten Rebound- und Verdrängungseffekte und die systematische Trennung von Produktion und Reproduktion (auch als Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land sowie Nord und Süd). Hinzu komme vor allem auch die Tatsache, dass diese Dynamik Investitionen in eine naturnahe Form des Wirtschaftens umgehend mit systematischer Entwertung des eingesetzten Kapitals bestraft.

Nach einem Vorwort von Simon Schaupp (Autor von „Stoffwechselpolitik“) über den deutschen Diskurs zum Thema, führt Pineault in das Buch ein, indem er den Begriff „sozialer Stoffwechsel“ erläutert. Das erste Kapitel behandelt den „Materialfluss“, das zweite die „Ökologie des Materialflusses“, quasi die „Arbeit der Natur“ einschließlich des Entropiegesetzes. Im dritten Kapitel geht es um „Stoffwechselregime in historischer Perspektive“, im vierten um den „fossil-basierten Metabolismus“. Das fünfte Kapitel thematisiert den „kapitalistischen Stoffwechsel“ generell, das sechste richtet den Fokus speziell auf die Zeit der „großen kapitalistischen Beschleunigung“, die Pineault zufolge die vergangenen sieben Jahrzehnte umfasst. Das Buch schließt mit einem „Anhang zur deutschen Ausgabe“ mit eindrucksvollen Daten und Grafiken zum Zusammenhang von biophysikalischen und politökonomischen Daten. Insgesamt will die Theorie der sozialen Ökologie des Kapitals eine doppelte Selbsttäuschung entlarven: „Die Versprechungen, privilegierte Lebensweisen im fortgeschrittenen kapitalistischen Kern und unter den Mittelschichten des globalen Südens beibehalten und verbessern zu können, haben ihre Entsprechung bei progressiven Kräften, die sich der Illusion hingeben, die Produktivkräfte und der Durchsatz könnten weiter gesteigert werden, weil reinere, dichtere und sauberere Energieformen im Überfluss in einem ‚dort draußen‘ vorhanden seien, das nur noch gefunden werden müsse.“ (171)

„Die soziale Ökologie des Kapitals“ ist zweifellos ein wichtiges Buch, weil es die naturwissenschaftlich-ökologische und die sozialwissenschaftlich-politökonomische Analyse überzeugend zusammenführt. Dennoch fragt sich der Rezensent, ob Pineault, der ja explizit einem dialektischen Erkenntnisinteresse folgt, nicht vorschnell über Marx hinausgegangen ist. Vielleicht sind die ökologischen Verwüstungen seit der Großen Beschleunigung ja nichts anderes als Zuspitzungen des kapitalistischen Grundwiderspruch zwischen der Gesellschaftlichkeit der Produktion und der Privatheit der Aneignung (einschließlich der Planung), nichts anderes also als weit fortgeschrittene Kollateralschäden eines Systems, von dem schon 1848 klar war, dass es „alles Stehende und Ständische“ verdampft. Vielleicht zeigt sich heute in aller Klarheit, dass Produktivkräfte in Destruktivkräfte umschlagen, solange sie durch überlebte Eigentums- und Konkurrenzbeziehungen gefesselt sind.

Snyder – Über Freiheit

Timothy Snyder

Über Freiheit

geb., 416 Seiten, 28,– €

C. H. Beck-Verlag, München 2024

von Helga Sporer

Der bekannte Historiker Timothy Snyder hat mit seiner Frau, der Osteuropaforscherin Marci Store, und dem Philosophen und Faschismusforscher Jason Stanley die Yale University verlassen. Ihre Migration nach Kanada ist das Zeichen für ihren Kampf gegen die Beschränkungen der Wissenschaft und des freiheitlichen Denkens in den USA seit Präsident Donald Trumps zweiter Amtszeit.

In seinem Buch „Über Freiheit“ , das mittlerweile in mehr als 40 Sprachen übersetzt wurde, fordert Snyder jeden auf, seinem Weckruf zu folgen und sich gegen die gewaltige Welle der weltweiten Unfreiheit zur Wehr zu setzen. Eine seiner Thesen lautet: „Wir werden nicht frei sein und auch nicht überleben, wenn wir die Grenzen unserer Erde ignorieren oder die Regeln unseres Universums leugnen“ (205). Unser Universum, so Snyder, ist ein Spiel von Materie und Energie, bei dem es hin- und hergeht, und das Leben ist eine besondere Form dieses Spiels. Wir sind eine spezielle Form des Lebens, die zur Würde des Wissens und zur Erkenntnis fähig ist. Als Interpret unserer düsteren Zeiten und zur Begründung seiner Aussagen schlägt er einen weiten intellektuellen Bogen von den Freiheitsdenkern der Antike und der Aufklärung bis zu den Autoren der Declaration of Independence und der amerikanischen Verfassung, von den Gründungsvätern der amerikanischen Demokratie bis zu den Gefährdern der modernen Freiheit durch populistische, rassistische und antisemitische Strömungen in den USA, Europa und in Ländern des globalen Südens.

Snyder wechselt auf den über 400 Seiten seines Buches immer wieder von philosophischen und theoretischen Aussagen zu alltäglichen Belegen, mit denen er seine Gedankengänge stützt. Dabei überwiegt sein Pragmatismus. Freiheit sei positiv und nicht negativ zu denken: „Wir sind nicht frei, wenn uns keine Beschränkungen auferlegt werden. Wenn ich Sie auffordere, Sie sollen jemanden vom Wählen abhalten. Übe ich dann Redefreiheit aus? Sicherlich nicht. Wenn ein bewaffneter Polizist vor einem Wahllokal steht und fragt, was Sie da tun, so ist das ein noch eindeutigerer Fall – das ist keine Redefreiheit“ (235). Wenn ein amerikanischer Präsident auffordert, eine demokratische Wahl zu kippen, dann ist das keine Ausübung von Redefreiheit. Darauf hinzuweisen heißt nicht, Trump das Recht auf Meinungsäußerung abzusprechen. Dies, so Snyder, sei nun wahrlich nicht in Gefahr.

Ein weiteres Bespiel: Wenn Putin Hunderttausende von Menschen schickt, um Hunderttausende von Morden zu begehen, sind seine Befehle dann freie Meinungsäußerung? Offensichtlich nicht. Wenn ein Diktator die Existenz einer Nation leugnet, dann handelt es sich nicht um Redefreiheit, sondern um eine völkermörderische Hassrede. Die Auffassung, Putins bizarre Geschichtsauffassung nicht zu teilen, sei Russophobie, haben russische Offizielle und Propagandisten selbst dann noch geteilt, als russische Soldaten in die Ukraine einmarschiert waren, Millionen von Menschen deportierten und rund einhunderttausend Einwohner von Mariopol töteten (236).

„Freiheit“, so Snyder, „bedeutet niemals, dass die Regierung uns in Ruhe lässt. Sie bedeutet aber auch nicht, dass wir die Regierung in Ruhe lassen. Die Formen der Freiheit müssen jeden Tag neu gelebt werden. Sie legitimieren die Regierung und leiten den Einzelnen“ (281). Doch für ein freies Zusammenleben von Individuen und Regierung sind nach Snyders Meinung fünf Voraussetzungen unabdingbar:

Die Souveränität ist in dieser Reihe die erste Form der Freiheit. Hierbei gehe darum, die Kinder zu unterstützen, Fähigkeiten zu erwerben, die es ihnen ermöglichen, sich in Freiheit zu entfalten. Diese, die Generationen übergreifende politische Arbeit, müsse von der Regierung wie den Individuen geleistet werden. Das Gleiche gelte für die Unberechenbarkeit als zweiter Form der Freiheit, die jedoch nach Strukturen verlangt. Wir können, so Snyder, nur frei sein, wenn wir die sozialen Medien immer wieder neu denken und neu gestalten. Deren Formen zu ändern, aber müsse auch Sache der Politik sein: „Wer auf Bildschirme starrt, ist leichter zu manipulieren“ (282). Die Aufrechterhaltung der Mobilität und die Sicherung der Faktizität sind weitere Voraussetzungen zur Entfaltung der Freiheit. Auch hier müssen politische Institutionen und moralisches Engagement ineinandergreifen. „Teilen Sie in den sozialen Medien Artikel, die aus menschlicher Feder stammen. Abonnieren Sie Medien mit investigativen Reportagen. Unterstützen Sie Kampagnen zur Besteuerung von Social-Media-Unternehmen, um damit die lokale Berichterstattung zu finanzieren … Technologie kann helfen, aber es muss die richtige Art von Technologie sein. Künstliche Intelligenz wird erst dann wirklich eine solche sein, wenn sie uns darauf hinweist, dass wir den Planeten verbrennen und damit aufhören sollten“ (213 f.). Die fünfte und höchste Form der Freiheit aber ist für Snyder die Solidarität. Denn ohne sie können wir die Mühsal anderer nicht als unsere eigene wahrnehmen und verlieren so die Fähigkeit, uns selbst zu sehen. „Wenn wir uns für die Möglichkeit entscheiden, Solidarität nicht für einige wenige, sondern für alle auszudrücken,“ so sein Fazit, „werden wir freier sein“ (282).

„Über Freiheit“ beschreibt in komprimierter Zusammenfassung die historischen Ereignisse und wissenschaftlichen Erkenntnisse, die zu den Herausforderungen in unserer Zeit geführt haben. Wenn wir unter diesen Bedingungen unsere Freiheit erhalten wollen, müssen wir die Demokratie, zu der diese „fünf Formen der Freiheit“ hinführen, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen. Die Lektüre und die Beschäftigung mit seinen Gedanken stimmen zuversichtlich: Nicht negative, sondern positive Freiheit, nicht für einige wenige, sondern für alle ist möglich.

Zizek – Die Paradoxien der Mehrlust

Slavoj Žižek

Die Paradoxien der Mehrlust. Ein Leitfaden für die Nichtverwirrten

Tb., 491 Seiten, 22,- €, Frankfurt/Main 2023 (S. Fischer-Verlag)

von Ottmar Mareis

Im ersten Teil seines Buches unternimmt Žižek den Versuch, den Kapitalismus durch das Theorem der Mehrlust, das auf Jacques Lacans Jouissance basiert, zu erklären. Der Kapitalismus, so Žižek, bestehe hauptsächlich aus dem Mehrwert, den die Kapitalisten aus der Arbeit der Proletarier und Angestellten pressen. Dieser fließe ihnen automatisch zu und sei das Wesen des profitorientierten Wirtschaftens. Der Kapitalismus sei mit dem Mehrwert in so essentieller Weise verbunden, dass alle Anstrengungen, den Kapitalismus abzuschaffen, an dieser unverwüstlichen Verflechtung gescheitert sind und daran scheitern werden. Diese Lust, aus der Arbeit anderer Mehrwert zu schöpfen, entspricht nach Žižek dem Konstrukt der Mehrlust in der Theorie Lacans. Doch dieser Vergleich von Mehrwert und Mehrlust hinkt ziemlich, wie sich zeigen wird. Er könnte erklären, warum Žižek sich einen lacanschen Marxisten nennt; aber mindestens die Hälfte der von ihm im Weiteren vorgestellten lacanschen Konstrukte belegen, dass sie nichts mit der Rationalität der Analysen von Marx gemein haben, sondern vielmehr in einen Obskurantismus münden.

In seinem Werk bemüht sich Žižek die Fortdauer des Kapitalismus anhand ausgewählter lacanscher Theoreme zu erklären und diese allgemein verständlich zu machen. Er unterschlägt jedoch, dass Lacan zu seiner Zeit der wohl größte Kritiker der französischen 68er wie der Linken war. Zudem würde Lacan es vehement ablehnen, mit Marx kurzgeschlossen zu werden, wie übrigens vice versa genauso Marx, was Lacan betrifft. Der Redlichkeit halber hätte Žižek eine Geschichte schreiben müssen, wie und mit welchen Theoremen Lacan die Linke in den 70ern so vehement angriff. Als notorischer Lacanverehrer versucht Žižek stattdessen, die lacanschen Konstrukte der Jouissance, der Erwartung der Mehrlust, der Jouissance des großen Anderen sowie der subjektiven Destitution für eine Gegenwartsanalyse fruchtbar zu machen. Die Frage stellt sich daher, ob und in welchen Teilen seines Werks ihm das gelingt.

Im Hauptteil des Buches wird Lacans Theorie, wie schon in anderen Büchern, vertieft und angewendet. Nach Lacan, der 1981 starb, leben wir seit den 70er Jahren in der Postmoderne, in der es, nach der 68er Studentenrevolte und ihrer “sexuellen Befreiung“ im Westen, kaum mehr Unterdrückung gebe. In Lacans Denken ist das (sexuelle) Begehren jedoch essentiell als Reaktanz auf die Unterdrückung angewiesen. Aus seiner Sicht begann daher mit dem Verschwinden der Unterdrückung auch das ‚Endspiel‘ des Begehrens. Das Begehren, der Eros, befinde sich sozusagen in einer profunden Agonie, die schwere psychische Folgen zeitige. Diese lassen sich an der enormen Zunahme, ja der Epidemie von Burnouts und Depressionserkrankungen seit dieser Zeit ablesen.

Žižek geht es im Folgenden darum aufzuzeigen, dass die Mehrlust, durch ihre Tücken und Paradoxien hindurch, auch gravierende repressive Konsequenzen birgt. Einen ersten Eindruck dieser Paradoxie vermittelt Žižek am Verhalten Lacans bei dessen öffentlichen oder privaten Diners, nicht nur im Kreis seiner Student:innen. Für ihn sei es bei solchen Anlässen völlig normal gewesen, lustvoll laut zu furzen, – ohne dass er darauf angesprochen wurde. Erschien Lacan das Gericht von Gästen als schmackhafter als das von ihm bestellte, tauschte er die Teller ungefragt aus, – ohne dass die Betroffenen sich wehrten. Auf diese Szenen folgend, lotet Žižek detailreich aus, warum wir uns nicht wehren, was wir von solcher Unterdrückung haben und mehr noch, „warum wir unsere Unterdrückung genießen.“ Er führt an Beispielen aus der Literatur, Musik und Filmen (Vikings, Solaris, Katla, Rammstein, Schostakowitsch) aus, warum vor allem das Genießen der Unterdrückung mit der Erwartung der Mehrlust des Begehrens verbunden ist, und wie diese am lacanschen Theorem vom großen Anderen andockt.

Plastisch wird dies anhand des ersten Finales von Bert Brechts „Dreigroschenoper“ veranschaulicht. In ihm wünscht sich Polly einen Mann, den sie wirklich lieben kann. Auch wenn Vater Peachum ihr mit der Bibel in der Hand Recht gibt, kommt unerwartet die Wende: „Das Recht des Menschen ist‘s auf dieser Erden, da er doch nur kurz lebt, glücklich zu sein, teilhaftig aller Lust der Welt zu werden, zum Essen Brot zu kriegen und nicht einen Stein. Das ist des Menschen nacktes Recht auf Erden, doch leider hat man bisher nie vernommen, dass etwas recht war und dann war’s auch so! Wer hätte nicht gern einmal Recht bekommen? Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so… Wir wären gut anstatt so roh. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“

Žižek merkt an, dass dieser Text sich nur mit Weills raffinierter Musik deuten lässt. Die erste Hälfte mutet an wie eine getragene, langweilige religiöse Predigt. Die zweite jedoch weist eine fröhlich zynische, quirlige Intonation auf: „Die offensichtliche Freude, mit der das Unerfreuliche (die traurige Botschaft) überbracht wird, ist die Mehrlust in ihrer reinsten Form.“ Die letzten zwei Sätze nehmen gar einen ekstatischen Ton an. Žižek beobachtet parallel dazu, dass auch bei den Linken oft auf „die Verhältnisse“ verwiesen wird, die sie allein nicht ändern können. Er macht darin eine ähnlich heuchlerische Jouissance aus, dass man, um gegen sie zu kämpfen, selbst auch roh sein dürfe, dass man also das Rohsein gewissermaßen ausschweifend genieße.

Diesem zynischen Genießen geht Žižek noch weiter auf den Grund. Dass wir durch unsere Entfremdung hindurch genießen, bedeute, dass unser Genießen durch den großen Anderen vermittelt sei. Genauer gesagt: das für uns unzugängliche Genießen des Anderen, z.B. das dem Mann unzugängliche Genießen der Frau oder das imaginierte Genießen einer fremden Ethnie, wird projektiv sadomasochistisch verstärkt.

So gehe es auch bei der von Donald Trump bis heute aufrechterhaltenen Lüge „Stop the Steal“, mit der er seine Fans aufs Kapitol hetzte, nur oberflächlich um den vermeintlichen Klau der Wahl. Unbewusst skandierten sie vielmehr: „Stoppt den verrückten Genußklau, now!“ Im karnevalesken Charakter des Kapitolsturms plus dazugehörigem Schamanen agieren Trumps Fans eigentlich das Zurückerobern derjenigen Jouissance aus, die sie bei anderen ethnischen wie Gender-Gruppen (PoC, Mexikanern, Arabern, LGBTQ-Personen etc.) wirken wähnen. In Anlehnung an die slowenische Philosophin Alenka Zupancic weist Žižek darauf hin, dass es sich hierbei weniger um ein individuelles persönliches Genießen handelt, sondern – ähnlich einem unpersönlichen Gottesglauben – um ein unpersönliches Genießen durch das „Subjekt einer Gestalt des großen Anderen.“ Dieses unpersönliche Genießen definiere als eine Art monströser Befangenheit die Perversion. So ist auch nach Lacan der Perverse derjenige, der sich als Werkzeug des Genießens des Anderen begreift. Dass wir angeblich oft wegsehen oder den Blick abwenden, wenn Marginalisierte geopfert werden, zeigt nach Lacan, „dass wir im Objekt unserer Begierden die Bestätigung dafür suchen, dass ein Begehren jenes Anderen, den ich hier Deus obscurus nennen will, präsent ist.“ Der monströse Bann oder die Befangenheit, in der ein Perverser handele, spiegele wider, was er für das Genießen seines Abgotts tut. Der Perverse sei daher kein fieser Kretin, der es genieße, seine Opfer zu quälen, sondern „ein kalter Profi, der seine Pflicht auf unpersönliche Weise um der Pflicht willen tut.“

Nach der Erklärung solchen Genießens vertritt Žižek eine weitere gewagte These, die seine bisherige stützen soll. Nach Hannah Arendt basiere die Verwandlung eines „gewöhnlichen Sadisten zu einem richtigen Perversen“ auf einer bewussten, absichtlichen Reorganisation wie in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, als nämlich die SS die Lagerverwaltung von der SA übernahm.

„Hinter der blinden Vertiertheit jener SA-Leute war oft deutlich ein überwältigender Haß des Ressentiments zu spüren gegen alle sozial oder geistig oder körperlich besser Weggekommenen, die man nun, als Erfüllung unmöglich geglaubter Wunschträume, in seiner Macht hatte. Es ist bezeichnend, dass dieses Ressentiment, von dem auch noch später in den Konzentrationslagern einiges zu spüren war, auf uns wie ein letzter Rest menschlich verstehbaren Verhaltens wirkt. Das eigentlich Grauenhafte der Lager jedoch ist, dass diese spontane Vertiertheit in den deutschen Lagern mehr und mehr zurücktrat, nachdem die SS ihre Verwaltung übernommen hatte, und von einer absolut kalten, absolut berechnenden und systematischen Zerstörung der menschlichen Körper zum Zwecke der Zerstörung der menschlichen Würde abgelöst wurde, die sich genug in der Gewalt hatte, den Tod zu verhindern oder auf unabsehbar lange Zeit hinauszuschieben. Die Lager waren jetzt nicht mehr der Tummel- und Vergnügungsplatz von Bestien in Menschengestalt, das heißt von Menschen, die eigentlich in Schwachsinnigenheime, Irrenanstalten und Gefängnisse gehörten, sondern umgekehrt: sie wurden zu den Exerzierplätzen, auf denen vollkommen normale Menschen zu vollgültigen Mitgliedern der SS erzogen wurden.“ (Arendt)

Als Beispiel führt Žižek Adolf Eichmann an, der sich immer auf den Befehlsnotstand berufen hatte, der Befehlen angeblich nur gehorchte, um seine Pflicht als Bürokrat zu tun. Er wollte keinerlei persönlichen Genuss verspürt haben, als er die Shoa ins Werk setzte, obwohl ihm irgendwie klar war, dass er dieses Grauen maßgeblich mitorganisierte. Doch Žižek insistiert darauf, dass genau diese Pflicht Teil seines Genießens war, es war sogar „das, was seinem Genießen ein Mehr hinzufügte – er genoss, aber er genoss auf eine rein interpassive Weise durch den Anderen, den dunklen Gott, den de Sade als das höchste Wesen an Bösartigkeit bezeichnet (l’être suprême en méchanceté).“

Žižek versteht sein Werk durchaus als kritische Reflexionsform, so jedenfalls lassen sich Teile seines Buches lesen. Doch die Frage sei erlaubt, ob er nicht im Hauptteil mit Theoremen arbeitet, die denen ultrakonservativer, reaktionärer, theologischer und sogar faschistischer Provenienz ähneln. Denn Hitler und die NSdAP wollten dem „deutschen Volk“ sowohl ihren Willen als auch den unbedingten Gehorsam aufzwingen. Aber hat sich dieses Volk nicht freiwillig ekstatisch seinem „obskuren Gott“ unterworfen? Und hat es die Unterwerfung nicht ultimativ genossen? Mit Lacan formuliert: Hat das Volk nicht alles für die Jouissance des Führers getan, mehr noch, „sich als Werkzeug des Genießens des großen Anderen begriffen?“ Wenn aber Žižek solche lacanschen Konstrukte der Jouissance auf den Nationalsozialismus bezieht, – laufen sie nicht auf eine Exkulpierung der je individuellen Schuld hinaus? Und hatte nicht schon Adolf Hitler in „Mein Kampf“ fabuliert, dass man das Volk als passive Masse, als Frau, begreifen solle, die es genießt, unterworfen zu werden? Jeder mag selbst entscheiden, ob diese Argumentationsmuster einander „verwandt“ sind.

Im letzten Teil des Buches wendet sich Žižek der „subjektiven Destitution“ zu, einem weiteren lacanschen Theorem. Diese sieht er etwa im Selbstopfer der Brechtschen „Maßnahme“ wie auch in der Begeisterung jeglicher revolutionärer Bewegung am Werke. Die freiwillige Zustimmung zur eigenen Opferung unter die Ideologie der kommunistischen Partei beziehungsweise ihren Richterspruch sei zudem die Methode der Wahl, um dem korrumpierten Genießen, wie es in der „Dreigroschenoper“ vorgeführt wird, zu entkommen. Man bleibt öfter sprach- und ratlos bei Žižeks Interpretationen; denn es bleibt offen, ob er diesen Deutungen nicht auch zustimmt.

In der subjektiven Destitution, so Žižek, sei „das Subjekt radikal gespalten in eine reine Leere und das Objekt, das es ist.“ Auf diese Weise würden wir „die Sterblichkeit überwinden und erlangen den Zustand des Untoten: kein Leben nach dem Tod, sondern Tod im Leben, keine Aufhebung der Entfremdung, sondern extreme, selbstabschaffende Entfremdung – wir geben den Maßstab auf, an dem wir Entfremdung messen.“ Diese Auflösung sieht er auch in den Nirwana-Religionen, den Mystikern und letztlich in den Bewegungen des religiösen Fundamentalismus wie den Taliban am Werk. Sie immunisiere gegen Vernunftgründe und mache ihre Vertreter unerreichbar, zudem unangreifbar.

Da der westliche Universalismus nach Žižek an einem passiven Nihilismus leide, evoziere er religiöse Fundamentalismen als Reaktanz. Ihnen gelte es, mit einem aktiven Nihilismus a là Nietzsche zu begegnen, d.h. mit einem Ausbruch wahrer selbstzerstörerischer Negativität, den Žižek anhand distinguierter Produkte der Popkultur wie auch an dem Film und der Figur des „Jokers“ erklärt. Der Joker ist eine vollkommen vereinsamte Figur, die dem Missbrauch und der Vernachlässigung durch seine psychisch kranke Mutter ausgesetzt war, die ihrerseits, vielen Alleinerziehenden gleich, unter Vereinsamung litt. Die kritische Perspektive des Films besteht nun darin, dass er die kapitalistische Gesellschaft und ihre Medien als Verursacher dieser Misere im Denken und Handeln des Jokers ins Visier nimmt. Zwar kreist die psychische Labilität des Jokers immer um die subjektive Destitution; aber zugleich wendet sich diese abgründige Leere im Subjekt gegen die sie verursachende Gesellschaft. Am Ende des Films wird Joker in eine Talkshow eingeladen, in der Murray, der Talkmaster, im üblichen TrashTV-Stil beginnt, über die Verrücktheit des Psycho-Jokers herzuziehen. Doch am Schluss des Gesprächs greift der Joker Murray zunächst verbal an: ob er überhaupt wisse, wie die Welt außerhalb seines TV-Studios aussehe? Er prangert die enorme Spaltung, Vereinzelung und Atomisierung der US-Gesellschaft an. Das Gespräch eskaliert, bis der Joker Murray vor laufender Kamera erschießt.

Die Zuschauer aber sympathisieren mit dem Joker. Gleichzeitig ist man entsetzt über die Gewalt, die einerseits durch die Talkshows, andererseits durch die Eskalation der Gewalt in der Talkshow ausgeübt wird. „Joker“ ist einer der wenigen Filme, denen es gelingt, dass man sich als Zuschauer zugleich als Voyeur entlarvt fühlt.

Dieses letzte Kapitel in Žižeks Buch hätte mit seinen gekonnten Schattierungen der verschiedenen Nihilismen in den westlichen Gesellschaften hindurch mit dem ersten Teil durchaus eine aktuelle und kreative Zeit- und Gesellschaftskritik bieten können. Da der Autor jedoch zu stark von sich überzeugt, teils sogar unangenehm von sich selbst berauscht ist, gewinnt man den Eindruck, dass sie ihm vor allem selbst als Dope dienen.

Liverpool – Racism kills

Layal Liverpool

Racism kills. Wie systematischer Rassismus der Gesundheit schadet und was wir dagegen tun können

aus dem Englischen von Regina M. Schneider

br., 461 Seiten, 24,70 €, Berlin 2024 (Aufbau-Verlag)

von Marianne Rosenfelder

Ohne die großen Herren der Philosophie beim Namen zu nennen, – aber sie sind nicht unschuldig, wenn das genus proximum von Personen substituiert und bewertet wird durch so triviale differentiae specificae wie Hautfarbe oder Haartextur. Der Begriff der Rasse – auf Menschen angewandt – wurde schon vor etlichen Jahrzehnten wissenschaftlich widerlegt. Doch scheint dies seiner verhängnisvollen Nachhaltigkeit keinen Abbruch zu tun.

Die Ärztin und Wissenschaftsjournalistin Layal Liverpool geht der longue durée des Begriffs auf dem Gebiet der Medizin nach und dokumentiert und kritisiert den hohen „gesundheitlichen Tribut“, den „Rassismus und Diskriminierung fordern“ (15). Ihr Buch basiert auf wissenschaftlichen Studien, Statistiken, historischen Rekursen zu Anthropologie und Medizin sowie auf Fallstudien und Interviews mit Medizinern, Forschern und betroffenen BIPoC (Black Indigenous People of Colour), die ihre Erfahrungen mit Rassismus im Gesundheitssystem einbringen. Zudem reflektiert die Autorin ihre Familiengeschichte und ihre eigenen Erfahrungen als PoC (Person of Colour) sowie die Variabilität ethnischer Identität durch Selbst- und Fremdzuschreibung.

Liverpool liefert statistisch valide Nachweise, dass die durch Stereotype bedingten Verzerrungen im Gesundheitssystem auf der Überzeugung beruhen, „Rasse“ sei ein biologisches Merkmal. Doch race ist ein soziales Konstrukt mit Rassismus im Gefolge. Die Kategorie der „Rasse“ ist genetisch irrelevant. Vielmehr ist „die generische Variation einzelner Individuen innerhalb einer menschlichen Population aus dem selben demographischen Großraum größer … als zwischen denen einzelner Populationen“ (19 f.). Als schwarz gelesene Menschen sind untereinander nicht enger verwandt als Afrikaner:innen mit Europäer:innen (23). Trotz wissenschaftlicher Evidenz dieses Sachverhalts werden gesundheitliche Disparitäten weiterhin biologistisch, ergo deterministisch, begründet, ohne Rassismus als ihre eigentliche Ursache zu benennen. Zudem ist die Forschung auf weiße Patienten fokussiert und defizitär gegenüber BIPoC.

Prinzipiell birgt jede Art der Diskriminierung – sei es aufgrund von Rasse, Klasse, Geschlechtsidentität oder Behinderung sowie einer Verschränkung dieser Kriterien – ein medizinisches Risiko. Gesellschaftliche und gesundheitliche Benachteiligung bedingen einander. Wie Statistiken zu Corona belegen, sind ausgrenzende Gesellschaften anfälliger für infektiöse Krankheiten. Dass Rasse eine historisch bedingte soziale Kategorie ist, zeigen die Apartheitsgesetze in Südafrika oder die Jim-Crow-Gesetze in den USA. Dennoch hat, wie die Autorin belegt, die Willkür und Absurdität rassistischer Kategorisierungen die Wissenschaft der Medizin bis dato fest im Griff – und dies mit drastischen Konsequenzen für die öffentliche Gesundheit und für die betroffenen Patienten, deren medizinische Daten, automatisiert durch Algorithmen, ärztliches Handeln beeinflussen.

Das effektivste Antidot gegen Rassismus in der Medizin wäre Aufklärung, denn die Folgen von Rasse als biologische Kategorie sind fatal. Etliche Absurditäten der racial bias sollten daher nicht unerwähnt bleiben. Allen voran die Mär von der kräftigeren Haut und der Schmerzresistenz von BIPoC, mittels derer sich Sklavenhalter und Kolonisten von Schuld für ihre Grausamkeiten entlasteten. Dieses bis dato virulente Klischee führt zu einer Bagatellisierung von Krankheitssymptomen von PoC.

In der Psychotherapie und Psychiatrie werden rassistische Demütigungen meist gar nicht erst thematisiert. Ärzte fokussieren bei PoC auf Psychosen, Zwangseinweisungen inklusive. Im 19. Jahrhundert wurde die Flucht aus der Sklaverei als die psychische Krankheit der „Drapetomanie“ diagnostiziert, noch in den 1960er Jahren wurde der Kampf um Bürgerrechte als „Protest-Psychose“ pathologisiert. Bei Gehirnerschütterungen erfolgt race norming durch kognitive Funktionstests mit im Vergleich zu Weißen niedrigeren Grenzwerten.

In der Spirometrie wurden erst unlängst auf „Rasse“ basierende Parameter verworfen. Dafür ist seit 1999 international ein race norming der Kreatinin-Werte Usus. Ausgehend von dem Stereotyp als schwarz eingestufte Patienten hätten mehr Muskelmasse, wird mittels eines Multiplikators ein höherer Testwert generiert. Um als nierenkrank eingestuft zu werden, müssen Schwarze bereits schwer krank sein. Weitere Ungleichheiten für PoC bestehen bei Krebs, bei kardiovaskulären Erkrankungen und bei Infektionen.

Rassismus ist ein chronischer Stressor. Und Geld nützt bei Rassismus auch nicht viel. Der Schutzeffekt eines hohen sozioökonomischen Status ist für PoC nachweisbar ziemlich gering.

In Teil I dokumentiert Liverpool das global nachweisbare gesundheitliche Gefälle zwischen den ethnischen Gruppierungen innerhalb einzelner Länder. Ihre Analyse erfasst Ungleichheiten gegenüber rassifizierten Gruppen primär in den USA, aber auch in Großbritannien, Kanada, China, Brasilien, Nigeria, Mexiko, Australien sowie im indischen Kastensystem.

In Teil II geht es um die Bedrohung der öffentlichen Gesundheit durch systemischen Rassismus, also die Verweigerung des Zugangs zu „hochwertiger Gesundheitsversorgung“ aus ethnischen Gründen (122f.). Tradierte Armut, Umweltrassismus, Wohngegenden mit hoher Luftverschmutzung sind gesundheitsschädigende Erscheinungsformen von systemischem Rassismus. Hinzu kommt Colourism, also Diskriminierung innerhalb der rassifizierten Gruppe durch internalisierte Farbhierarchien.

Sozialer Alltagsrassismus hat psychische und physische Folgen. Bereits die Antizipation rassistischer Ausgrenzung strapaziert das vegetative Nervensystem. Die Autorin plädiert daher für die Anerkennung von Rassismus als „chronisches Stressmoment und akut traumatisches Erlebnis“ und als durch Sklaverei bedingtes, epigenetisch nachweisbares transgenerationelles Trauma.

In Teil III weist die Autorin nach, dass Rassismus in der Medizin „ethnisch bedingte, gesundheitsbezogene Ungleichheiten weiter verfestigt“, z. B. durch eine rassifizierte Ausbildung, durch einen prozentual geringen Anteil ethnischer Minderheiten in Medizin und Wissenschaft oder durch die Tradierung und Verstetigung rassistischen Gedankenguts (244/5). Liverpool appelliert an die Mediziner, ihren eigenen Rassismus anzuerkennen, den Patienten zuzuhören und zu unterscheiden zwischen Rasse „als Parameter für gesundheitliche Risiko-Scores“ und Rassismus als soziales Konstrukt, das gesundheitliche Ungleichheiten ermöglicht (281).

Der Titel der englischen Ausgabe des Buches lautet Systemic: How Racism is making us ill. Das klingt weniger dramatisch als der deutsche Titel Racism kills. Dafür fokussiert der deutsche Untertitel „… und was wir dagegen tun können“ auf Liverpools in Teil IV dargelegte Vorschläge zur Lösung des Problems medizinischer Ungleichbehandlung gegenüber BIPoC.

Liverpool fordert Datenerhebungen zu ethnischen Disparitäten in Kranken- und Sterberaten, um die racial bias im Gesundheitswesen zu beheben. Da multiethnische Studien nachweisbar zu besseren Therapien führen, könnte auch die weltweite Vielfalt genetischer Varianten die medizinische Forschung voranbringen. Allerdings sollten Medikamente, die mittels der Daten von PoC entwickelt wurden, diesen auch zugute kommen und rassistische Praktiken wie die Tuskegee-Experimente (1943-1972) oder heimliche Probenentnahmen wie im Fall der HeLa-Zellen (1950) geächtet werden. Die Genome indigener Völker seien Bodenschätzen vergleichbar, die es vor neo-kolonialer Ausbeutung und Kommerzialisierung ihrer DNA durch die Wissenschaft und die Pharmaindustrie zu schützen gilt durch Maßnahmen wie Rechte an den Resultaten, finanzielle Beteiligungen oder medizinische Infrastruktur.

Die Autorin hält ethnisch bedingte gesundheitsbezogene Ungleichheiten für ein globales, aber nicht unabwendbares Problem. Als das Buch 2024 herauskam, war diese Einschätzung noch berechtigt. Doch nach den Beschlüssen der US-Abwicklungsverwaltung, insbesondere bezüglich USAID, hat sich bereits jetzt die die Situation verschlechtert.

Besonders in Liverpools Forderung nach Aufhebung der data gaps zeigt sich die Ambivalenz des Begriffs der Rasse, die auch seit 2000 in den Diskussionen um die Streichung des Begriffs aus Artikel 3 des Grundgesetzes zum Ausdruck kam. Der Begriff ist a priori historisch negativ belastet und wissenschaftlich unhaltbar. Es gibt de facto keine Menschenrassen. Doch durch den Tatbestand des Rassismus oder des othering, also als soziale Konstruktion, die mit dem Begriff race (entsprechend der sozialen Konstruktion von gender) umschrieben wird, erhält der Begriff seine Relevanz, indem er die Voraussetzung der Justiziabilität rassistischer Ungleichbehandlung und Diskriminierung bildet. Dies war auch die Begründung für dessen Beibehaltung in Artikel 3 GG.

Die von der New York Times am 7. März 2025 veröffentlichte Liste mit 200 Worten, die die momentane US-Administration von öffentlichen Websites, Curricula und dergleichen zu löschen plant, hat also Methode, und es bleibt zu hoffen, dass diese Methode nicht auch andernorts Schule macht. Neben Begriffen zu Klima, Kultur, Gender, Diversität ist praktisch das gesamte Wortfeld betroffen, von dem das vorliegende Buch handelt. Wie wird man also künftig rassistische und ethnische Ungleichbehandlung einklagen können, wenn folgende Begriffe nicht mehr zur Verfügung stehen?: at risk, bias(ed), BIPOC, disability (pl.), discrimination, disparity, ethnicity, in-equality, equal opportunity, health disparity, inclusion, minority (pl.), Native American, political, pregnant person, prejudice, race, race & ethnicity, racial diversity, r. inequality, r. justice, racism, segregation, stereotype (pl.), systemic, social justice, trauma, traumatic, tribal underprivileged, underrepresented, victim (pl.) und women.

Racism kills ist und bleibt ein Politikum. Als engagierte Autorin steht Liverpool, wie es aussieht, mit ihrem Thema vor neuen großen Herausforderungen.